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Bring mich zu den Sternen

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Kaum hat sich Bob Johansson, ehemaliger Multimillionär und nun KI wider Willen, an sein neues Dasein als digitalisiertes Bewusstsein gewöhnt, da wird er auch schon auf seine erste Mission geschickt: Im Auftrag der Regierung soll er ins All fliegen, und dort neue Planeten erforschen. Doch schon der erste Start als Raumschiffsonde gestaltet sich für Bob äußerst turbulent …

 

Bob – 17. August 2133

Nachdem ich [18 Stunden und 26 Minuten lang] in den Bibliotheken herumgestöbert und Projektmaterial gelesen hatte, richtete ich die Aufmerksamkeit wieder auf die Geschehnisse im Raum. Ich hatte dafür gesorgt, dass ich es mitbekam, sobald mich jemand ansprach.

Als ich die Kameras herumschwenkte, sah ich Dr. Landers, der völlig außer sich zu sein schien. »Wir sind gerade erneut angegriffen worden«, sagte er mit zitternder Stimme. »Irgendwer hat versucht, ein paar wichtige Bauteile in die Luft zu sprengen. Das ist zwar nicht gelungen, aber dafür sind bei der Explosion vier meiner Leute umgekommen. Wir werden in eine andere Einsatzzentrale umziehen. Wie kommen Sie mit Ihrer Lektüre voran?«

Sein letzter Satz wirkte so zusammenhanglos, dass ich noch einmal die letzten paar Sekunden rekapitulieren musste, um sicherzugehen, dass ich nichts überhört hatte. »Äh, gut, Doc. Warum fragen Sie?«

»Wir versuchen, den Start vorzuverlegen. Was bedeutet, dass Sie einen Teil Ihrer Ausbildung möglicherweise erst während des Flugs absolvieren werden.«

Oh, verdammt. »Okay, Doc, was brauchen Sie von mir?«

»Ich habe ein Dokument in Ihre Warteschlange hochgeladen. Lesen Sie es umgehend. Danach machen wir ein Back-up von Ihnen, fahren Sie herunter und befördern Ihren Speicherblock ins Schiff.«

»Sie wollen mich tatsächlich herumschleppen? Haben Sie noch nie was von ftp gehört?«

»Bevor die Sie vor ein paar Wochen in die Luft gesprengt haben, hätte das noch funktioniert. Was glauben Sie denn, woher die Ersatzeinheit stammt?«

»Oh.« Sie hatten die Replikanten-Matrix aus dem Schiff geholt?

»Replikanten-Hardware ist teuer, Bob. Sie haben in letzter Zeit mit denselben Schnittstellen gearbeitet, die Sie auch während des Flugs verwenden werden. Bislang waren Sie nur an Simulatoren gekoppelt. Bitte lesen Sie das Dokument, und sagen Sie Bescheid, sobald Sie damit fertig sind. Dann bringen wir Sie auf den Weg.« Er nahm Platz, verschränkte die Hände vor sich auf dem Tisch und sah mich an.

           Bob,

möglicherweise werden sämtliche Unterhaltungen abgehört. Dieses Dokument ist die einzige sichere Methode, Ihnen mitzuteilen, dass in der Heaven-1 mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Selbstzerstörungsmechanismus verbaut ist.

Wir wissen nicht, ob er mit einem Zeitzünder oder ferngesteuert ausgelöst wird. Aufgrund der Projektrichtlinien waren Ihre Fähigkeiten, sich selbst zuuntersuchen, bislang eingeschränkt. Ich habe mein Team jedoch angewiesen, diese Beschränkungen aufzuheben. Damit können Sie jetzt alles unter die Lupe nehmen, was Sie wollen: Sei es die Verkabelung, die Konstruktion, Hardware oder Software. Die Zugangsschlüssel für Ihr Betriebssystem sind am Ende dieses Dokuments aufgelistet.

Gleichzeitig erlaubt Ihnen diese Maßnahme leider auch, die Befehle in Ihrem Programmcode zu umgehen, die Sie zur Einhaltung der Missionsziele zwingen. Aufgrund meine Erfahrungen mit Ihnen bin ich jedoch zuversichtlich, dass Sie diese Ziele auch aus freien Stücken verfolgen werden, da sie sich mit Ihren persönlichen Interessen decken. Sobald Sie deaktiviert sind, werden wir Sie in die Umlaufbahn bringen und in der Heaven-1 installieren. Vor dem Start wird es einen langen Countdown geben, den Sie aber bitte, wenn es nötig werden sollte, einfach ignorieren. Viel Glück – und auch wenn ich es nur ungern sage: Gott sei mit Ihnen.

           Dr. Landers

Es gab noch mehrere Anhänge, darunter eine Zusammenfassungdes Missionsprofils und die Zugangsschlüssel zum Betriebssystem. Sicherheitshalber ging ich noch mal alles durch und überprüfte, ob es irgendwelche Lücken oder Widersprüche in den Aufzeichnungen gab, und löschte schließlich die Originale. »Fertig.«

Dr. Landers zuckte überrascht zusammen. Vermutlich war ich nur wenige Millisekunden weg gewesen. Er nahm das Tablet und tippte auf das Display.

Ich erwachte in Dunkelheit und konsultierte GUPPI.

[STATUSBERICHT.]

[Fusionsreaktor-Schnittstelle: Bereit/im Sollbereich.]

[Schnittstelle zum treibstofflosen Antrieb: Bereit/

Stand-by.]

[Staustrahltriebwerk: Bereit/Stand-by.]

[Kommunikationssysteme & Externe Sensoren: Bereit/

Stand-by.]

[Interne Systeme: Bereit/im Sollbereich.]

[Fabrikationssysteme: Inaktiv/zum Start verstaut.]

[ROAMer/Nanomaschinensystem: Inaktiv/zum Start

verstaut.]

[Startsysteme: Bereit/T minus 04:12:13.]

Ich klinkte mich in die internen Systeme ein und entdeckte, dass sie mehrere Bibliotheken von beträchtlicher Größe beinhalteten, von deren Existenz ich bislang noch gar nichts gewusst hatte. Anschließend checkte ich die Startsysteme und erkannte, dass mich der programmierte Kurs zu Epsilon Eridani bringen würde. Interessant. FAITH rechnete offensichtlich damit, dass alle anderen Alpha Centauri anfliegen wollten. Ohne Waffen würde ich bei einer Konfrontation mit mehreren Gegnern chancenlos sein.

Ich stellte sicher, dass ich wirklich volle Zugriffsrechte auf sämtliche Systeme hatte und auch die Klammern sprengen konnte, die mich an der Raumstation festhielten. Dr. Landers hatte geschrieben, ich könne den Countdown wenn nötig ignorieren. Hieß das, ich solle sie einfach wegsprengen und aufbrechen? Täte ich das jedoch einfach so, ohne irgendeine spezifische Bedrohung, würde man mich wohl für einen Abtrünnigen halten. Und den Ärger dafür bekäme höchstwahrscheinlich Dr. Landers zu spüren. Er war immer aufrichtig zu mir gewesen. Das wollte ich ihm nicht vergelten, indem ich ihm nun in den Rücken fiel.

Als ich die Kommunikationssysteme aktivierte, sah ich mich sofort mit einem halben Dutzend verschiedener externer Audiokanäle konfrontiert. Daneben liefen auch ein paar Videokanäle, die aber weniger Output zu produzieren schienen. Sie zeigten Bilder von Räumen mit leeren Sitzreihen, die zum Startzeitpunkt vermutlich mit Zuschauern gefüllt sein würden.

Außerdem versorgten sie mich mit Außenansichten der Heaven-1 sowie der Raumstation, mit der sie verbunden war. Auf zwei weiteren Videoeinspielungen sah ich die Kommandozentrale und die noch größtenteils leere VIP-Galerie.

Ich warf einen genauen Blick auf die Sonde, in der ich mich befand. Oder besser gesagt, auf die Sonde, die ich war. Sie war ein umgebauter interplanetarer Frachter. Der Rumpf war in der Mitte auseinandergeschnitten worden, und dort saß nun ein SURGE-Antriebsring. Der Fusionsantrieb hatte den extragroßen Aggregaten weichen müssen, die den überdimensionierten Reaktor kühlten. Außerdem fiel mir auf, dass die Schilde über den Aussichtsfenstern verschlossen waren. Das ergab Sinn. Da ich nicht im Pilotensitz Platz nehmen würde, wäre ein Fenster nur eine strukturelle Schwachstelle gewesen.

Die Sonde war nicht sonderlich hübsch. Sie besaß weder die klassische Linienführung der Enterprise noch die sanft geschwungene aerodynamische Form eines Space Shuttles. Der Schiffskörper hatte einen elliptischen Querschnitt mit vielen Luftschleusen und Frachtluken. Neben den bei der Meeresschifffahrt üblichen roten und grünen Fahrtlichtern blinkten an der Heaven-1 zusätzlich auch noch blaue Lämpchen, in Anspielung auf die drei Dimensionen des Weltraums.

Wegen des SURGE-Antriebs, des Staustrahltriebwerks und all der anderen für eine Von-Neumann-Sonde notwendigen Anbauten blieb nur wenig Platz für weitere Extras, wie zum Beispiel, nun, Waffen. Ich hatte also nichts, womit ich mich gegen vermutlich bewaffnete Widersacher zur Wehr setzen konnte. Oder auf was ich dort draußen sonst noch stoßen würde. Es ließ sich immer weniger schönreden, dass das gesamte HEAVEN-Projekt offensichtlich ein ziemlicher Schnellschuss war, bei dem man – um Zeit zu sparen – an so vielen Stellen wie möglich auf bereits existierende Technologien zurückgegriffen hatte.

Und allmählich bekam ich einen Eindruck davon, wie sich eine Forelle im Karpfenteich fühlen musste.

Aber Dr. Landers hatte mich ja vorgewarnt. Nun war ich zwar in die Heaven-1 installiert worden und wartete nur noch darauf, in Richtung Sterne geschossen zu werden, aber ich hatte nach wie vor keine Ahnung, worum es bei alldem eigentlich ging, und meine Ausbildung hatte ich auch noch nicht abgeschlossen. Ich hielt es für das Beste, noch mal tief in die Materie einzutauchen. Also erklärte ich GUPPI, unter welchen Voraussetzungen ich gestört werden wollte, und machte mich auf die Suche nach einem Missionsprofil.

Im Handumdrehen stieß ich auf ein paar nützliche Informationen. Einer der Tricks, zu denen mich die Heaven-1 befähigte, war die Anpassung meines subjektiven Zeitempfindens. Ich konnte es so einstellen, dass mir jedes verstrichene Jahr wie eine Minute vorkam. Umgekehrt konnte ich meine Wahrnehmungsrate auch so weit erhöhen, bis irgendwann meine Hardware an ihre Grenzen stieß. Den technischen Beschreibungen war nicht zu entnehmen, wo genau diese Grenze lag, also drehte ich die Rate bis zum Maximum auf und sah zu, wie sich die Echtzeituhr bis zu einem absoluten Schneckentempo verlangsamte.

Die Antriebsenergie wurde von einem Fusionsreaktor erzeugt. Obwohl die Sonde für den Start mit Wasserstoff vollgetankt war, würde sie den Treibstoff, sobald ich unterwegs war, aus interstellarer Materie gewinnen. Anders als in den alten Science-Fiction-Romanen würde der so eingesammelte Wasserstoff jedoch nicht für den Vortrieb verwendet werden, da die Heaven-1 keine Reaktionsmasse im herkömmlichen Sinne benötigte. Stattdessen verwendete die Sonde ein treibstoffloses System, den sogenannten SURGE-Antrieb. Ich musste mich in die zugrundeliegende Theorie zwar erst noch genauer einlesen, aber dieser Antrieb schien sich auf irgendeine Weise vom Raum-Zeit-Gefüge abzustoßen. Eine absolute Pflichtlektüre. Kommt auf die To-do-Liste.

Das Kommunikationssubsystem meldete sich. Ich synchronisierte mich wieder mit der Echtzeit und akzeptierte eine reine Sprechverbindung mit dem Stationskommando.

»Heaven-1, hier Stationskommando, bitte bestätigen Sie den Erhalt des Missionsprofils.«

»Okey-dokey. Hab’s bekommen.« Ich stellte mir vor, wie ich über das erstaunte Schweigen am anderen Ende der Verbindung grinste – mehr konnte ich nicht tun.

»Ähem, Sie nehmen das Startprotokoll ganz schön auf die leichte Schulter, Heaven-1

»Ja, finden Sie? Sorry, Statkom, aber dieser Teil meiner Ausbildung wäre erst nächste Woche dran gewesen. Ich fürchte, das Startprotokoll werden wir uns in die Haare schmieren müssen.«

»In die Haare schmieren … Okay. Heaven-1, wir haben nur noch etwas mehr als vier Stunden und zehn Minuten bis zum Start. Bis dahin werden Sie noch ein paarmal offizielle Ansprachen erdulden müssen – und zwar zu den folgenden Zeitpunkten …«

Das ganze Briefing dauerte fast zehn Minuten. Ich ertrug es nur, ohne den Verstand zu verlieren, indem ich meine subjektive Zeit so weit raffte, dass sich Statkom wie ein wütendes Eichhörnchen anhörte.

Sobald Statkom die Verbindung beendet hatte, stellte ich die Wahrnehmungsfrequenz wieder auf Maximum und hoffte auf diese Weise, so viel Studienzeit wie möglich herauszuschinden.

Doch es schien, als hätte sich das ganze Universum gegen mich verschworen.

Ein weiteres Mal wurde ich bei meiner Lektüre von einem Funkruf unterbrochen. Wegen meiner derzeitigen Wahrnehmungsfrequenz war die Übertragung noch nicht über das erste dröhnende Wort hinausgekommen.

Als ich in die Echtzeit zurückkehrte und es noch einmal abspielte, erkannte ich Dr. Landers’ Stimme. Das Wort, das er äußerte, lautete: »Raketen«.

Mhm. Was für Sätze sind vorstellbar, die mit »Raketen« beginnen und positiv enden …? Irgendwie will mir keiner einfallen.

Die externen Sensoren meldeten zwei Objekte, die sich mit hoher Geschwindigkeit näherten. Sie flogen auf meinem planmäßigen Startvektor, vermutlich, damit sie mich auch einholen konnten, falls ich frühzeitig startete. Das war eine vernünftige und nachvollziehbare Taktik, aber ich hatte nicht vor, mich ebenso berechenbar zu verhalten.

Geschlagene fünf Millisekunden grübelte ich über meine Optionen nach und entwickelte einen groben Plan.

Zum Glück war die Sonde schon seit Langem startbereit, sodass ich jederzeit losfliegen konnte. Also sprengte ich die Haltevorrichtungen ab und fuhr sämtliche Flugsysteme hoch. Während ich darauf wartete, dass die Realität meine wesentlich schnellere Wahrnehmung einholte, startete ich in meinen Bibliotheken eine Suchanfrage zu den herannahenden Raketen. Die Bibliotheken warfen aufgrund der beobachteten Flugeigenschaften drei mögliche Modelle aus. Ich wählte die pessimistischste Alternative und berechnete einen neuen Startvektor, der in einem Winkel möglichst diametral von der Flugbahn der Raketen wegführen, aber trotzdem noch halbwegs sicher sein sollte.

Sobald die Sensoren anzeigten, dass ich nun frei war, zündete ich kurz den SURGE-Antrieb, nur so lange, dass ich von der Station wegkam. Dann wendete ich die Sonde und drehte den Reaktor bis zum Anschlag auf. So bekomme ich zwar ein Problem mit den Treibstoffreserven, aber in Stücke gesprengt zu werden fände ich noch viel problematischer. Sobald der Reaktor-Output das gewünschte Niveau erreicht hatte, startete ich den SURGE-Antrieb mit maximaler Beschleunigung.

Die Sonde schoss von der Station fort, in entgegengesetzter Richtung zur eigentlich geplanten Flugbahn. Als die erste Rakete auf unverändertem Kurs an mir vorüberraste, wurde mir schlagartig bewusst, dass sie es auf die Raumstation abgesehen hatte. Die zweite Rakete änderte dagegen die Flugbahn und heftete sich mir an die Fersen. Ich hoffte, dass die angegebenen Maximalwerte für den Reaktor und den SURGE-Antrieb stimmten. Denn wenn ich nicht ganz so schnell beschleunigte, wie in der Bedienungsanleitung versprochen wurde, würde die Rakete mich abfangen. Und das wäre das Ende von Heaven-1. Also meins.

Während ich gespannt darauf wartete, wie schnell die Sonde werden würde, überprüfte ich, wie weit Dr. Landers’ Sprachnachricht mittlerweile übertragen war. Bislang lautete die Mitteilung: »Raketen fliegen auf Sie zu. Hauen Sie ab …« Ich checkte, wie schnell ich vorankam, indem ich mit SUDDAR den wachsenden Abstand zur Station maß. Meine Berechnungen ergaben eine gleichmäßige Beschleunigung von 2,5 g. Da der SURGE-Antrieb auf die gesamte Sonde einzuwirken schien, hatte ich keine Möglichkeit, die Geschwindigkeit im Schiffsinneren zu messen.

Die Raumstation nahm die herannahende Rakete unter Beschuss, offenbar mit einem Gatling-Geschütz. Hoffentlich wussten sie, was sie taten. Wenn die Projektile in eine periodische Umlaufbahn gerieten, würden sie früher oder später zu ihnen zurückkehren.

Der Blitz einer fernen Detonation überlud eine meiner Kameras. Das konnte keine der beiden Raketen gewesen sein, da ich sie immer noch unverändert auf dem Schirm hatte. Eine schnelle Berechnung ergab, dass die Explosion an der Stelle stattgefunden hatte, von wo die Raketen gekommen waren. Jemand hatte also den Schützen abgeschossen.

Ein zweiter Blitz kündete von der Zerstörung der Rakete, die auf die Raumstation zugejagt war.

Das war ja alles recht erfreulich, aber mir selbst saß immer noch eine Rakete im Genick. Mit genügend Zeit würde ich sie abhängen können … Nach einer schnellen Kalkulation wusste ich, dass ich sie fast abhängen konnte. Aber fast war nicht gut genug.

Normalerweise verwendete man Täuschkörper, um eine Rakete abzulenken, aber ich bezweifelte, dass es so etwas an Bord gab. Allerdings hatte ich sechs Drohnen für den Rohstoffabbau im Frachtraum, die mit eigenen kleinen SURGE-Antrieben ausgerüstet waren. Na gut, vielleicht konnte ich der Rakete ja doch etwas in den Weg werfen.

Ich aktivierte zwei der Drohnen und warf sie mit der Order aus, die Rakete zu rammen. Während sie auf meinen Verfolger zuflogen, positionierte ich sie hintereinander. Hoffentlich würde bereits die erste Drohne die Rakete erledigen, aber falls sie danebenging, hatte die zweite bessere Zielinformationen. Falls beide versagten, würde mir vermutlich jedoch keine Zeit mehr für weitere Drohnenstarts bleiben.

Ein greller Lichtblitz hinter der Sonde blendete die Heckkamera. Was zum Teufel? Das konnte nicht die Rakete gewesen sein. Die näherte sich aus einer anderen Richtung.

Nachdem ich den Kameras eine kurze Erholungspause gegönnt hatte, blickte ich noch einmal über die Schulter. Wo gerade noch die Raumstation gewesen war, breitete sich nun eine Wolke aus rasch abkühlenden Trümmerteilen aus. Dr. Landers’ Sprachnachricht kam immer noch herein, also war zumindest er nicht auf der Station gewesen. »… so schnell Sie können, und eliminieren Sie …«, hörte ich ihn nun sagen.

Wieso war die Station explodiert? Die Raketen waren doch immer noch beide da. Ich sah, dass die Drohnen in diesem Moment die Rakete hinter mir erreichten. Es gelang ihr, der ersten auszuweichen, woraus ich schloss, dass sie über irgendeine Form von intelligenter Steuerung verfügen musste. Aber nach diesem Manöver konnte sie erstmal nicht mehr die Richtung wechseln. Daher erwischte die zweite Drohne sie halb von der Seite, und die darauffolgende Detonation zerstörte sie beide.

Ein schneller Systemcheck ergab, dass der Heaven-1 bei alldem nichts passiert war. Anschließend überprüfte ich noch rasch, dass nach wie vor alles sicher verstaut war, und hörte mir dann den Rest von Dr. Landers’ Nachricht an.

»… Ihren Funkempfänger. Irgendwo ist eine Bombe mit Fernzünder.«

Na, das ist nenne ich mal doppelplusungut.

Ohne zu zögern, zerstörte ich das Funkgerät und fuhr sicherheitshalber auch gleich noch die Antennenschüssel ein. Anschließend unternahm ich mit SUDDAR einen Langstrecken-Scan, um zu sehen, ob noch irgendwelche anderen Überraschungen auf mich warteten.

In dem Teil des Weltraums, der für meinen anberaumten Start geräumt worden war, ging es mittlerweile zu wie in einem Bienenstock. Ich erkannte mindestens sechs Schiffe, die meine Bibliotheken als Militärgefährte einstuften. Außerdem entdeckte ich ein knappes Dutzend kleinerer Signaturen, die sich sehr schnell bewegten und höchstwahrscheinlich von weiteren Raketen stammten. Zum Glück schienen sie sich viel mehr füreinander als für mich zu interessieren.

Also hatte jemand ein paar Raketen auf mich abgefeuert und war anschließend selbst von jemand Drittem attackiert worden. Und dann war da natürlich noch derjenige, der die Raumstation zerstört hatte. Inzwischen war etwas in vollem Gange, was mich sehr an eine Seeschlacht erinnerte. Höchste Zeit, abzuhauen, bevor sich wieder irgendwer für mich interessiert.

Ich schwenkte auf meinen ursprünglich geplanten Kurs ein und drosselte den SURGE-Antrieb auf eine wesentlich vernünftigere Beschleunigung von 2 g. Das war immer noch schneller, als die Missionsparameter vorsahen, und ich würde den vergeudeten Reaktortreibstoff später wieder nachfüllen müssen.

Mit einem gedachten Seufzer der Erleichterung begann ich meine Reise nach Epsilon Eridani.

 

Dennis E. Taylor: „Ich bin viele“∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Urban Hofstetter ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2018 ∙ 464 Seiten ∙ Preis des E-Books € 11,99 (im Shop)

 

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Der Weltenzerstörer kommt!

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Es beginnt mit einem harmlosen kleinen Kristall, der aus den Tiefen des Alls auftaucht. Doch als der chinesische Kommandant der Weltraum-Patrouille das unbekannte Objekt genauer unter die Lupe nimmt, erwacht dieses zum Leben und sendet eine alarmierende Botschaft an die Menschheit: „Der Weltenzerstörer kommt!“ Und damit nimmt der schlimmste Albtraum der Menschheitsgeschichte seinen Lauf: Ein gewaltiges Raumschiff nähert sich der Erde – mit dem Ziel, den gesamten Planeten zu vernichten.

Nach seiner weltweit gefeierten Trisolaris-Trilogie (im Shop) beweist Bestsellerautor Cixin Liu in seiner Novelle „Weltenzerstörer“ (im Shop), dass er auch in der kurzen Form meisterhaft die großen Themen der Menschheitsgeschichte abhandeln kann. Marten Hahn von Deutschlandfunk Kultur nennt „Weltenzerstörer“ in seiner Rezension eine „feine Fabel über Moral und Arroganz der Spezies Mensch, die ihren Platz am oberen Ende der Nahrungskette räumen muss“.

UBRIGENS: Wer den Science-Fiction-Meister einmal live erleben möchte, bekommt dazu im Oktober im Rahmen der Frankfurter Buchmesse Gelegenheit. Außerdem wird Cixin Liu am 15.10.2018 in Hamburg beim Harbour Front Festival und am 17.10.2018 in der Berliner Buchhandlung Otherland lesen. Weitere Termine folgen.

Cixin Liu: „Weltenzerstörer“∙ Novelle ∙ Aus dem Chinesischen von Marc Hermann ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2018 ∙ 128 Seiten ∙ Preis € 8,99 (im Shop)

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>>Wiederentdeckt: Panos Cosmatos‘ „Beyond the Black Rainbow“

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Manchmal gibt es Romane, Comics, Filme oder Musik, die in der Zeit ihrer Entstehung durchs Raster fallen. Die veröffentlicht werden und dann einfach – verschwinden. Verschwinden, oder unverdienterweise vergessen werden. Manchmal lohnt sich aber ein zweiter Blick.

Acht Jahre danach und kurz bevor „Mandy“ in die Kinos kommt, kann man wohl noch einmal auf „Beyond the Black Rainbow“ zu sprechen kommen, obwohl „Wiederentdeckt“ vielleicht nur bedingt die richtige Rubrik dafür ist. Denn die meisten dürften von Panos Cosmatos‘ Debut nicht einmal gehört habe. Erschwerend kommt hinzu, dass der Film nur mit etwas Mühe (sprich: als Import. Oder auf YouTube) zu sehen ist. Aber damals, 2010, ging ein (sehr kleines) Beben durch die Reihen derer, die sich nicht so sehr für den Mainstream interessieren, sondern eher am Rande des Geschehens unterwegs sind. Dort eben, wo die Dinge geschehen, für die das „große Publikum“ selten Interesse hat. Wo die Dinge auch mal etwas sperrig, schräg oder verstörend sind. Auch ist dort nur selten viel Geld im Spiel, was man dann auch meistens sieht.

„Beyond the Black Rainbow“ wird in der Regel sofort mit bekannten Namen in Verbindung gebracht. Stanley Kubrick fliegt einem fast immer als erstes um die Ohren, gefolgt von David Lynch und Andrei Tarkowski. Größen ihrer Zunft, egal was man im Einzelnen auch von ihren Werken halten mag. Und schaut man BtBR dann an, wird auch sofort klar, warum das so ist. Denn erstens wird man an die Filme dieser Leute erinnert. Und zweitens sucht man schnell nach Vergleichen, weil man etwas verzweifelt ist und sich beim Betrachten immer mal wieder fragt: Was zum Geier sehe ich da eigentlich?

Denn obwohl der Plot der Geschichte alles andere als umfangreich ist, gerät jede Zusammenfassung rasch zu Interpretation und Banalisierung. Sicher ist: Die junge Elena, die offenbar über parapsychische Gaben verfügt, befindet sich in Gefangenschaft. Sie wird von einem Mann, Barry Nyle, beobachtet, befragt, bewacht, manipuliert, dessen Verhältnis zu ihr offenbar persönlich ist. Beide befinden sich in einer fensterlosen, spartanisch, aber stylish (70er) eingerichteten Anlage. Drei weitere Menschen sind dort, Margo (eine Bedienstete von Nyle), Rosemary (möglicherweise Nyles Mutter) und Dr. Mercurio Arboria, der offenbar der Gründer der Anlage ist, die wohl als eine Art esoterische Kommune/Sekte begann, die Bewusstseinserweiterung zum Ziel hatte. Die Zeichen stehen aus Eskalation – etwas wird diese Konstellation stören oder zerstören, so viel ist klar.

Aber der Plot ist nicht mal die Hälfte dessen, was BtBR ausmacht, denn tatsächlich ist Cosmatos‘ Film vor allem ein audiovisuelles Erlebnis; was den Sohn von George P. Cosmatos (Rambo 2, Cobra) in die Reihe anderer idiosynkratischer Filmemacher wie Gaspar Noé, das Duo Cattet/Forzani, Jonathan Glazer oder Yorgos Lanthimos stellt. Da wird schnell die Floskel „Style over substance“ bemüht, deren Verfechter Film aber viel zu kurz und seltsam einschränkend als reines Erzählmedium begreifen. BtBR aber ist zunächst einmal ein sehr seltsamer, sehr zähflüssiger Rausch aus Farben, Formen und Musik, was seinen vollendeten Ausdruck in einer bestechenden Sequenz findet, in der ein Protagonist in eine ölige Flüssigkeit taucht, aus der er bewusstseinsverändert wieder emporsteigt.

Ästhetisch ist das klar in den späten 60ern und vor allem frühen 70ern daheim, in einer Zeit also, als Drogenrausch nicht zwangsläufig mit Tod in der Gosse oder Rehaklinik in Verbindung gebracht wurde. Die Farben sind klar und entschieden, die Räume karg, überall sind reflektierende Flächen und der Score dröhnt und pluckert wie in der Frühzeit der Elektronischen Musik. Die (sehr wenigen) Dialoge taugen nur bedingt dazu, der Geschichte Kontur zu verleihen, sie verstärken eher die Untiefen. Und immer wieder passieren Dinge, die man nicht in einen Kontext einbinden kann, die mysteriös bleiben, die man nur mit einiger Fantasie zu einem Bild formen kann. Und je länger man schaut, desto seltsamer wird es, desto gebannter starrt man auf den Bildschirm.

Handlungszeitraum ist allerdings 1983. Das heißt, der Traum von einer besseren Welt ist längst ausgeträumt und Flower Power ist (kommerzieller) Esoterik und Designerdrogen gewichen. Die Kuppel, in der BtBR spielt, ist ein seltsames Zwischenreich, in der sich die Ästhetik der 70er und 80er mischt.

BtBR ist etwas für Leute, die das Avantgardistische auch in den Werken von Argento und Fulci (mit denen BtBR mindestens so viel zu tun hat wie mit Kubrick) entdecken können, ohne dabei gleich Brechreiz zu bekommen. Für Leute, die einen ästhetischen Rücksturz in die Zeit nicht nur als Retro-Reflex verstehen, sondern auch als Reflexion über Vergangenes. Und die auch kein Problem damit haben, am Schluss beinahe rüde aus der hypnotischen Atmosphäre gerissen zu werden – wie im vielgescholtenen Finale des Films, in dem Cosmatos die Eso-Kuppel verlässt und die reichlich schnöde Außenwelt betritt. Aber jeder Trip ist mal vorbei, und was eben noch ein enigmatisches Wesen aus einer anderen Welt zu sein schien, ist plötzlich nur noch ein schlecht geschminkter Schauspieler, der in der Wüste rumlatscht. Und das ist einfach nur großartig.

Beyond the Black Rainbow • USA 2010 • Regie: Panos Cosmatos • Darsteller: Eva Bourne, Michael Rogers, Scott Hylands, Rondel Reynoldson, Marilyn Norry

Ebenfalls wiederentdeckt:

„Schemen“ von Bentley Little

„Anderland“ von Jens Lien

„Inhumans“ von Paul Jenkins und Jae Lee

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Wir lieben Ratten!

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Der – mit einem Fuß häufig auch im Science-Fiction-Bereich stehende – Tierhorrorfilm hat seit einigen Jahren dank einer Schwemme an C-Produktionen aus der Asylum- oder Roger-Corman-Werkstatt nicht den besten Ruf. Da trifft es sich gut, dass das Label Anolis den in digitaler Form merkwürdigerweise bis jetzt noch gar nicht erhältlichen 70er-Jahre-Hit „Willard“ endlich verfügbar macht. Der Film von Daniel Mann („Kehr zurück, kleine Sheba“, „Telefon Butterfield 8“), eine Adaption des Romans „Ratman’s Notebooks“ von Stephen Gilbert, gehört zu einem der schönsten Exemplare dieser Gattung, gilt als Auslöser der Tierhorror-Welle und ruft eindrucksvoll ins Gedächtnis zurück, dass das Genre soviel mehr sein kann als schlecht animierte Haie und kreischende Blondinen.

Mit Willard Stiles möchte man nicht tauschen. Sein Chef Mr. Martin, der die Firma seines zu früh verstorbenen Vaters übernommen hatte, terrorisiert ihn, wo’s nur geht. Er hat zudem keine Freunde und haust mit seiner dominanten und stressigen Mama in einer heruntergekommenen Bruchbude. Doch eines Tages soll der Unglückliche im Garten ein Rudel Ratten beseitigen, was der junge Mann allerdings nicht übers Herz bringt. Er freundet sich statt dessen mit den Nagern, besonders mit der weißen Ratte Socrates, an, intensiviert diese Beziehung nach dem Tod der Mama und entdeckt, dass er seine kleinen pelzigen Freunde steuern kann, eine Fähigkeit, die eine unangenehme Seite in ihm hervorbringt, vor allem, als Willard erfährt, dass sein Chef ihm das Haus abluchsen will – und dann ist da noch die schwarze Ratte Ben …


Der beste Freund des Menschen – „Willard“

„Willard“ erzählt einmal mehr die klassische Underdog-Story vom Gepeinigten, der Rache nimmt, besticht dabei aber durch understatement: Der Film ist nicht nur Tierhorror, sondern mit einem Fuß ebenso klassisches Hollywood-Drama, schafft es aber beide Pole zu einem harmonischen Ganzen zu verschmelzen. Das liegt am beide Bereiche geschickt austarierenden Drehbuch: An vorderster Front wird nämlich eine emotional mitreißende Tragödie erzählt, in die auf leisen (Ratten-)Füßen der Horror reintippelt. Die Geschichte erinnert dabei dank der Konstellation Außenseiter-Sohn/Übermutter/alte Villa zuweilen etwas an Alfred Hitchocks Jahrhundertklassiker „Psycho“. Während man sich in Norman Bates Gedankenwelt allerdings ab einem gewissen Zeitpunkt (hoffentlich) nur noch schwer hineinversetzen kann, bleibt Willard trotz neu entdeckter Rattenliebe und gelegentlichem Hauch einer totalen Psychose allerdings jederzeit greifbar, was durch einen starken Gegenpool erreicht wird: Die wahren Ratten sind hier die Menschen. Egal, ob Willards besitzergreifende Mama (großartig nervig: Frankensteins Braut Elsa Lancaster), ihre neugierg-heuchlerische Freundin Charlotte (schön falsch: Jody Gilbert) oder sein hassenswerter Chef (in schmierig, großkotzig-egoistischer Arschloch-Hochform: Ernest Borgnine). Natürlich, im Endeffekt lauter Prototypen, allerdings verleiht Bruce Davison als Willard mit einer zurückgenommenen, sensiblen Darstellung dem Ganzen die notwendige Gravitas und lässt Manns unauffällig inszenierten, aber mit eindrucksvollen Tierszenen aufwartenden, Film zum packenden Portrait eines Außenseiters werden, das besonders nach heutigen Tierhorror-Maßstäben völlig unspektakulär, dafür aber glaubwürdig wirkt.

Genau das kann man leider von der – ebenfalls bei Anolis erschienenen – Fortsetzung „Ben“ ganz und gar nicht behaupten. Da „Willard“ überraschend viel Geld an den Kinokassen einsammelte, musste schnell eine Fortsetzung her und die pendelt zwischen erwartbar (mehr, viel mehr Viecher) und ganz schön merkwürdig. Inhaltlich dreht sich alles um die aus dem Vorgänger übrig gebliebene Ratte Ben, die vom vaterlosen Außenseiter Danny geborgen und in sein üppig ausgestattetes Zuhause gebracht wird. Doch die Ratte hat kein Herz für den (auch noch) Herzkranken und macht sich dran mit seiner Gang die Stadt zu terrorisieren …

Es ist sicherlich fein, dass der zweite Film, wie so unendlich oft bei Sequels, nicht einfach alles wiederholt, sondern direkt anknüpft. Die Entscheidung einen der vormaligen Antagonisten plötzlich zum Titelhelden zu machen, mutet aber dennoch etwas krude an, da die Fortsetzung damit auf eine gewisse Weise den Protagonisten des ersten Teils relativiert – es ging ja gar nicht um Willard, es ging um Ben!

Das wäre an sich nicht weiter schlimm, wenn man sich wenigstens dazu entschieden hätte, Bösewicht-Ratte Ben zur Hauptfigur in einem fiesen Exploiter mit saftigen Splattereinlagen zu machen, nur leider steuern die Macher – der von Michael Jackson intonierte süßliche Titelsong lässt es bereits früh ahnen – in die komplett gegensätzliche Richtung.


Der beste Freund auch kleiner Menschen – „Ben“

Es sollte auf maximal familienfreundliche Art der Erfolg der ersten Produktion ausgeschlachtet werden, weswegen sich die Sympathien schnell Richtung Nager verschieben, denn ein gesundheitlich zwar stark angeschlagenes, aber trotzdem ganz schön klugscheißerisches Kind, das zudem – in minutenlangen Sequenzen – entweder singt (!) oder Mundharmonika spielt (!!), ist nun wahrlich schlimmer als die größte Rattenplage.

Es ist genau dieser Aspekt, der „Ben“ das Genick bricht, der Film holpert unentschlossen zwischen beinhartem Disney-Kitschimitat und klassischen Tierhorror, wobei letzteres auch nicht mehr so gut funktioniert: Während man in Teil eins ausschließlich auf echte, dressierte Tiere setzte, kommen in dem Bemühen alles noch ein bisschen größer und spektakulär zu machen, hier zusätzlich noch extrem mäßige Effekte zum Einsatz.

Als Kuriosum geht „Ben“ trotzdem irgendwie okay – es gibt selten Filme, bei denen man einer fiesen Ratte alles nur erdenkliche Glück dieser Welt und einem vaterlosen, einsamen, herzkranken, kleinen Jungen den schnellstmöglichen Tod wünscht. Auch ’ne Leistung.

Die Blu-ray-Editionen von Anolis können sie wie immer sehen lassen: Das Bild von „Ben“ wirkt etwas dreckiger als das von „Willard“, ist aber trotzdem absolut akzeptabel, an Bonusmaterialien finden sich informative Booklets, relativ kurzweilige Audiokommentare mit den jeweiligen Hauptdarstellern, diverse Trailer, Radiospots, Alternativfassungen und Werbematerialien.

Willard(USA 1971) • Regie: Daniel Mann • Darsteller: Bruce Davison, Elsa Lanchester, Ernest Borgnine, Sondra Locke, Michael Dante, Jody Gilbert, Joan Shawlee, William Hansen

Ben (USA 1972) • Regie: Phil Karlson • Darsteller: Lee Montgomery, Joseph Campanella, Arthur O’ Connell, Rosemary Murphy, Meredith Baxter, Kaz Garas, Paul Carr, Richard Van Vleet

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Wir sind nicht allein

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Wir schreiben das Jahr 2061, und die Erde ist langsam aber sicher zu einem unbewohnbaren Planeten geworden. Die letzte Hoffnung der Menschheit liegt in der Übersiedelung auf den Mars. In Vorbereitung auf die Mission lässt sich die Wissenschaftlerin Sophie Winston mit ihrem Team in ein Biosphären-Habitat in den Rocky Mountains einschließen. Als sich die Türen des Habitats jedoch wieder öffnen, erwartet Sophie und ihr Team eine böse Überraschung.

 

Unheimliche Aliens, eine großartige Heldin und ein atemberaubendes Abenteuer – Nicholas Sansbury Smith hat mit seinem Invasionsroman „Orbs“ (im Shop) ein Science-Fiction-Epos geschrieben, das sich kein Independence Day-Fan entgehen lassen sollte. Der Roman ist seit dem 10.09.2018 im Handel erhältlich, und für Neugierige gibt es hier das erste Kapitel zum Reinschmökern.

 

1

JAHR: 2061

ORT: Irgendwo über dem Ödland von Colorado

 

Sophie erwachte vom Dröhnen der Rotorblätter. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und reckte den Hals, um aus dem ovalen Fenster zu sehen. Während sie die Dünen und das endlose sandige Ödland betrachtete, wich die Müdigkeit allmählich von ihr. Wenn die Landschaft nicht von hellbraunen Farbtönen beherrscht worden wäre, hätte sie gedacht, sie flöge über das Meer.

»Wie weit draußen sind wir?«, rief sie durch den Lärm der Rotoren.

»Wir brauchen noch mindestens eine Stunde bis zur Anlage. Sie sollten weiterschlafen, Ma’am; die Landschaft verändert sich in nächster Zeit nicht«, sagte der Pilot, ohne den Blick von den Instrumenten zu wenden.

Sophie hatte keine Ahnung, wo sich die Anlage befand, und sie würde sicher nicht danach fragen. Sie band ihr langes, blondes Haar zu einem Pferdeschwanz, bevor sie ihr Headset zurechtrückte. Bei den zunehmenden Turbulenzen und den Vibrationen der Rotorblätter konnte sie unmöglich wieder einschlafen.

Sie lehnte sich auf dem Sitz zurück und konzentrierte sich auf den Ausblick. Die Dünen erstreckten sich bis ans Ende ihres Blickfelds, und ein purpurroter Horizont zerschnitt das Panorama in zwei Hälften. Sie kniff die Augen zusammen und stellte sich vor, sie sähe durch das dicke Glas eines Visiers auf die raue Landschaft des Mars. Es war eine Fantasie, der sie sich täglich hingab. Sie war verstörend realistisch, so klar, dass sie manchmal am liebsten die Hand ausgestreckt hätte, um den Sand des Roten Planeten zu berühren.

Sophie blinzelte und kehrte in die Wirklichkeit zurück. Sie war noch immer auf der Erde, wo bei den Sonnenstürmen von 2055 mehr als 15 Prozent der Oberfläche versengt worden waren. Wegen der Strahlung waren die betroffenen Gebiete seitdem unbewohnbar. Wissenschaftler hatten jahrelang behauptet, ein Sonnensturm könne keine Zerstörungen solchen Ausmaßes anrichten, und ein koronaler Massenauswurf könne die Erdatmosphäre nicht durchdringen. Aber irgendetwas war bei den Stürmen von 2055 anders gewesen – unnatürlich. Jetzt starb der Planet, und die Wissenschaft konnte nichts dagegen ausrichten.

Nicht dass es nicht versucht worden wäre. Jahrzehntelang war China weltweit führend bei der Ausbeutung der Erde nach Edelmetallen gewesen. Nachdem internationale Gespräche gescheitert waren, hatte New Tech Corporation, die mächtigste private Wissenschafts- und Sicherheitsfirma, die Angelegenheit selbst in die Hand genommen. Sie heuerte heimlich Söldner an, um fünf Elektromagnetische Puls-Waffen an strategischen Orten im Land auszulösen. Chinas Hunger nach Ressourcen wurde unverzüglich gestillt, indem man das Land zurück in die Steinzeit schickte.

Leider hatten die EMPs das Unvermeidliche nur hinausgezögert. Die Weltuntergangsuhr tickte immer noch, und die Zeit der Menschheit auf der Erde ging dem Ende entgegen. Deshalb versammelten sich die Mächtigen hinter verschlossenen Türen, wie sie es immer getan hatten, und beschlossen für die Massen, dass es Zeit war, ein Schiff zu besteigen. Die Menschheit befand sich offiziell auf dem Weg ins All, und diese Mission wurde von niemand anderem als New Tech Corporation angeführt.

Sophie hätte lügen und ihrem Team sagen können, sie sei überrascht, dass sie für die erste Phase der Versuchsmission ausgewählt worden waren, aber niemand hätte ihr geglaubt. Das war nicht der erste Auftrag, den NTC ihnen gegeben hatte. Vor zwei Jahren waren sie über einen Monat lang in einer Unterwasser-Biosphäre vor der Küste Puerto Ricos eingeschlossen gewesen. Die gesammelten Daten waren von dem Technik- und Wissenschaftsgiganten dazu verwendet worden, ein bemanntes Unterwasserfahrzeug zu konstruieren, das bei einer Europa-Mission zum Einsatz kommen sollte.

Sie waren das beste Team aus der Privatwirtschaft auf der ganzen Welt; sechs Monate in einer Biosphäre tief in irgendeinem Berg sollten kein Problem darstellen. Aber Sophie konnte nicht bestreiten, dass sie ein wenig eingerostet waren. Seit Puerto Rico hatten sie nicht mehr zusammengearbeitet. Nach dem Erfolg des Projekts hatten alle unter ihrem Kommando Angebote von Technikfirmen überall erhalten und schnell neue Arbeit gefunden.

Sophie vertrieb ihre Bedenken mit einem langen Schnaufen. Schon bald würde sie ihr Team treffen, und wahrscheinlich hätten sie sich schon nach wenigen Tagen wieder aufeinander eingestellt.

Plötzlich rauschte ihr Headset, und eine laute Stimme ertönte. Sophies Fingernägel kratzten über das kalte Metall, als sie die Armlehnen umklammerte.

»Halo eins, hier spricht Black Echo, bitte kommen. Over.«

»Black Echo, hier Halo eins, ich höre. Over.«

»Halo eins, ein heftiger Sandsturm zieht in Ihre Richtung. Over.«

»Verstanden.«

Sophie beobachtete den Piloten, während sie versuchte, ruhig zu atmen. Sie hasste es zu fliegen, vor allem mit dem Hubschrauber. Angesichts der ständigen Wetterumschwünge im Ödland gab es keine sicheren Reisen. Sandstürme bildeten sich wie aus dem Nichts und verursachten zahlreiche Abstürze. Viele Besatzungen wurden nie gefunden, wahrscheinlich weil sie unter dem Sand und Staub, die ihr Schicksal besiegelt hatten, begraben lagen.

Sie wollte nicht so enden. Nicht jetzt. Sie hatte zu hart gearbeitet, um sich von einem Sandsturm von ihrer Bestimmung abbringen zu lassen. Sie hatte eine Mission.

Erschrocken löste sie ihren Sicherheitsgurt, kletterte ins Cockpit und ließ sich auf den leeren Kopilotensitz fallen.

»Was machen Sie da, Ma’am?«

»Sie brauchen einen Kopiloten, wenn Sie dem Sturm ausweichen wollen. Und da ich hier sonst niemanden sehe, bin ich das wohl.«

Die Datenbrille des Piloten strahlte ein rotes Glühen aus, während er überlegte. Statt mit ihr zu streiten, fragte er: »Können Sie ein Radar lesen?«

Sophie biss sich auf die Lippe und betrachtete die Instrumente. »Das krieg ich schon hin, Captain«, sagte sie zuversichtlich.

Der Pilot begegnete ihrem Lächeln mit einem listigen Grinsen. »Wenn Sie es sagen, Ma’am. Behalten Sie einfach den Bildschirm im Auge.« Er zeigte auf ein transparentes Hologramm der Landschaft. »Sehen Sie das Echozeichen am Rand, das direkt auf uns zukommt?« Sie sah auf das Hologramm und nickte. »Das ist der Sandsturm und anscheinend ein großer. Wenn wir auch nur in die Nähe kommen, sind wir erledigt. Sie sollten sich lieber anschnallen.«

Sophie griff nach dem Gurt und warf dem Piloten einen kurzen Blick zu. »Ich muss zur Anlage, Captain. Ein Absturz kommt nicht infrage. Betrachten Sie das als Befehl.« Sie wusste, dass es ihr nicht zustand, einem NTC-Soldaten Befehle zu erteilen, aber sie dachte, ihre Forschheit könne ihn motivieren, ein wenig schneller und sicherer zu fliegen. Sie beobachtete, wie sich das Grinsen auf seinem Gesicht auflöste, als der Pilot über Funk sprach.

»Black Echo, hier spricht Halo eins. Bitte kommen. Over.«

Statisches Rauschen drang aus dem Funkgerät. Der Pilot fluchte leise, bevor er das Mikro erneut zum Mund hob. Sophie sah, wie sich seine Lippen beim Sprechen verzogen. »Black Echo, hier Halo eins. Bitte kommen. Over.«

Es folgte ein weiteres Knistern. Er knallte das Mikro zurück auf das Armaturenbrett. »Offenbar hat der Sturm die Funkverbindung unterbrochen. Wir sind auf uns gestellt.«

»Dann sollten Sie sich konzentrieren, Captain«, entgegnete Sophie.

Sie wandte sich dem rot blinkenden Punkt auf dem Bildschirm zu. Mit dem Zeigefinger vergrößerte sie die Ansicht, dann überschlug sie die Entfernung.

»Da vorne«, sagte der Pilot unvermittelt.

Durch das Panzerglas sah sie am Horizont eine braune Wolke wirbeln, die langsam den purpurroten Sonnenuntergang verschluckte. Bei dem Anblick lief ihr ein Schauder über den Rücken.

Der Pilot warf ihr einen Blick zu. »Ich hoffe, Ihr Gurt sitzt straff, Ma’am.«

Sophie ließ den Sturm nicht aus den Augen. »Bringen Sie uns einfach sicher zur Anlage. Eine Menge Leute hoffen, dass ich unbeschadet ankomme.«

Der Pilot grinste erneut, und seine Lippen zuckten, als wollte er etwas entgegnen, aber dann wandte er sich mit seiner rot leuchtenden Brille dem Sturm zu. Er packte fest den Steuerknüppel und zitterte vor Anstrengung, als er versuchte, ihn ruhig zu halten.

»Können Sie über den Sturm hinwegfliegen?«, fragte Sophie besorgt.

»Unmöglich, Ma’am. Unsere einzige Chance ist auszuweichen, aber es sieht nicht so aus, als würden wir das schaffen.«

»Irgendwas müssen wir doch machen können. Warum drehen wir nicht um?«

Der Pilot löste kurz den Blick von dem näher kommenden Sturm. »Ma’am, der Sturm schießt mit über fünfhundert Stundenkilometern auf uns zu. Selbst wenn wir es versuchen würden, könnten wir ihm nicht entkommen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als mittendurch zu fliegen und zu versuchen, ihn zu überstehen.«

Sophie starrte nach vorn und beobachtete, wie die braunen Partikel auf sie zurasten. Sie blinzelte, als die ersten Sand- und Staubpartikel gegen die gepanzerte Windschutzscheibe schlugen.

Ich bin nicht von so weit hergekommen, um in einem verdammten Sandsturm zu sterben, dachte sie und zog den Gurt vor ihrer Brust straff.

Bevor sie einen weiteren Gedanken fassen konnte, hatte der Sturm sie erreicht und wirbelte Staub und Sand von allen Seiten gegen den Hubschrauber. Das Klirren von aufschlagenden Steinen hallte durch das Innere ihres metallenen Grabs. Die Blätter ächzten protestierend, als der Rotor sie mühsam durch den Wind trieb.

»Festhalten«, brüllte der Pilot. Er riss am Steuerknüppel und beförderte den Hubschrauber weiter ins Innere des Sturms.

Sophie schrie auf, als ein Stein von der Größe eines Baseballs gegen die Windschutzscheibe knallte und sich ein Spinnennetz aus Rissen ausbreitete.

»Die hält«, sagte der Pilot wenig überzeugend. »Die Scheibe wurde konstruiert, um einem Geschoss vom Kaliber fünfzig aus kurzer Distanz standzuhalten.«

»Hoffentlich haben die Ingenieure gute Arbeit geleistet.«

Sophie traute vielen Ingenieuren nicht, vor allem denen nicht, die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, Produkte für den Krieg zu testen. Sie wusste besser als alle anderen, dass Werkstücke unter Laborbedingungen oft gänzlich anderen Belastungen standhielten als im echten Leben. Firmen wie NTC verdienten jedes Jahr Milliarden mit der Entwicklung von mangelhaften Produkten. Es war eine rein wirtschaftliche Frage, das hatte sie schon in jungen Jahren begriffen. Anfällige Produkte mussten ersetzt werden, was den Umsatz erhöhte. Qualität gehörte der Vergangenheit an, und Garantien waren ausgestorben.

Sophie begutachtete den Riss und hoffte, die Windschutzscheibe gehörte nicht zu den Billigprodukten von NTC. Sie mochte es nicht, wenn mit ihrem Leben gespielt wurde.

»Wie weit noch?«, schrie sie.

»Sehen Sie auf dem Radar nach!«, brüllte der Pilot zurück.

Bevor sie sich dem Monitor zuwenden konnte, sah sie etwas durch die Scheibe. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte festzustellen, was es war. »Was zum …«, murmelte sie leise. Der Gegenstand wurde vom Wind herumgewirbelt und schoss auf sie zu.

»Vorsicht!«

Sophie wurde zur Seite geworfen, und ihr Magen drehte sich fast um, als der Pilot den Steuerknüppel scharf nach rechts riss. Es war zu spät. Eine Sekunde später prallte das Trümmerstück gegen die Windschutzscheibe und versperrte ihnen die Sicht. Der Pilot fluchte auf Spanisch. Sophie verstand jedes Wort.

»Holen Sie es runter!«

»Das ist kein Auto. Wir haben keine Scheibenwischer.«

Der Pilot schob seine Brille auf den Helm hoch, um das Metallteil auf der Windschutzscheibe besser erkennen zu können, und Sophie sah zum ersten Mal sein Gesicht. Sie hatte noch nie in solche kristallblaue Augen geblickt. Er konnte nicht älter als neunzehn sein.

Sie schicken mich mit einem Rekruten los?

»Sieht aus wie ein Straßenschild«, rief er und zog sich die Brille wieder über die Augen.

Sie versuchte, die verwitterten weißen Buchstaben auf dem grünen Metall zu entziffern. »D-E-N-V-E…« Sophie zögerte. War das wirklich möglich?

»Denver«, rief sie durch den Lärm. »Scheiße, da steht ›Denver‹ drauf.«

Der Pilot kicherte. »Meine Freundin ist da aufgewachsen. Bevor der Sonnensturm es verbrannt hat.«

»Ich finde die Situation nicht besonders witzig, Captain. Wir müssen irgendwie das Schild …« Der Hubschrauber wackelte heftig, als weitere Trümmerteile gegen das Metallchassis prallten.

»Warten Sie, ich habe eine Idee!« Langsam zog der Pilot den Steuerknüppel nach oben, dann rammte er ihn zum Boden. Das Schild rutschte mit einem Schaben von der Scheibe und wurde von den Titanblättern des Rotors zu Konfetti zerrissen.

Sophie blieb keine Zeit, sich zu freuen. Eine weitere Ladung Schutt trommelte gegen das Exoskelett des Hubschraubers und verursachte melonengroße Beulen an der Innenseite der Tür.

Der Pilot versuchte, den Hubschrauber gerade zu halten, und umklammerte die Steuerung so fest, dass seine Knöchel aussahen, als würden sie jeden Moment explodieren. »Viel mehr hält er nicht aus. Sehen Sie noch mal aufs Radar!«, rief er.

In der Mitte der Konsole blinkte der Radarschirm, und die roten Flecken wurden von statischem Rauschen überdeckt. »Der Sturm stört anscheinend die Übertragung«, vermutete Sophie.

Ein ohrenbetäubendes Kreischen unterbrach sie, als die Rotorblätter sich durch eine Staubwolke fraßen. Ihr Metallkäfig knirschte und ächzte. Sie befanden sich jetzt im heftigsten Teil des Sturms.

Zwei baseballgroße Steine schmetterten gegen die Windschutzscheibe, und weitere Risse breiteten sich zu allen Seiten aus.

»Nur noch ein Stück, mein Kleiner«, flehte der Pilot.

Sophie beobachtete die Risse und versuchte, sie mit purer Willenskraft daran zu hindern, größer zu werden. Aber ihre Gebete blieben ungehört, und ein weiterer kleiner Stein traf die Scheibe. Sie hielt den Atem an und hörte, wie die Windschutzscheibe Zentimeter um Zentimeter zersprang. Selbst durch das Tosen des Sturms hörte sie das Acrylglas splittern. Es war ein seltsames Gefühl, zu wissen, dass nur eine dünne Scheibe, die in einer NTC-Fabrik gegossen worden war, zwischen ihr und dem Sturm stand. Sie sah schon vor sich, wie das Glas nachgab und der braune Staub in den Hubschrauber drang und ihr die Haut vom Leib schmirgelte.

»Das Radar«, rief der Pilot und riss Sophie aus ihrer Trance.

Das Hologramm funktionierte wieder, und das rote Echozeichen, das den Sturm verkörperte, kroch über das transparente Bild. »Sieht aus, als wären wir fast durch!«, verkündete sie, während sie zum Rand ihres Sitzes rutschte, um besser sehen zu können.

»Gott sei Dank. Lang halten wir das nicht mehr durch«, sagte der Pilot. Seine rote Brille neigte sich zum Armaturenbrett, wo er die Druckanzeigen ablas. »Der Hydraulikdruck sinkt von Sekunde zu Sekunde.«

Sophie wandte den Blick nicht vom Radar. Der Hubschrauber schien den östlichen Rand des Sturms erreicht zu haben, nur noch einen Fingerbreit von der Sicherheit entfernt.

Das Ächzen der Rotorblätter lenkte Sophies Aufmerksamkeit wieder auf die Windschutzscheibe. Der braune Staub löste sich allmählich auf. In der Ferne glaubte sie, schon den Nachthimmel durchscheinen zu sehen, aber es war schwer zu beurteilen, weil die dunklen Farben miteinander verschwammen.

»Halo eins, hier spricht Black Echo, hören Sie mich? Over.«

Ein einladendes Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des Piloten aus, als er nach dem Mikrofon griff. »Wir sind wieder da! Black Echo, hier Halo eins. Over.«

»Verstanden. Schön, Ihre Stimme zu hören, Halo eins. Wir dachten, wir hätten Sie im Sturm verloren. Over.«

Sophie ignorierte das Gespräch und beobachtete, wie der Sturm sich langsam legte.

»Black Echo, geht mir genauso. Vorbereitung zur Landung. Over.«

»Verstanden, Halo eins, wir setzen schon mal Kaffee für Sie auf. Over.«

Die Geräusche des Sturms verklangen, und Stille erfüllte das Cockpit. Sophie sackte auf ihrem Sitz zusammen, ohne die metallenen Armlehnen loszulassen. Erleichterung überspülte sie wie eine kalte Dusche nach einem langen Lauf. In den Tagen nach dem Sonnensturm, als sie mit dem Rest ihres Teams aus dem Schutzraum gestiegen war, nur um zu sehen, wie Rauchwolken über den Horizont krochen und Flammen aus den Städten überall in den Vereinigten Staaten am Himmel leckten, hatte sie ähnlich empfunden. Es war ein Gefühl, das sie nie vergessen würde. Und jetzt spürte sie es wieder auf der Haut.

Es war seltsam, dass sie in einem Moment dem Tod ins Auge sehen und im nächsten in den nächtlichen Sternenhimmel blicken konnte. Auf gewisse Weise ließ sie das die Wissenschaft noch mehr schätzen. Es war eine Möglichkeit für sie, ihr Schicksal zu kontrollieren, von einem Experiment im Labor bis zu einem Artikel über Quantenphysik.

Sie wusste, was manche Leute sagen würden: »Gott hat sie vor dem Sturm gerettet. Gott wollte, dass sie überlebt, damit sie die Menschheit retten kann.« Aber ihrer Meinung nach war das alles Schwachsinn. Sie hatte nicht durch Gottes Hand, sondern durch eine Kombination von Glück und Teamwork überlebt.

Sophie lächelte. »Gut gemacht, Captain.«

»Danke, Ma’am. Das war der schlimmste Sturm, durch den ich je geflogen bin. Dachte nicht, dass ich es schaffe.«

»Wie lang noch bis zur Landung?«

Er sah auf die Anzeigetafel. »In fünfzehn Minuten sollten wir am Boden sein.«

Mit einem knappen Nicken wandte sich Sophie wieder dem Nachthimmel zu. Die Sprünge in der Windschutzscheibe waren nur noch eine schwache Erinnerung, die den fantastischen Ausblick nicht trüben konnte – einen Ausblick ähnlich dem, den sie hoffentlich bald vom Mars aus genießen würde.

 

Nicholas Sansbury Smith: „Orbs“∙ Roman ∙ Aus dem Englischen von Marcel Häußler ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2018 ∙ 400 Seiten ∙ Preis des E-Books € 8,99 (im Shop)

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>>Wiederentdeckt: Black Summer von Warren Ellis & Juan José Ryp

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Manchmal gibt es Romane, Comics, Filme oder Musik, die in der Zeit ihrer Entstehung durchs Raster fallen. Die veröffentlicht werden und dann einfach – verschwinden. Verschwinden, oder unverdienterweise vergessen werden. Manchmal lohnt sich aber ein zweiter Blick.

Vor gut zehn Jahren brachte der britische Comic-Gott und Science-Fiction-Crack Warren Ellis, dem wir Meisterwerke wie „Transmetropolitan“, „Planetary“, „The Authority“, „Fell“ und „Trees“ verdanken, eine wahre Flut an neuen Panel-Werken beim US-Verlag Avatar Press heraus, der Heimat von Garth Ennis’ erbarmungslosem postapokalyptischen „Crossed“-Universum und Alan Moores anspruchsvoller Lovecraft-Huldigung „Providence“. Einer der damaligen Ellis-Titel, der die Zeit trotz seiner engen Beziehung zur amerikanischen Politik der Ära George W. Bush bemerkenswert gut überstanden hat, ist „Black Summer“. Die acht Einzelhefte, die der Spanier Juan José Ryp zeichnete, wurden im Englischen in einem dicken Sammelband zusammengetragen, den man durchaus mal wieder hervorkramen kann.

Schließlich beginnt „Black Summer“ mit John Horus, dem mächtigsten und bekanntesten amerikanischen Superhelden, der den US-Präsidenten im Oval Office umbringt, weil Horus den fragwürdigen Anführer der freien Welt für einen Kriminellen hält und faire Neuwahlen möchte, die sein Land in eine bessere, gerechtere Zukunft führen. Die Folgen des blutigen Anschlags, den Horus keineswegs als Staatsstreich sieht und der Frieden und Freiheit zurückbringen soll, sind absehbar. Das US-Militär greift Horus, aber auch seine alten Teamkameraden von den Seven Guns an, die sich ursprünglich einmal durch Hightech-Implantate in Superwesen verwandeln ließen, um gegen Korruption, Söldner und soziale Ungerechtigkeit in ihrer Heimat zu kämpfen. Das ist lange her, und nach Horus’ Aktion führt die Wiedervereinigung der übrigen Seven Guns nur dazu, dass der Konflikt zwischen den Superhelden und der Armee immer brutaler wird und immer mehr Opfer fordert …

Juan José Ryp ist genau der richtige Mann, um diesen Konflikt auf amerikanischem Boden, der Russland seine Truppen aktivieren und haufenweise US-Flüchtlinge nach Kanada strömen lässt, visuell darzustellen. Ryp ist so eine Art schmutziger Geoff „Hardboiled“ Darrow, der ebenfalls dem zeichnerischen Detailwahnsinn frönt. Auf diese Weise bebilderte Ryp für die Comic-Märkte dieser Welt u. a. Ellis’ Fantasy-Satire „Wolfskin“, Frank Millers „RoboCop“, „Rogues!“ und „Nancy in Hell“ von El Torres, Peter Milligans „Britannia“, Charlie Hustons „Wolverine“ sowie Geschichten mit Superman, Batman oder dem Punisher. Ryp besticht dabei nicht als der feinste Storyteller oder der eleganteste Zeichner aller Zeiten, aber sein Stil ist definitiv etwas Besonderes und oft genug ein Hingucker, und sei es nur in Momenten blutiger Materialschlachten. Auch muss man es dem 1971 geborenen Spanier hoch anrechnen, dass er als König des Comic-Gore nicht nur dann massig Details in seine Panels und Seiten packt, wenn Innereien, Extremitäten und anderes durch die Gegend fliegen, sondern so gut wie jede Szene beflissen detailreich gestaltet.

Warren Ellis indes bedient sich für „Black Summer“ vor allem an Details seines eigenen Schaffens für das alte WildStorm-Universum, genauer gesagt für die von ihm geprägten Serien „Stormwatch“ und „The Authority“. Diese machten den bärtigen Engländer nach seiner Zeit mit Marvels Mutanten endgültig zum Topautor, da er die US-Superhelden weiter an die raue Wirklichkeit heranführte. Zugleich setzte Ellis auf Konzepte und Figurentypen, die dem Geist der von Jim Lee und Co. dominierten Superhelden-Neunziger folgten. Auf überlebensgroße Super-Teams mit Metas, Mutanten und Aliens, die in ebenso realistischen wie düsteren Szenarien zur komplexen, schmutzigen Welt der Geheimdienste und der Geo-Politik gehören – dank Ellis sprang der Geist dieser Black-Operation-Superheroes ins neue Jahrtausend. Gut möglich und sogar sehr wahrscheinlich, dass Ellis in „Black Summer“ konkret Ideen für „The Authority“ nutzte, die ihm bei WildStorm bzw. DC kein Redakteur hätte durchgehen lassen. Am Ende stehen „The Authority“ und „Black Summer“ gar in der Tradition und dem unentrinnbaren Schatten des Übermeilensteins „Watchmen“, wobei Ellis das Genre auf wesentlich oberflächlichere, leichter verdaulichere dekonstruiert als Moore und da dann doch Welten dazwischen liegen. Die Fragen, die sie stellen, sind dennoch die gleichen: Wer bewacht die Wächter? Wie weit dürfen die Supergötter gehen? Wo verläuft für diese Mächtigen die Grenze?

Die plakative Mischung aus realistischen Gefahren und möglichst mächtigen, brutalen Superhelden mit unübersehbar menschlichen Schwächen und Dilemmas – und einem entsprechenden Hang zur Hybris – hat in den 80ern und 90er mit großem Erfolg funktioniert, zündete in der Post-9/11-Welt des Irak-Kriegs, und taugt auch heute noch. Und das ist letztlich das Erstaunliche und Erschreckende an diesem Panel-Werk mit seiner relativ simplen Geschichte einer Gruppe Superhelden, die plötzlich gegen ihr Land und seine Soldaten kämpfen müssen: Ellis hat „Black Summer“ für eine andere Zeit und für einen anderen kritisch betrachteten Präsidenten geschrieben – eigentlich unfassbar, dass sein Comic inklusive der grellen Prämisse und der Frage danach, mit welchen Übeln man andere Übel bekämpfen darf oder nicht, mehr als ein Jahrzehnt später dermaßen aktuell und wirklichkeitsnah wirkt.

Und das ist der wahre Grund, wieso „Black Summer“ noch immer aus Mr. Ellis’ Avatar-Schaffen und seiner riesigen Backlist hervorragt.

Warren Ellis & Juan Jose Ryp: Black Summer Avatar Press, Rantoul 2008 • 208 Seiten • Tradepaperback: $24,99 • Sprache: Englisch • Abb: © 2007 Avatar Press

Ebenfalls wiederentdeckt.

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Ein Gruß von Christopher Ruocchio

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Christopher Ruocchio: Das Imperium der Stille

Nur noch eine Woche, dann betritt „Das Imperium der Stille“ (im Shop), das Space-Opera-Debüt von Christopher Ruocchio, hierzulande die Bühne. Der Autor, hoch erfreut über die vielen positiven Vorabkommentare und die hohe Erwartung auf die deusche Ausgabe, hat es sich darum nicht nehmen lassen, seinen deutschsprachigen Lesern einen kleinen Gruß zu schicken. In dem Videoclip erzählt er nicht nur, was ihn ursprünglich zum Schreiben von „Das Imperium der Stille“ (im Original The Empire of Silence) bewogen hat, sondern berichtet auch von einem ganz persönlichen Bezug, den er zur Heyne-Ausgabe hat.

Ab 8. Oktober ist diese dann überall im Buchhandel und als E-Book erhältlich. Eine Leseprobe des Romans findet ihr hier, und mehr Vorab-News findet ihr hier. Aber jetzt – Vorhang auf für Christopher Ruocchio:

Christopher Ruocchio Videoclip

 

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Ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein großer Schritt für die Menschheit

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Als Neil Armstrong am 21.Juli 1969 als erster Mensch die Oberfläche des Mondes betritt, schreibt er Geschichte. Doch wer ist der Mann hinter der Legende? Dem NASA-Historiker James R. Hansen gewährte Neil Armstrong einen einzigartigen Zugang zu privaten Dokumenten und persönlichen Quellen. Herausgekommen ist dabei die ebenso informative wie spannende Biografie eines Mannes, der mit einem kleinen Schritt die Welt veränderte. Allen, die jetzt neugierig geworden sind, stellen wir hier einen Auszug aus James R. Hansens „Aufbruch zum Mond“ (im Shop) zur Verfügung.

 

Als Neil seine Aufmerksamkeit wieder auf die Mondoberfläche richtete, die rasch näher kam, sah er keine Krater oder Kraterformationen, die er erkannte, aber das war unter den Umständen kein Anlass zur Sorge. Im Training hatte er stundenlang verschiedene Landkarten des Mondes, Dutzende Orbiter-Bilder von der Oberfläche und viele hochauflösende Fotos studiert, die Apollo 10 von der Strecke des Landeanflugs gemacht hatte, von jedem einzelnen Orientierungspunkt auf dem Weg zum Mare Tranquillitatis. „Die Punkte, die ich dort draußen sah, waren nicht die, die ich mir eingeprägt hatte, ich erinnerte mich nicht gut genug an sie, um zu wissen, wo genau wir uns befanden, aber ich sah das pragmatisch. Ich fand es weder überraschend noch besorgniserregend, wenn wir an einem anderen Ort herauskamen. Es wäre ja eher überraschend gewesen, wenn wir beim ersten Versuch einer Mondlandung auch nur in der Nähe der Stelle gelandet wären, die wir uns ausgesucht hatten. Ich rechnete überhaupt nicht damit. Objektiv betrachtet war es mir auch relativ egal, wo wie landeten, solange es sich um eine ungefährliche Stelle handelte. Wo das war, spielte keine große Rolle. Am besten wäre es gewesen, wir wären in irgendjemandes Garten gelandet.“

Da Armstrong mit der Klärung der Programmalarme beschäftigt gewesen war, konnte er den Landebereich erst ungestört in Augenschein nehmen, als die Mondlandefähre nur noch 600 Meter über der Oberfläche schwebte. Was er auf den folgenden 450 Metern Abstieg sah, war nicht gut:

 

04:06:43:08 Armstrong: Ziemlich felsige Gegend.

 

Der Bordcomputer leitete sie direkt auf den nahe gelegenen Hang eines Kraters von der Größe eines Footballfeldes zu. Rund um diesen später als „Westkrater“ bezeichneten Krater erstreckte sich ein großes Feld voller Steinbrocken, von denen einige so groß wie Kleinwagen waren.

„Anfangs hielt ich es für eine gute Idee, kurz vor dem Krater zu landen, weil es wissenschaftlich wertvoller gewesen wäre, nah an einem großen Krater zu sein. Doch die Neigung des Abhangs war beträchtlich, und ich glaubte nicht, dass wir an einer so steilen Stelle landen sollten.

Dann dachte ich, dass ich die großen Felsbrocken auf dem Feld wahrscheinlich umgehen könnte, aber ich wusste nicht genau, wie gut ich zwischen ihnen und um sie herum auf einen bestimmten Landepunkt zusteuern konnte, weil ich noch nie mit dem Fahrzeug gelandet war. Es wäre wohl kein großes Vergnügen, eine ziemlich eng bemessene Stelle treffen zu müssen. Außerdem kam der Bereich rasch näher, und schon bald war klar, dass ich nicht früh genug heruntergehen konnte, um eine sichere Landestelle zu finden; es war für mich einfach nicht der richtige Ort für eine Landung. Eine größere, offenere Fläche, auf der nicht von allen Seiten Gefahren drohten, wäre besser.“

04:06:43:10 Aldrin: 183 Meter, sechs runter. 165 Meter, neun runter. 4,5 runter.

04:06:43:15 Armstrong: Ich werde jetzt …

 

Bei gut 150 Metern schaltete Armstrong auf die manuelle Steuerung um. Als Erstes richtete er das Fahrzeug vollständig auf, was den Abstieg verlangsamte, aber das Tempo nach vorn – etwa fünfzehn bis achtzehn Meter pro Sekunde – beibehielt, sodass er wie ein Helikopterpilot über den Krater hinwegfliegen konnte.

Jetzt, da Armstrong den Krater hinter sich ließ, musste er eine gute Landestelle ausfindig machen, ein potenziell schwieriges Unterfangen angesichts der speziellen Lichtverhältnisse auf der Mondoberfläche, die sich auf der Erde nicht hatten nachstellen lassen. „Eine große Sorge war“, erinnerte sich Neil, „dass das vom Mond reflektierte Licht beim Näherkommen so stark wäre, dass wir ganz unabhängig vom Anflugwinkel wenig sehen könnten, weil es unsere Tiefenwahrnehmung ernsthaft beeinträchtigte.“

Zum Glück hatten die Missionsplaner sich im Vorfeld viele Gedanken über die Lichtbedingungen gemacht. Sie waren zu dem Schluss gekommen, dass die Eagle in einem Zeitabschnitt des „Tages“ und in einem Winkel landen musste, in denen die Schatten am längsten waren. Ohne Schatten wirkte der Mond flach, doch waren sie lang, präsentierte sich ein dreidimensionales Bild. Dann konnten die Astronauten die räumlichen Bedingungen auf der Oberfläche gut erkennen: Sie nahmen Höhenunterschiede wahr und konnten die Konturen und Formen von Gipfeln, Tälern, Kämmen und Kanten ausmachen. Die idealen Bedingungen für den Anflug der Mondlandefähre waren gegeben, wenn die Sonne 12,5 Grad über dem Horizont stand. Dann hätten Armstrong und Aldrin genügend Licht zur Verfügung, und die Raumwahrnehmung wäre trotzdem gut.

Da Armstrong den Bereich hinter dem Krater recht gut einsehen konnte, hing die Landung des LM nun schlicht und einfach von seinen Pilotenfähigkeiten ab. Nun zahlte sich die Zeit im LLTV aus, denn Neil konnte die Eagle nicht einfach zu Boden bringen, indem er durch die Luft schwebte und dann senkrecht runterging, sondern musste sie noch 450 Meter in einem relativ schnellen Tempo absinken lassen. „Solche Manöver hatte ich schon im Lunar Lander Training Vehicle geflogen. Diese Techniken musste ich nun nutzen, um über den Boden zu gleiten. Hätte ich etwas mehr Erfahrung mit der Maschine gehabt, wäre ich die Überquerung des Kraters etwas aggressiver angegangen, aber es erschien mir nicht sehr vernünftig, ausgeprägte Lageveränderungen vorzunehmen. Ich hatte einfach nicht genügend Erfahrung mit dem Gefährt unter diesen Bedingungen, um zu wissen, wie es reagierte und wie gut ich damit umgehen konnte. Zum Glück flog das LM besser, als ich erwartet hätte. Daher hätte ich sicher mit etwas mehr Tempo über den Krater und aus dem schlechten in ein besseres Gebiet fliegen können, was uns ein bisschen Treibstoff eingespart hätte.“

Normalerweise ist es keine schlechte Idee, „lang“ zu landen, vor allem wenn man ein Rollfeld ansteuert, wo man die Bedingungen vor sich auf eine gewisse Entfernung überblicken kann. Doch auf der felsigen, schartigen Mondoberfläche brachte eine „lange“ Landung mehr ungeklärte Fragen mit sich als eine „kurze“ in einem Bereich, in dem der Pilot bereits alle Gefahren erfasst hatte. „Wenn dir das, was du siehst, nicht gefällt“, erklärte Aldrin, „gibt es vier Optionen: links, rechts, runterzugehen bzw. ‚kurz‘ zu landen oder weiterzufliegen. In den allermeisten Fällen ist die letzte die am wenigsten schlimme, auch wenn sich Fragen ergeben können wie: ‚Wenn ich weiterfliege, weiß ich nicht, was dort kommt. Bei einer kurzen Landung ist das klar. Ich bin nicht über der Stelle, ich bin davor.‘ Soweit ich mich erinnere, wäre es rechts haarig geworden, links ebenfalls und runterzugehen und kurz zu landen … war einfach übel.“ Armstrong stimmte zu: „Manchmal geht man runter und stellt fest: ‚Himmel, das sieht furchtbar aus.‘“ „Daher ist es ganz natürlich weiterzufliegen“, fuhr Aldrin fort. „Die Flugbahn zu verlängern“, fügte Neil hinzu. „Wir mussten eine Stelle finden und wussten nicht, wie sehr sich die Sicht verschlechtern würde, wenn wir uns der Oberfläche näherten. Daher suchten wir lieber aus einer Höhe von knapp fünfzig Metern einen Punkt, der sich gut eignete.“

04:06:43:46 Aldrin: 90 Meter [Höhe], eins [Meter pro Sekunde] runter, fünfzehn [Meter pro Sekunde] nach vorn. Langsamer. Ein halber runter. Bring sie sanft runter.

04:06:43:57 Armstrong: Okay, was sagt der Treibstoffstand?

04:06:44:00 Aldrin: Geh runter.

04:06:44:02 Armstrong: Okay. Hier … Sieht ganz gut aus, die Gegend.

04:06:44:04 Aldrin: Ich kann den Schatten erkennen.

 

Den Schatten der Mondlandefähre ausmachen zu können war ein zusätzlicher optischer Hinweis darauf, wie hoch sie unterwegs waren. Buzz schätzte, dass er ihn das erste Mal auf rund achtzig Metern entdeckte: „Ich hätte gedacht, dass er bei achtzig Metern weit vor uns auftauchen würde, aber das stimmte nicht. Ich konnte die Landebeine erkennen, und die Auf- und die Abstiegsstufe. Hätte ich früher hinausgeschaut, hätte ich bestimmt schon auf 120 Metern so etwas wie einen Schatten finden können, vielleicht sogar von noch weiter oben. Wie auch immer, auf der niedrigen Höhe stellte er einen nützlichen Hinweis dar, aber man musste ihn natürlich vor dem Fenster haben“, was auf Neil nicht zutraf. Für die letzte Phase des Landeanflugs hatte Armstrong die Fähre etwas nach links gekippt. Daher versperrte ihm das Verdeck über der Luke die Sicht auf den Schatten der Mondlandefähre.

Während des Abstiegs von sechzig auf fünfzig Meter fand Armstrong die Stelle, auf der er landen wollte – eine ebene Fläche direkt jenseits eines weiteren, kleineren Kraters hinter dem Westkrater:

04:06:44:18 Aldrin: Dreieinhalb nach vorn. Ruhiger Sinkflug. Sechzig Meter, 1,35 runter.

04:06:44:23 Armstrong: Wir fliegen direkt über den Krater.

04:06:44:25 Aldrin: 1,65 runter.

04:06:44:27 Armstrong: Ich habe eine gute Stelle.

04:06:44:31 Aldrin: Fünfzig Meter, zwei runter. 1,65 runter, drei nach vorn. Sieht gut aus.

 

Unter sich sah Neil eine Schicht aus Mondstaub, der vom Abstiegstriebwerk der Mondlandefähre auf seltsame Weise in Bewegung versetzt worden war. Genau genommen zeichnete sich auch der Schatten, den Buzz entdeckt hatte, auf dieser Staubschicht ab, nicht auf der Mondoberfläche selbst. Wie Neil sagte: „Die Sicht schwand, als wir auf unter dreißig Meter hinabgesunken waren. So langsam gerieten wir in den Staub – und zwar nicht in eine normale Staubwolke, wie man sie von der Erde kennt. Der Staub von der Mondoberfläche bildete einen Schleier, der sich von der Landefähre aus in alle Richtungen ausbreitete. Er bedeckte fast die gesamte Oberfläche, obwohl die größten Felsbrocken herausragten. Diese sehr schnelle Staubschicht, die sich fast waagerecht bewegte, wirbelte nicht im Geringsten auf, sie breitete sich einfach überall hin aus.“

Neil erzählte weiter: „Als wir tiefer sanken, wurde die Sicht immer schlechter. Ich glaube nicht, dass die visuelle Höhenbestimmung ernsthaft vom Staub beeinträchtigt war, aber was mich verwirrte, war, dass wir unsere Geschwindigkeit zur Seite und geradeaus nur schwer einschätzen konnten. Einige der größeren Steinbrocken zeichneten sich im Staub ab, und man musste durch den Schleier hindurchschauen, um die Steine auszumachen und danach die Translationsgeschwindigkeit zu bestimmen. Das fand ich ziemlich schwierig. Ich verbrachte mehr Zeit damit, die Translationsgeschwindigkeiten zu reduzieren, als ich für nötig gehalten hätte.

Als wir dann einen Bereich für die Landung gefunden hatten, drehte sich alles darum, die Mondlandefähre relativ langsam Richtung Boden zu bringen und größere Vorwärts- oder Seitwärtsbewegungen zu vermeiden. Als wir die Fünfzehn-Meter-Marke passiert hatten, meinte ich, dass wir auf der sicheren Seite waren, auch wenn uns der Treibstoff langsam ausging. Ich rechnete damit, dass das Landefahrzeug den Aufprall dank des stauchbaren Schaums in den Landebeinen überstehen würde. Ich wollte zwar nicht aus der Höhe zu Boden stürzen, doch sobald wir unter fünfzehn Metern waren, war ich ziemlich zuversichtlich, dass wir auf der sicheren Seite waren.“

Aus der Perspektive des Kontrollzentrums hingegen war die Situation durchaus brenzlig – an den Instrumentenpulten war die Anspannung wegen des Dramas um die Treibstoffreserven deutlich zu spüren.

Noch in einer Höhe von 82 Metern, kurz bevor Buzz den Schatten des LM entdeckte, hatte Armstrong gefragt: „Was sagt der Treibstoffstand?“ Als die Mondlandefähre auf fünfzig Meter hinabgesunken war, hatte Bob Carlton, der Steuersystemingenieur aus Gene Kranz‘ weißem Team, über die Flugdirektorenverbindung gemeldet, dass der Treibstoffvorrat nun offiziell „gering“ sei. Das bedeutete, dass sich in den Tanks des LM nun so wenig davon befand, dass die Menge nicht mehr gemessen werden konnte, so wie die Tankanzeige in einem Auto manchmal auf „leer“ steht, der Wagen aber trotzdem noch fährt. Kranz versicherte später: „Ich hätte nie damit gerechnet, dass wir mit so wenig Treibstoff noch in der Luft wären.“

Auf einer Höhe von knapp dreißig Metern hatte Aldrin gemeldet, dass die Tankleuchte nun aktiv sei, ein Hinweis darauf, dass nur noch fünf Prozent der ursprünglichen Treibstoffmenge verblieben. Im Kontrollzentrum löste diese Nachricht einen 94 Sekunden dauernden Countdown aus. Danach hätte Armstrong bei seiner Abstiegsgeschwindigkeit nur noch zwanzig Sekunden, um zu landen. Wenn er das nicht für machbar hielt, würde er die Landung sofort abbrechen müssen – obwohl er das auf dieser geringen Höhe, dreißig Meter über der Mondoberfläche, keineswegs vorhatte.

Bei 23 Metern teilte Bob Carlton Kranz mit, dass nun nur noch sechzig Sekunden verblieben. Charlie Duke wiederholte diese Meldung, sodass auch Neil und Buzz sie hörten. Kranz erinnerte sich: „Von der Besatzung kam keine Reaktion. Sie war zu beschäftigt. Ich hatte das Gefühl, dass die beiden alles auf eine Karte setzen würden. Das ahnte ich schon, seit sie auf die manuelle Steuerung umgeschaltet hatten: ‚Sie sind die Richtigen für die Aufgabe.‘ Ich bekreuzigte mich und sagte: ‚Bitte, Gott.‘“

Armstrong meinte später: „Auf einer Höhe von mehr als dreißig Metern hätten wir sicher abbrechen müssen. Aber weiter unten war es das Sicherste weiterzumachen. Die Treibstoffsituation war uns durchaus bewusst. Wir hörten, wie Charlie den Countdown begann, und sahen die Tankleuchte im Cockpit, doch das spielte keine Rolle mehr. Ich wusste, dass wir zu dem Zeitpunkt schon ziemlich weit unten waren. Und unterhalb von dreißig Metern wollten wir nicht mehr abbrechen.“

Um 04:06:45:07 Uhr MET las Aldrin vor: „Achtzehn Meter, 0,75 runter. 0,6 nach vorn, 0,6 nach vorn. Das ist gut.“ Armstrong wollte im Vorwärtsflug bleiben, damit er sicher sein konnte, dass er nicht in einem Loch landete, das er übersehen hatte. „Ich wollte gern, dass wir uns während des gesamten Endanflugs leicht vorwärts bewegten, denn sobald man senkrecht runtergeht, sieht man nicht, was sich direkt unter einem befindet. Man will erst ziemlich nah an den Grund herankommen, um zu sehen, dass es sich um einen guten Bereich handelt. Dann kann man die Vorwärtsbewegung einstellen und das Gefährt aufsetzen lassen.“

„Noch dreißig Sekunden“, ertönte Carltons nächste Meldung. Im Kontrollzentrum war mittlerweile jedes Gespräch verstummt. Alle, die vor den Bildschirmen und in den Beobachtungsräumen saßen, schluckten schwer, während sie angespannt abwarteten, was als Nächstes kam – die Landung der Eagle oder Carltons nächste Treibstoffmeldung.

Am Steuerpult der Mondlandefähre machte sich Neil keine großen Gedanken um den Treibstoffvorrat. „Im LLTV war es nicht ungewöhnlich, erst zu landen, wenn der Treibstoff nur noch für fünfzehn Sekunden reichte – das kam ständig vor. Mir erschien die Situation beherrschbar. Es wäre zwar schön gewesen, noch eine Minute länger zu haben, um noch ein bisschen herumzutüfteln, doch ich wusste, dass die Zeit knapp wurde, dass wir runtergehen, das LM unter fünfzehn Meter bekommen mussten. Aber ich verlor wegen der Treibstoffsituation nicht den Kopf.“

04:06:45:26 Aldrin: Sechs Meter, 0,15 runter. Bewegen uns ganz leicht nach vorn. Gut. Okay. Kontaktleuchte.

 

Die Kontaktleuchte schaltete sich ein, sobald mindestens einer der Bodenfühler, die von drei der vier Fußteller herabhingen, die Mondoberfläche berührte.

Neil war so sehr auf das konzentriert, was zu tun war, um das Gefährt sicher zu landen, dass er weder hörte, wie Aldrin klar und deutlich den Kontakt verkündete, noch das blaue Licht aufleuchten sah. Er hatte vorgehabt, das Triebwerk abzuschalten, sobald die Kontaktleuchte an war, doch das gelang ihm nicht. „Ich hörte, wie Buzz etwas über Kontakt sagte. Doch da befanden wir uns noch über dem Sandschleier, und ich war mir nicht ganz sicher, ob der Kontakt wirklich hergestellt war. Das Kontrolllämpchen hätte auch ein Fehlalarm sein können, daher wollte ich uns noch ein bisschen weiter nach unten bringen. Vielleicht hatten wir schon aufgesetzt, als ich das Triebwerk abschaltete – es war auf jeden Fall knapp davor. Die einzige Gefahr bestand darin, mit der Glocke des Triebwerks zu nah an die Oberfläche heranzukommen, während es noch lief, dann hätte es beschädigt werden können. Das hätte keine Explosion ausgelöst, davor hatten wir keine Angst. Aber im Rückblick hätte es schlimme Auswirkungen haben können. Wenn wir mit ausgefahrenem Triebwerk direkt auf einem Felsbrocken gelandet wären, wäre das gar nicht gut gewesen.“

 

04:06:45:41 Armstrong: Abschalten.

04:06:45:42 Aldrin: Okay, Triebwerkstopp.

 

Die Mondlandefähre setzte sehr sanft auf, so sanft, dass die Astronauten kaum sagen konnten, wann sie wirklich gelandet waren. „Soweit ich es spüren konnte, standen wir nicht schräg“, erklärte Neil. „Es war wie eine Hubschrauberlandung.“ Genau betrachtet wäre es vielleicht sogar hilfreich gewesen, etwas kräftiger aufzusetzen, wie es die späteren Apollo-Besatzungen dann auch absichtlich taten. „Man versucht immer, weich zu landen“, meinte Neil, „aber wenn wir mit etwas mehr Schwung aufgesetzt hätten, wäre der Schaum in den Landebeinen der Fähre stärker zusammengedrückt worden, wodurch die untere Seite des Fahrzeugs näher an der Mondoberfläche und der Sprung von der Leiter zum Boden nicht so hoch gewesen wäre. Also hatte eine härtere Landung durchaus ihre Vorteile.“

04:06:45:58 Armstrong: Houston, hier Tranquility Base. Die Eagle ist gelandet.

 

Aldrin wusste, dass Neil vorhatte, die Landestelle „Tranquility“ Base zu nennen, aber Neil hatte ihm nicht mitgeteilt, wann er den Namen zum ersten Mal verwenden wollte. Das Gleiche galt für Charlie Duke. Neil hatte Charlie vor dem Start über den Namen in Kenntnis gesetzt, doch als Charlie ihn nun zum ersten Mal hörte, hatte der normalerweise sehr schlagfertige Mann aus South Carolina plötzlich einen Knoten in der Zunge:

04:06:46:06 CapCom: Roger, Twan … [korrigiert sich] Tranquility. Haben verstanden, dass ihr aufgesetzt habt. Ihr habt eine Reihe Kerle hier unten blau anlaufen lassen. Jetzt können wir wieder durchatmen. Vielen Dank dafür.

04:06:46:16 Aldrin: Danke ebenfalls.

04:06:46:18 CapCom: Von hier sieht alles gut aus.

 

Im Rückblick ist klar, dass die Treibstoffsituation der Eagle nie so kritisch war, wie das Kontrollzentrum zu der Zeit glaubte – oder wie es die Historiker gern darstellen. Die Nachfluganalyse ergab, dass Armstrong und Aldrin bei der Landung noch 300 Kilogramm nutzbaren Treibstoff im Tank hatten, der für weitere fünfzig Sekunden Schwebeflug ausgereicht hätte. Es waren etwa 225 Kilogramm weniger nutzbarer Treibstoff, als bei den folgenden fünf Apollo-Landungen verblieben.

Armstrong sagte später: „Das Wichtigste war, dass wir uns schon so nah an der Oberfläche befanden, dass es im Grunde egal war. Wir hätten auch dann nicht die Kontrolle über die Lage des Gefährts verloren, wenn uns der Treibstoff ausgegangen wäre. Das Triebwerk hätte sich abgeschaltet, aber aus der Höhe hätten wir trotzdem sicher auf dem Boden aufgesetzt.“

 

***

 

Die Landung erfolgte am 20. Juli 1969 um 16:17:39 Uhr Ostküstenzeit (21:17:39 Uhr in Mitteleuropa). Sobald die Menschen auf der Erde begriffen hatten, dass die Eagle sicher auf dem Mond aufgesetzt hatte – im Fernsehen rief Cronkite: „Meine Güte. Mann auf dem Mond!“ -, brachen Jubelstürme aus. Überall auf der Welt verspürten die Leute eine enorme Erleichterung. Sie saßen sprachlos da oder applaudierten wie wild. Sie lachten, während ihnen die Tränen über die Wangen liefen. Sie schrien, brüllten und jauchzten. Sie reichten sich die Hand und umarmten sich, stießen an und brachten Trinksprüche aus. Die Gläubigen beteten. In einigen Teilen der Welt hieß es: „Die Amerikaner haben es endlich geschafft.“ Natürlich war man in den USA besonders stolz auf diesen Erfolg. Selbst diejenigen, die nicht gut auf ihr Land zu sprechen waren – und das waren in den Tagen des Vietnamkriegs viele –, hielten die Mondlandung für eine außergewöhnliche Leistung.

In der Mondlandefähre, 385.000 Kilometer entfernt, taten Armstrong und Aldrin in diesem ganz speziellen Augenblick nach der Landung ihr Bestes, ihre Gefühle, wie auch immer diese aussehen mochten, zu unterdrücken. Die beiden Astronauten nahmen sich nur kurz die Zeit, einander die Hand zu schütteln und sich gegenseitig auf die Schulter zu klopfen. Auch wenn es ein entscheidender Moment im Leben beider Männer und vielleicht auch in der Geschichte der Menschheit im 20. Jahrhundert war, hatten die beiden ersten Menschen auf dem Mond keine Zeit, ihn zu genießen.

„So weit, so gut“, war die einzige Reaktion, an die sich Neil später erinnerte. Er wandte sich wieder seiner Checkliste zu und sagte zu Buzz: „Okay, weiter geht’s.“

 

* * *

 

Auf dem Stuhl des CapComs saß nun Bruce McCandless, er hatte den Posten für den Außenbordeinsatz von Owen Garriott übernommen:

04:13:22:48 McCandless: Okay, Neil, wir sehen dich jetzt die Leiter hinuntersteigen.

04:13:22:59 Armstrong: Okay, ich habe gerade probiert, wieder auf die erste Stufe zu kommen, Buzz. Das Landebein hat sich nur wenig zusammengeschoben, aber es reicht, um wieder hinaufzukommen.

04:13:23:10 McCandless: Roger. Verstanden.

04:13:23:25 Armstrong: Aber ein ordentlicher kleiner Sprung ist schon nötig.
 

04:13:23:38 Armstrong: Ich stehe am Fuß der Leiter. Die Fußteller sind nur ein paar Zentimeter tief eingesunken, obwohl die Oberfläche sehr, sehr feinkörnig zu sein scheint, wenn man sie aus der Nähe betrachtet. Fast wie Puder. Die Masse, die den Boden bedeckt, ist sehr fein.
 

04:13:24:13 Armstrong: Ich steige jetzt vom Landeteller hinab.

 

Keiner der Millionen Zuschauer auf der ganzen Welt, die diese Ereignisse verfolgten, wird je den Augenblick vergessen, in dem Armstrong den ersten Schritt auf die Oberfläche des Mondes hinaus machte. Auf den verschwommenen Schwarz-Weiß-Aufnahmen von einem Ort, der über 400.000 Kilometer entfernt war, schien es eine Ewigkeit zu dauern, bis Neil schließlich - die rechte Hand an der Leiter – den linken Fuß im Stiefel vorstreckte und den Mond betrat.

Der historische erste Schritt fand um 22:56:15 Uhr Ostküstenzeit statt, um 03:56:15 Uhr MEZ. Wenn man die „Mission Elapsed Time“ zugrunde legt, die Zeit, die seit dem Start verstrichen war, erfolgte er laut einer offiziellen Presseerklärung der NASA nach vier Tagen, dreizehn Stunden, 24 Minuten und zwanzig Sekunden.

In den Vereinigten Staaten schauten die allermeisten Zuschauer, darunter auch die Armstrongs und ihre Gäste in Wapakoneta und El Lago, den Sender CBS, wo Cronkite – ein seltener Augenblick in seiner Fernsehkarriere – buchstäblich sprachlos war. Er hatte die Brille abgenommen und wischte sich die Tränen aus den Augen, als er erklärte: „Armstrong ist auf dem Mond! Neil Armstrong, ein 38-jähriger Amerikaner, steht auf der Mondoberfläche! An diesem 20. Juli 1969!“

Die Fernsehbilder gaben den Zuschauern das Gefühl, mit Armstrong gemeinsam auf den Mond hinauszutreten. Ohne sie wäre der erste Schritt eines Menschen auf dem Mond zwar trotzdem ein bedeutendes Erlebnis gewesen, aber auf ganz andere Weise. Wie Neil später meinte: „Die Bilder waren surreal, nicht weil die Situation an sich surreal war, sondern weil die Fernsehtechnik und die Qualität der Aufnahmen sie aufgesetzt und unwirklich erscheinen ließen.“ In Bezug auf all die lächerlichen Verschwörungstheorien der vergangenen vier Jahrzehnte, die behaupteten, die Mondlandung sei getürkt gewesen und in einem abgelegenen Filmstudio irgendwo in der Wüste aufgezeichnet worden, räumte Armstrong selbst ein: „Ich muss schon sagen, dass es fast gestellt aussah. Das war nicht geplant. Wäre es möglich gewesen, schärfere Aufnahmen zu machen, hätten wir uns sicherlich dafür entschieden.“

Er erinnerte sich: „Von einem technischen Standpunkt aus war das Fernsehen für verschiedene Leute innerhalb und außerhalb der NASA immer noch ein wertvolles Gut.“ Doch keine Information war bedeutender – oder besser gehütet – als die Worte, die Armstrong beim Betreten des Mondes äußern wollte. Niemand kannte sie, nicht einmal seine Mannschaftskameraden. Buzz wusste noch: „Auf dem Weg zum Mond fragten Mike und ich Neil, was er sagen wollte, wenn er den Mond betrat. Er antwortete, darüber denke er noch nach.“

Armstrong blieb immer dabei, dass er kaum Gedanken auf diese Frage verschwendete, bis sie die Landung erfolgreich abgeschlossen hatten.

Um 04:13:24:48 Uhr MET, wenige Sekunden vor 22:57 Uhr Ostküstenzeit, sprach Neil die berühmten Worte aus:

“That’s one small step for man, one giant leap for mankind.” („Ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein großer Schritt für die Menschheit.“)

 

James R. Hansen: „Aufbruch zum Mond“∙ Die autorisierte Biografie ∙ Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Schmalen ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2018 ∙ 512 Seiten ∙ Preis des E-Books € 9,99 (im Shop)

 

 

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Wenn Kinderträume zum Weltuntergang führen

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Woodstock, die Mondlandung, Rock’n’Roll, Hippies, Vietnam… 1969 war ein bewegtes Jahr, das die Welt nachhaltig prägen sollte. In den letzten Jahrzehnten versuchten sich etliche Künstler und Autoren an der Aufarbeitung der turbulenten 60s und 70s, während man in Nostalgie schwelgte oder den Krieg verteufelte. Und ausgerechnet ein japanischer Manga-Autor zeichnet uns davon ein Bild wie kaum ein anderer, umhüllt in eine unglaublich packende, durchdachte und emotionale Geschichte von Kinderträumen, dem ernüchternden Erwachsenwerden und ewiger Freundschaft. Natürlich sind die Laserpistole, gewaltige Roboter und eine ominöse Sekte nicht zu vergessen. Die Rede ist von Naoki Urasawas Meisterwerk „20th Century Boys“, das lange Zeit vergriffen und heiß begehrt war und ab sofort in einer wunderschönen Ultimativen Edition beim Panini-Verlag neu aufgelegt wird.

Der Manga erzählt die Geschichte von Kenji Endou, der sich als Kind mit seinen Freunden die brennenden Sommertage des Jahres 1969 mit dem Bau einer Geheimbasis vertreibt, während sie zwischen dem schattigen Gestrüpp Comics lesen, fernem amerikanischen Rock’n’Roll lauschen und von der glorreichen Zukunft träumen, in der sie die Welt vor bösen Aliens retten, samt geheimen Gruppen-Kennzeichen.

Doch als Erwachsener mittleren Alters ist Kenjis Leben alles andere als das eines coolen Rockstars. Kenji ist ledig, kümmert sich um die kleine Tochter seiner verschollenen Schwester und fristet sein Leben im Gemischtwarenladen seines verstorbenen Vaters. Er hat die Gegend, in der er groß wurde, nie verlassen. Doch dann erreicht ihn ein Brief eines Freundes aus Kindheitstagen, Spitzname Donkey, der ihn an die Geheimbasis und den Schwur der kindlichen Freundschaft erinnert. Kurz darauf nimmt sich Donkey unerwartet das Leben und das führt Kenji auf eine Reise, um die Hintergründe aufzuklären. Schnell wird klar, dass Donkey zwischen die Machenschaften einer mysteriösen Sekte geriet, die sich in Japan breit macht, von einem unbekannten Führer geleitet wird, der den Decknamen „der Freund“ trägt, zu allem Überfluss auch noch das Geheimzeichen von Kenji und seinen Freunden aus Kindheitstagen nutzt und den Untergang der Menschheit voraussagt.

Naoki Urasawa macht sich seit Jahrzehnten einen Namen durch hochkomplexe Thriller für Heranwachsende und Erwachsene, allen voran Werke wie „Monster“, der Astroboy-Interpretation „Pluto“ oder auch dem mit dem Max & Moritz-Preis ausgezeichneten „Billy Bat“, während seine aktuellste Miniserie, „Mujirushi“ gar in Zusammenarbeit mit dem französischen Louvre entstand. Dieser Erzählkunst steht „20th Century Boys“ in Nichts nach. Urasawa versteht es, das Profane mit Nostalgie zu versetzen und eine Magie zu verleihen, während sich im Hintergrund ein ausgeklügelter psychologischer Thriller auf höchstem Niveau abspielt, mit etlichen verwobenen, scheinbar losen Storyfäden. Alle Geschichten sind oft bereits Jahre im Voraus bis in kleinste Detail geplant und durchexerziert, bis sich im Verlauf Stück für Stück ein gewaltiges Mosaik ergibt, das sofort zum erneuten Lesen einlädt.

Im Falle von „20th Century Boys“, ist es die große Frage nach der Identität des „Freundes“, welche Kenji und den Leser verfolgt und in seine frühe Kindheit zurückführt. Die Geschichte wird immer wieder auf diversen Zeitebenen erzählt, während der Leser der Gegenwart folgt und kleine Einblicke in Kenjis Jugend und der seiner Freunde gewinnt, die das Bild nach und nach beleuchten. Gerade die einzelnen sympathischen Figuren sind es, die neben den Texten aus dem Off dem Manga seinen nachhaltigen Charme verleihen, während Kenji über seine  Versäumnisse als Erwachsener philosophiert oder der Leser sieht, was das Schicksal für jeden einzelnen der Gruppe bereithielt. Und doch verbergen sich ein fortwährend schleichende Sci-Fi-Elemente in der zwölfteiligen Reihe (wenn man den abschließenden „21st Century Boys“-Band mitzählt), die bereits auf den ersten Seiten mit einem gewaltigen, ominösen Ungetüm angedeutet werden und bei der Erwähnung kindlicher Laserpistolen das Herz höher schlagen lässt. Lediglich die Frage, ob sich das Ganze nicht doch in weniger als zwölf dicken Bänden erzählen ließe, bleibt bestreitbar. Und trotzdem hat die Geschichte um Kenji, die Geheimbasis und „den Freund“ kaum Längen, sondern bleibt mörderisch spannend.

„20th Century Boys“erinnert gerade zu Beginn strak an Stephen Kings „Stand By Me“, wird dann aber zunehmend komplexer und „fantastischer“, ohne jedoch den geerdeten Realismus zu verlieren. Ein Spagat, der schwer zu beschreiben ist und noch viel schwerer zu meistern – und dennoch gelingt. Und alleine durch den stark westlich angehauchten Stil gehört „20th Century Boys“ auch in jedes Regal eines Manga-Muffels.

Die Deluxe Edition kommt nun nach großer Nachfrage bei Panini mit einer überarbeiteten Übersetzung daher und enthält sogar ein erweitertes Finale, das von Urasawa nachträglich gezeichnet wurde. Die Bände haben leichtes Überformat, sind jeweils über 400 Seiten stark und haben sogar einen schicken und festen Schutzumschlag.

Eine Leseprobe findet sich hier.

Naoki Urasawa: 20th Century Boys• Aus dem Japanischen von Josef Shanel & Matthias Wissnet • Panini, Stuttgart 2018 • 420 Seiten • 19,00€ • Empfohlen ab 14 Jahren

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Galatea und die Einsamkeit

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Mary Shelleys 1818 veröffentlichter Roman “Frankenstein; or, The Modern Prometheus“ ist vieles auf einmal, eine Art Ding, das nicht sein darf. Er gleicht diesbezüglich dem namenlosen Geschöpf, das die wahre Hauptfigur darin ist, obwohl der Titel zu versprechen scheint, dessen Schöpfer in den Mittelpunkt zu rücken. Das Wesen – in welchem sich E.M. Ciorans existenziales Bekenntnis „Vom Nachteil, geboren zu sein“ als Apotheose des sowohl blank Kreatürlichen als auch zutiefst Humanen versinnbildlicht – verdankt sein Leben zu gleichen Teilen menschlicher Hybris, dem Hunger nach Wundern und Magie sowie dem Ringen um Aufklärung und Fortschritt. Die Kreatur ist ein Flickwerk-Mann (so kindlich-unschuldig wie ungeheuerlich groß und kräftig, so grässlich-zerstörerisch wie reflektiert-empfindsam, als Entität ohne Eigenschaften in die Welt gezwungen und doch das einzigartigste aller Individuen) und in ihrer monströsen Hybridität beunruhigend anrührend: Wir bezeichnen Viktor Frankensteins Schöpfung für gewöhnlich als Monster, laut Leslie Fiedler unser ältestes Wort für menschliche Anomalien; dessen Ursprungswort ist das lateinische Verb „monstrare“, was „zeigen“, „hinweisen“ und „lehren“ heißt, während sich „monstrare“ wiederum von „monere“ ableitet, das „erinnern“, „(er)mahnen“, „warnen“, „raten“, „anweisen“, „zurechtweisen“ und „strafen“ bedeutet und mit „monstrum“ schließlich die widernatürliche Geburt und das göttliche Mahnzeichen gemeint sind. Alles passt. Im 200. Jubiläumsjahr lohnt es sich immer noch, der Frage nachzugehen, was Shelleys berühmtes Buch und ihr Monster uns zeigen und lehren, woran sie erinnern, wozu sie raten, wovor sie warnen wollen.

Und in der Tat ist dieses Werk vieles auf einmal, allein formal betrachtet: Briefroman- und Ich-Erzähler-Struktur greifen darin ineinander. Es markiert darüber hinaus die Geburt eines ganzen Genres, der Science-Fiction – zumindest begründet es nach allgemeiner Übereinkunft als Proto-SF eine Tradition, die sich erst eine ganze Weile später als eigenständige solche entwickeln wird. Der (rüstig in sein 200stes Jahr gelangte) Roman ist ein schauerromantischer Kanon-Klassiker nicht nur der englischsprachigen Horror-, sondern der Weltliteratur, überall auf der Welt in unzähligen Ausgaben greifbar. Er bildet eine zeitlose und tieftraurige Parabel auf die unabdingbare Einsamkeit der menschlichen Existenz. Des Weiteren hat kaum ein anderes Erzählwerk die populäre Kultur quer durch sämtliche Medien und Kunstformen in dieser Dauer und Breite mit Inspirationsmaterial versorgt, mag der prägnant kantige Schädel Boris Karloffs die von der ursprünglichen Schöpferin imaginierten Bilder auch seit 1931 in den Hintergrund gedrängt haben. Schließlich ist „Frankenstein“ der dunkle und feministische Traum, den eine sehr junge Frau, konkret: ein später Teenager (Mary Shelley, die Mutter der Science-Fiction, war 19 Jahre alt, als sie mit der Konzeption und Niederschrift des Romans begann) von sich selbst träumte, zu einer Zeit, in der Frauen – um es euphemistisch zu formulieren – ungern der Zugriff auf Schreibutensilien gestattet wurde.


Mary Shelley, 1840 gemalt von Richard Rothwell

Shelleys Vater William Godwin war ein der Anarchie anhängender Sozialphilosoph, ihre Mutter Mary Wollstonecraft eine Frauenrechtlerin, ihr Ehemann Percy ein romantischer Dichter und Atheist, ihre gewohnte Gesellschaft eine insgesamt künstlerisch-intellektuelle. So aufgeklärt und freiheitlich ihr unmittelbares Umfeld dementsprechend auch war: „Frankenstein“ erschien in England zunächst anonym, während auf dem Titelblatt der 1912 publizierten deutschen Erstausgabe lediglich der Nachname „Shelley“ prangt (deren Lesepublikum sollte also nicht wie das englische an keine Frau, sondern im Zweifel an ihren berühmten Gemahl denken). Mary Shelley war, wie es Guillermo del Toro formuliert, eine moderne Galatea in einer Welt von Pygmalions, allerdings eine Galatea, die lauter und heller sang sowie entschieden forderte, dass die vielen aufdringlich formenden (männlichen) Hände sie losließen.

Del Toros liebevoll-empathische Mythos-Metapher entstammt seinem Vorwort zu einer nicht ganz taufrischen, aber mit ihrer Veröffentlichung im Jahr 2017 dennoch im Rahmen der diesjährigen runden Geburtstagsfeierlichkeiten verbleibenden (originalsprachigen), neuen „Frankenstein“-Ausgabe. Eine solche wäre angesichts der Menge an – auch üppig kommentierten bzw. historisch-kritischen – Buchversionen nichts, auf das hinzuweisen sich nachdrücklich lohnte, und es ist außerdem sattsam bekannt, welch prägende Rolle der Roman in Leben und Werk des bibliophilen Regisseurs von „Pans Labyrinth“ (2006), „Crimson Peak“ (2015) oder „Shape of Water – Das Flüstern des Wassers“ (2017) spielt. In unserem besonderen Fall genügt jedoch der Name des Herausgebers, um nicht nur zu ahnen, sondern genau zu wissen, die vielleicht nicht einsam beste, aber garantiert buchgestalterisch-haptische Maßstäbe setzende und hinsichtlich lehrreicher Vergnüglichkeit bislang ultimative Edition in die Hände zu bekommen. Mit diesem „Frankenstein“-Klotz (gerade noch klein genug, um die Grenzen der Griffigkeit nicht zu sprengen) setzt Leslie S. Klinger seine The-New-Annotated-Serie fort und verpasst dem „only entirely human-created, datable myth describing the origin of mankind“ (aus dem Nachwort von Anne K. Mellor, S. 279) ein extrem vorteilhaftes Erscheinungsbild, wie er es zuvor schon mit „Sherlock Holmes“, „Dracula“ oder dem Werk H.P. Lovecrafts tat.

Der Romantext bildet die Mittelkolumne und wird links, rechts, oben und unten von knapp eintausend Anmerkungen (die auch sämtliche Abweichungen der von Shelley überarbeiteten 1831er Neuausgabe gegenüber dem 1818er Original berücksichtigen) sowie circa zweihundert Illustrationen gerahmt. Hinzu kommen del Toros Vorwort, eine ausführliche und äußerst instruktive Einleitung Klingers, das Nachwort Mellors, eine ausführliche Bibliographie und schließlich sechs Appendizes (etwa ein Kurzessay Percy Bysshe Shelleys zu „Frankenstein“ oder eine kommentierte Präsentation sämtlicher Filme, die unmittelbar auf das Werk Bezug nehmen). Dank dieser alles andere als trockenen Blüten der Gelehrsamkeit (die Edition genügt wissenschaftlichen Standards, funktioniert aber dabei in erster Linie lesefreundlich, was viel mit Klingers Fähigkeit, enormes Wissen und originelle Einfälle in einer entspannter Erzählkunst nahen und akademischem Jargon fernen Sprache zu artikulieren, zu tun hat; dergleichen scheint den Angelsachsen generell leichter zu fallen) bedeutet die Lektüre keinesfalls ein strapaziöses literaturwissenschaftliches Studium in nuce; stattdessen steigt die Zugänglichkeit immens, denn dass es bei einem Roman des frühen 19. Jahrhunderts Hürden und Sperrigkeiten zu nehmen gilt, steht außer Frage.

Der Verfasser dieser Buchempfehlung las „Frankenstein“ wegen seines ausgeprägten Horror-Faibles erstmals im Alter von 13 oder 14 und kümmerte sich in den Folgejahren nicht die Bohne darum, von wem eigentlich dieser aus der Art geschlagene, einigermaßen unvergleichliche Roman stammt. Seriöse Ansätze zur Exegese literarischer Texte warnen nicht ohne Grund davor, selbige stur autobiographisch zu lesen. Bei Mary Shelleys protomodernem Mythos vom Monströsen als Ursprung des Menschlichen tauchen, und eben dies demonstriert Leslie S. Klingers Edition eindrucksvoll wie nie, Forschungen in die oben angerissenen Richtungen das Buch von diversen Seiten in neue Lichter. Der Spaß an der Sache (die ja, so man lediglich ihre populärkulturellen Verzweigungen kennt, durchaus fordernd daherkommt), die Erleuchtung, die Bewunderung und die Empathie für Shelley und ihr unsterbliches Geschöpf wachsen. „All art is self-portraiture. All storytelling is autobiography”, schreibt Guillermo del Toro einleitend in seinem Vorwort. Ihm, dem sentimentalen Genre-Auteur, hat sich maßgeblich durch „Frankenstein“ der Zugang zur eigenen Persönlichkeit und zu seiner Kunst erschlossen. Warum das so ist und wie man das nachmachen kann, erklärt Klingers „New Annotated Frankenstein“ besser als je zuvor.

Mary Shelley: The New Annotated Frankenstein• Edited with a Foreward & Notes by Leslie S. Klinger • Introduction by Guillermo del Toro • W.W. Norton & Company, New York • Hardcover • 352 Seiten • ca. $ 35,-

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Die Freiheit hat ihren Preis

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Mit seiner „Schiffsdiebe“-Trilogie (im Shop)feierte der amerikanische Autor Paolo Bacigalupi international große Erfolge. Nun ist mit „Tool“ (im Shop)der dritte und letzte Band der Science-Fiction-Saga erschienen, in dem uns Paolo Bacigalupi wieder in seine faszinierende Zukunftswelt entführt. Tool lebt in einem Land, das früher einmal Amerika war. Doch nach Klimakatastrophen und Bürgerkriegen ist dort nichts mehr, wie es einmal war. Auch Tool ist kein normaler junger Mann, sondern ein Halbmensch, dessen DNA mit der von Raubkatzen gekreuzt wurde, um ihn zu einer perfekten Killermaschine im Dienste des Systems zu machen. Doch Tool kann entkommen und entdeckt etwas, von dem er niemals hätte erfahren dürfen: den freien Willen. Er schließt sich einer Gruppe von Rebellen an, steigt schließlich sogar zu ihrem Anführer auf und verschreibt sein Leben dem Kampf gegen die Ungerechtigkeit. Anbei stellen wir Ihnen eine erste Leseprobe des Romans zur Verfügung.

 

Tool lauschte mit gespitzten Ohren auf die fernen Schüsse, das ungezwungene Geplauder der Versunkenen Städte.

Es war eine polyglotte Sprache, doch Tool verstand alle Stimmen. Die scharfen Ausrufe von AK-47- und M-16-Sturmgewehren. Das primitive Gebrüll der Kanonen Kaliber 12 und 10. Das gebieterische Knallen der Jagdgewehre Kaliber 30–06 und das Ploppen der .22er. Und natürlich auch das sich nähernde Schrillen der 999er, die Stimme, die alle Sätze mit ihrer dröhnenden Interpunktion abschloss.

Es war eine vertraute Unterhaltung, die hin und her wogte – Frage und Antwort, Herausforderung und Erwiderung –, doch im Laufe der vergangenen Wochen hatte sich ihr Charakter verändert. Immer häufiger sprachen die Versunkenen Städte ausschließlich die Sprache Tools. Den Kugeldialekt seiner Truppen, den Gefechtsslang seines Rudels.

Der Krieg wütete weiter, doch die Stimmen verschmolzen zu einem einzigen harmonischen Triumphgeheul.

Natürlich gab es auch noch andere Geräusche, und Tool hörte sie alle. Selbst im Atrium seines Palasts, weit entfernt von der Front, konnte er den Kriegsverlauf verfolgen. Mit seinen großen Ohren hörte er besser als ein Hund, und sie waren stets aufgestellt, offen und empfänglich, und verrieten ihm vieles, das Menschenohren verborgen blieb, so wie auch seine übrigen Sinne mehr wahrnahmen als die Sinne der Menschen.

Er wusste, wo seine Soldaten standen. Er witterte jeden einzelnen. Er erspürte ihre Bewegungen mittels der Luftströmungen, die sein Fell und seine Haut berührten. In der Dunkelheit konnte er sie sehen, denn seine Augen waren empfindlicher als die einer Katze in finsterer Nacht.

Die Menschenwesen, die er anführte, waren blind und taub für die meisten Dinge, doch er leitete sie an und bemühte sich, sie in etwas Nützliches zu verwandeln. Er hatte seinen Menschenkindern das Sehen, Riechen und Hören beigebracht. Er hatte sie gelehrt, sich ihrer Augen, Ohren und Waffen zu bedienen, damit sie kämpften wie Reißzähne, Klauen und Fäuste. Einheiten. Züge. Kompanien. Bataillone.

Eine Armee.

Durch die Lücke in der geborstenen Kuppel seines Palasts sah Tool die Bäuche der Gewitterwolken, orangefarben angeleuchtet von den wütenden Bränden, die den letzten verzweifelten Versuch der Gottesarmee begleiteten, das Vorrücken seiner Truppen aufzuhalten, indem sie eine Frontlinie der Selbstzerstörung zogen.

Donner grollte. Blitze durchzuckten die Wolken. Ein Sturm braute sich zusammen, der zweite in ebenso vielen Wochen, doch auch er würde die Gottesarmee nicht retten können.

Hinter Tool näherte sich jemand über die marmornen Flure. Der humpelnde Gang und das Schleifen der Füße verrieten, dass es Stub war. Tool hatte den Jungen in den Kommandostab befördert, weil er hart, aufgeweckt und klug war und seine Tapferkeit beim Sturm der Barrikaden auf der K Street unter Beweis gestellt hatte.

Koolkat hatte den Angriff geleitet, als die Gottesarmee durchzubrechen und die damals noch fragile Hoffnung zu zerstören drohte, und war dabei ums Leben gekommen. Neben ihm hatte Stub einen Fuß verloren, als er auf eine Mine getreten war, doch er hatte das Bein abgebunden, sich weiter vorwärtsgeschleppt und seine Kameraden nach dem Tod ihres Befehlshabers angefeuert. Wildentschlossen, engagiert und tapfer.

Ja, es war Stub – das waren sein Geruch und sein Gang –, doch da war noch etwas anderes – der Geruch von gerinnendem Blut, dem Vorboten von Aas.

Stub wollte Meldung erstatten.

Tool schloss sein gutes Auge und atmete in tiefen Zügen. Er genoss den Duft und den Moment – den beißenden Gestank von Schießpulver, das Donnergrollen und die drückende Schwüle des heraufziehenden Unwetters, den Ozongeruch, den die Blitze erzeugten. Er atmete tief ein, versuchte den Augenblick des Triumphs in seinem Bewusstsein zu verankern.

So viele Erinnerungen waren bruchstückhaft, in Kriegen und Gewalt verloren gegangen. Seine persönliche Geschichte war ein kaleidoskopisches Durcheinander von Bildern, Gerüchen und aufgewühlten Emotionen, vereinzelten Explosionen der Freude und des Grauens, vieles davon blockiert und inzwischen unzugänglich. Dieses Mal aber – dieses eine Mal – wollte er sich den Moment in seiner Gesamtheit einprägen. Ihn schmecken, riechen und hören. Bis er ihn ganz ausfüllte, ihm das Rückgrat straffte, ihn hoch aufrichtete. Bis er seinen Muskeln Kraft verlieh.

Triumph.

Der Palast, in dem er sich befand, war eine Ruine. Einst war er prachtvoll gewesen mit seinen Marmorböden, seinen majestätischen Säulen, seinen alten, meisterlich ausgeführten Ölgemälden, und überblickte dank der zerbombten Mauer die Stadt, um die er kämpfte. Er konnte bis zum Meer sehen, das gegen die Eingangstreppe schwappte. Der Regen drang ein und bildete Pfützen auf dem Boden. Fackeln flackerten in der Feuchte und ermöglichten es den Menschen, einen Hauch dessen zu sehen, was Tool ohne fremde Hilfe wahrnahm.

Eine traurige Ruine, und doch ein Ort des Triumphs.

Stub wartete respektvoll.

»Du hast Neuigkeiten«, sagte Tool, ohne sich umzudrehen.

»Ja, Sir. Sie sind erledigt. Die Gottesarmee – sie ist besiegt.«

Tools Ohren zuckten. »Weshalb höre ich dann noch immer Gewehrfeuer?«

»Die Soldaten räumen noch auf«, antwortete Stub. »Der Gegner begreift nicht, dass er geschlagen ist. Er ist dumm, aber zäh.«

»Du glaubst wirklich, dass sie besiegt sind?«

Der Junge schnaubte. »Also, das soll ich Ihnen von Perkins und Mitali geben.«

Tool wandte sich um. Stub hob den Gegenstand in seiner Hand hoch.

General Sachs’ abgetrennter Kopf schaute mit blinden Augen auf die Umgebung. Ohne den Körper wirkte er verloren. Der Gesichtsausdruck war irgendwo zwischen Bestürzung und Entsetzen erstarrt. Das grüne Schutzkreuz, das der Warlord sich auf die Stirn gemalt hatte, war mit Blut verschmiert.

»Ah.« Tool nahm den Kopf entgegen und wog ihn in der Hand. »Der Eine Wahre Gott hat ihn offenbar nicht gerettet. War also doch kein Heilsbringer.«

Schade, dass er nicht dabei gewesen war und die Gelegenheit versäumt hatte, dem Mann das Herz aus der Brust zu reißen und es zu verspeisen. Sich von seinem Feind zu nähren. Der Wunsch danach war stark. Dieser Triumph aber war den Klauen vorbehalten. Er war jetzt General und sandte Fäuste, Klauen und Reißzähne in die Schlacht, so wie er einst entsandt worden war, und deshalb entgingen ihm der Adrenalinstoß des Gefechts und das warme Blut des Gemetzels, das lustvoll in seinen Mund spritzte …

Tool seufzte bedauernd.

Es passt nicht zu deiner Rolle, dem Gegner den Todesstoß zu versetzen.

Eine kleine Freude aber war ihm geblieben: als General einem anderen General in die Augen zu blicken und die Kapitulation entgegenzunehmen.

»›Wider die Natur‹, hast du einmal zu mir gesagt«, murmelte Tool.

»›Ein Scheusal‹.« Er hielt den Kopf höher und blickte in Sachs’ entsetzte Augen. »›Der zusammengeflickte Frankenstein, der nicht mal stehen kann‹. Und natürlich hast du mich als ›Gotteslästerung‹ bezeichnet.«

Tool bleckte zufrieden die Zähne. Der Mann hatte die Wahrheit geleugnet bis zuletzt, hatte sich für ein Kind Gottes gehalten, erschaffen nach dem Ebenbild Gottes, vom Himmel beschützt vor solchen wie Tool. »Offenbar hat der Eine Wahre Gott die ›Gotteslästerung‹ begünstigt.«

Selbst jetzt noch meinte Tool, einen Schimmer von Verleugnung in den Augen des Generals zu erkennen. Die heulende Wut über die Ungerechtigkeit, gegen ein Wesen kämpfen zu müssen, das schneller, intelligenter und zäher erschaffen worden war als der arme menschliche Warlord, der geglaubt hatte, er sei gesegnet.

Dieser einfache Mann hatte nicht wahrhaben wollen, dass Tool für das Ökosystem der Schlacht optimiert worden war. Tools Götter hatten sich mehr für die moderne Kriegsführung interessiert als der Gegenstand der Anbetung dieses erbärmlichen Mannes. So war das eben mit der Evolution und der Konkurrenz. Der eine entwickelte sich weiter; der andere starb aus.

Andererseits war Evolution noch nie die Stärke des Generals gewesen.

Manche Spezies sind die geborenen Verlierer.

Ein gewaltiger Donner erschütterte den Raum. Tools 999er. Der Palast wurde bis auf die Grundfesten erschüttert.

Stille legte sich über die Stadt.

Und blieb dort.

Stub schaute verwundert zu Tool auf. Tools Ohren zuckten, lauschten. Nichts. Kein Gewehrfeuer. Keine Granatwerfer. Tool spannte seine Sinne an. Die Luft war wie elektrisch aufgeladen, als wartete alles darauf, dass das Wüten weiterging – doch in den Versunkenenden Städten herrschte endlich Stille.

»Es ist vorbei«, murmelte Stub ehrfurchtsvoll. Und mitkraftvollerer Stimme sagte er: »Die Versunkenen Städte gehören Ihnen, General.«

Tool lächelte den Jungen freundlich an. »Sie waren schon immer mein.«

Ringsumher hatten die jungen Angehörigen von Tools Kommandostab mit der Arbeit innegehalten. Einige verharrten mitten in der Bewegung. Auch sie lauschten und warteten auf die nächste Runde der Gewalt, doch sie hörten nur Frieden.

Frieden. In den Versunkenen Städten.

Tool holte tief Luft und schwelgte im Augenblick, dann hielt er inne und runzelte die Stirn. Seltsamerweise rochen seine Soldaten nicht nach Sieg, sondern nach Angst.

Er fasste Stub in den Blick. »Was hat das zu bedeuten, Stub?«

Der Junge zögerte. »Wie geht es jetzt weiter, General?«

Tool blinzelte.

Wie geht es weiter?

Tool sah das Problem. Wie er so seinen Kommandostab musterte – seine besten, klügsten Leute, die Elite –, lag es offen zu Tage. Ihre Gesichter und ihr Geruch verrieten alles. Stub, der Tapfere, der weiterkämpft hatte, obwohl er den Fuß verloren hatte. Sasha, sein Fausthandschuh, der selbst die unerschrockensten Rekruten einschüchterte. Alley-O, der ein so tüchtiger Schachspieler war, dass Tool ihn in den Stab aufgenommen hatte. Mog und Mote, die blonden Zwillinge, die die Blitzklauen lenkten, mutig und tapfer, fintenreich unter Feuer.

Diese jungen Menschen waren klug genug, um den Unterschied zwischen kalkuliertem Risiko und Tollkühnheit zu erkennen, dabei waren sie noch keine zwanzig Jahre alt. Einige hatten noch Flaum im Gesicht, und Alley-O war gerade mal zwölf …

Sie sind Kinder.

Die Warlords der Versunkenen Städte hatten die formbaren Talente der Jugend stets zu schätzen gewusst. Wilde Loyalität war eine typische Eigenschaft von Kindern; ihr Wunsch nach einer konkreten Aufgabe war leicht zu formen. Alle Soldaten der Versunkenen Städte waren in jungen Jahren rekrutiert und mit Ideologien und absoluten Wahrheiten indoktriniert worden, die ohne Schattierungen und Perspektive auskamen. Es gab nur Richtig und Falsch, Verräter und Patrioten. Gut und Böse. Eindringlinge und Einheimische. Ehre und Loyalität.

Rechtschaffenheit.

Flammende Rechtschaffenheit ließ sich bei jungen Menschen leicht kultivieren, deshalb gaben sie ausgezeichnete Waffen ab. Sie waren perfekte fanatische Mordwerkzeuge, geschärft durch die Beschränktheit ihrer Auffassung von der Welt.

Gehorsam bis in den Tod.

Tool war von Militärwissenschaftlern erschaffen worden, um sklavisch zu dienen. Man hatte ihm die DNS unterwürfiger Spezies eingepflanzt, ihm mit genetischen Kontrollmechanismen und unerbittlichem Training blinden Gehorsam eingeprägt, doch seiner Erfahrung nach waren junge Menschen weit leichter zu formen. Im Grunde waren sie gehorsamer als Hunde.

Wenn sie frei sind, bekommen sie Angst.

Was jetzt?

Tool blickte finster auf General Sachs’ Kopf nieder, den er noch immer in der Hand hielt. Was tat ein Schwert, wenn all seine Gegner enthauptet waren? Welchen Nutzen hatte eine Waffe, wenn es keinen Gegner mehr gab, auf den man sie abfeuern konnte? Welche Aufgabe blieb dem Soldaten, wenn der Krieg vorbei war?

Tool reichte Stub die blutige Trophäe zurück. »Leg das zum Rest.«

Stub nahm den Kopf behutsam entgegen. »Und dann?«

Tool hätte ihn am liebsten angeschrien: Mach dein Ding! Errichte deine eigene Welt! Ihr habt mich erschaffen! Weshalb sollte ich euch Aufbauhilfe leisten?

Doch das war ein unfreundlicher Gedanke. Sie waren nun mal so. Sie waren auf Gehorsam getrimmt und hatten darüber die Orientierung verloren.

»Wir werden die Städte wieder aufbauen«, sagte Tool schließlich.

Erleichterung zeichnete sich in den Mienen der jungen Soldaten ab. Wieder einmal waren sie vor der Ungewissheit errettet worden. Ihr Kriegsgott war bereit, sich der erschreckenden Herausforderung des Friedens zu stellen.

»Informiert die Truppen. Unsere neue Aufgabe ist der Wiederaufbau.« Tool hob die Stimme. »Die Versunkenen Städte gehören jetzt mir. Dies ist … mein Königreich. Ich werde dafür sorgen, dass es gedeiht. Das ist jetzt unsere Mission.«

Noch während diese Worte aussprach, fragte sich Tool, ob das überhaupt machbar war.

Er konnte mit seinen Klauenhänden Fleisch zerfetzen, er konnte mit einem Gewehr Menschen niedermähen, er konnte Knochen mit den Zähnen zu Staub zermahlen. Mit einer Faust von Konstrukten konnte er in ein Land eindringen, eine fremde Küste mit Mord und Totschlag überziehen und siegreich daraus hervorgehen – wie aber stand es mit dem Krieg des Friedens?

Was war von einem Krieg zu halten, in dem niemand starb, und von Siegen, die bemessen wurden nach vollen Bäuchen, warmen Feuern und …

Ernteerträgen?

Tool bleckte seine Tigerzähne und knurrte angewidert.

Stub wich eilig zurück. Tool bemühte sich, seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu bringen.

Töten war einfach. Jedes Kind konnte ein Killer werden. Aber das Pflügen von Feldern? Säen und Ernten? Wo waren die Menschen, die sich darauf verstanden? Wo waren die Menschen, die wussten, wie man Dinge mit Geduld und Ausdauer bewerkstelligte?

Sie waren tot. Oder geflohen. Die Klügsten waren längst verschwunden.

Er würde eine ganz andere Art von Kommandostab brauchen. Er musste irgendwie Ausbilder herbeischaffen. Experten. Eine Faust von Menschen, die sich nicht auf den Tod verstanden, sondern auf das Leben …

Tool stellte die Ohren auf.

Die sanfte Stille der Versunkenen Städte im Frieden schuf Raum für ein neues Geräusch. Eine Art Pfeifen, hoch in der Luft.

Ein erschreckendes Geräusch, verknüpft mit fernen Erinnerungen.

Vertraut.

 

Paolo Bacigalupi: „Tool“∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Norbert Stöbe ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2018 ∙ 384 Seiten ∙ Preis des E-Books € 9,99 (im Shop)

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Morgen ist sie endlich da, die gruseligste Nacht des Jahres! Aber muss man bei dem Wetter wirklich vor die Tür, um mit Hexen, Vampiren und Zombies zu feiern? Die Antwort lautet selbstverständlich Nein: Wozu gibt es Bücher, mit denen man sich morgen Abend unter einer Decke verkriechen und sich Gänsehaut bescheren lassen kann? Hier sind die drei gruseligsten Science-Fiction-Horror-Romane in unserem Shop, die Sie an Halloween besser unterhalten als jedes noch so schaurige Kostümfest:

 

John Wyndham: „Es geschah am Tage X“

Beginnen wir diese Liste mit einem Klassiker: John Wyndhams Roman um ein ganz normales englisches Dorf, in dem plötzlich nichts mehr so ist, wie es einmal war. In der Nacht vom 26. auf den 27. September geschieht in dem kleinen, verschlafenen Örtchen Midwich in Großbritannien etwas Unglaubliches: die Telefonleitungen funktionieren nicht mehr, Busse, die durch den Ort fahren sollten, kehren nicht zurück, und die RAF meldet ein unbekanntes fliegendes Objekt. Doch niemand kann sich am nächsten Tag erinnern, was genau passiert ist. Erst Monate später machen die Frauen und Mädchen in Midwich eine erschreckende Entdeckung: Sie sind alle schwanger. Die Kinder, die sie zur Welt bringen, haben seltsame goldene Augen und verhalten sich sehr merkwürdig. Ihre Eltern bekommen es mit der Angst zu tun – völlig zu recht … Die Geschichte wurde mehrfach verfilmt, zuletzt von John Carpenter unter dem Titel „Das Dorf der Verdammten“, und ist bis heute ein Gänsehaut-Garant!

John Wyndham: Es geschah am Tage X• Roman • Aus dem Englischen von Gisela Stege • Wilhelm Heyne Verlag, München 2016 • E-Book • € 2,99 • im Shop

 

Thomas Olde Heuvelt: „Hex“

In dieser Liste darf das Gruseligste, was ich die letzten Jahre gelesen habe, nicht fehlen: „Hex“ von Thomas Olde Heuvelt. Black Spring ist ein beschauliches Städtchen im idyllischen Hudson Valley. Hier gibt es Wälder, hier gibt es Natur - und hier gibt es Katherine, eine dreihundert Jahre alte Hexe, die den Bewohnern von Black Spring gelegentlich einen kleinen Schrecken einjagt. Dass niemand je von Katherine erfahren darf, das ist dem Stadtrat von Black Spring schon lange klar, deshalb gelten hier strenge Regeln: kein Internet, kein Besuch von außerhalb oder Katherines Fluch wird sie alle treffen. Als die Teenager des Ortes jedoch eines Tages genug von den ständigen Einschränkungen haben und ein Video der Hexe posten, bricht in Black Spring im wahrsten Sinne des Wortes die Hölle los … Ich musste nach „Hex“ Nachts das Licht anlassen und habe mich mehrfach vor meinem eigenen Spiegelbild erschreckt. Nicht, dass es hinterher heißt, ich hätte Sie nicht vor diesem Buch gewarnt!

Thomas Olde Heuvelt: Hex• Roman • Aus dem Amerikanischen von Julian Haefs • Wilhelm Heyne Verlag, München 2017 • Paperback oder E-Book • Preis des E-Books: € 9,99 • im Shop

 

George R. R. Martin: „Nachtgleiter“

Diese Novelle sollte spätestens seit der Ankündigung, dass sie als TV-Serie adaptiert wird, bei jedem Martin-, Horror- und SF-Fan auf der Leseliste stehen: „Nachtgleiter“ von George R. R. Martin. Karoly d’Branin träumt sein ganzes Leben lang davon, Kontakt zu den Volcryn aufzunehmen. Diese Aliens, die in nahezu allen Kulturen der Galaxis auftauchen, reisen in gigantischen Sternenschiffen durch das Universum, ohne Anzuhalten. Niemand weiß, wer die Aliens sind, niemand kennt ihre Ziele und Absichten. D’Branin schart ein kleines Team aus Spezialisten um sich und chartert die Nachtgleiter, um die Volcryn aufzuspüren. Doch an Bord kommt es immer wieder zu Zwischenfällen – die zunehmend tödlich enden. Erstreckt sich der Einfluss der Volcryn über das Vakuum hinweg bis auf ihre Verfolger? Oder steckt Royd Eris, der geheimnisvolle Kapitän der Nachtgleiter, hinter den Vorfällen? Dass „Nachtgleiter“ im Fernsehen sehr gruselig werden wird, steht nach den Trailern und Teasern außer Frage. Und die Vorlage steht dem in Nichts nach!

George R. R. Martin: Nachtgleiter. In: Traumlieder II • Anthologie • Aus dem Amerikanischen von Maike Hallmann • Wilhelm Heyne Verlag, München 2015 • 140 Seiten • erhältlich als E-Book oder gedrucktes Buch • Preis des E-Books: € 11,99 • im Shop

Lust auf noch mehr Horror? Weitere Schauergeschichten finden Sie in unserem Shop.

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„Psycho“ trifft „Event Horizon“

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Ehe er sich nach Westeros begab, ja, lange bevor er die komplexe Geschichte hinter „A Song of Ice and Fire“ und der dazugehörigen TV-Serie „Game of Thrones“ entwickelte, hielt George R. R. Martin sich lange im Weltraum auf. „Die 1000 Welten“ ist sein ganz eigenes Universum, in dem er Geschichten wie die um Haviland Tuf („Planetenwanderer“, im Shop) ansiedelte. Diesem Universum entspringt auch die „Nachtgleiter“ (im Shop), ein Schiff, dessen Geschichte jetzt als TV-Serie adaptiert wurde. Die erste Version dieser Geschichte erschien 1980 als Novelle in der Zeitschrift Analog und gewann den Locus Award; ein Jahr später verlängerte Martin sie für eine Anthologie. Es folgte eine Verfilmung, die laut Martin „so herausragend war, dass der Regisseur auf seine namentliche Nennung verzichtete“. Die neue Serie startet im Dezember in den USA, in Deutschland wird sie auf Netflix zu sehen sein (allerdings gibt es bis jetzt noch keinen deutschen Starttermin), und ja, die Regisseure sind namentlich erwähnt!

Die Trailer und Teaser, die wir bisher gesehen haben (hier, hier und hier zu finden), lassen vermuten, dass sich zwar die Prämisse geändert hat, unter der die Nachtgleiter aufbricht, nicht jedoch der allem zugrunde liegende Horror. In der Serie bricht die Nachtgleiter von der Erde auf, um Kontakt mit einem Alien-Objekt aufzunehmen, das am Sonnensystem vorbei fliegt und sich als mögliche letzte Rettung für die Menschen, von ihrem zerstörten Heimatplaneten zu entkommen, erweisen könnte. Im Kurzroman hingegen chartert ein Team von Spezialisten unter Karoly d‘Branin in der fernen Zukunft das Schiff, um Kontakt zu den geheimnisvollen Volcryn aufzunehmen. Diese Wesen sind einst von einem unbekannten Planeten im Zentrum unserer Galaxis aus gestartet und seit Jahrmillionen zu ihrem Rand unterwegs. Dabei haben sie immer wieder Planetensysteme durchquert und Eingang in die Legenden der Völker gefunden, die dort leben:

»Die Fyndii nennen sie iy-wivii, was übersetzt etwa so viel heißt wie freie Horde oder auch dunkle Horde. Jede Fyndii-Horde erzählt die gleiche Geschichte, nur die Geistesstummen glauben nicht daran. Die Schiffe sollen unermesslich riesig sein, weit größer als alles, was in ihrer oder unserer Geschichtsschreibung jemals bezeugt wurde. Es heißt, sie seien Kriegsschiffe. Es wird von einer Fyndii-Horde berichtet, dreihundert Schiffe unter rala-fyn, die bei einer Begegnung mit einem Schiff der iy-wivii sämtlich zerstört wurden. Das trug sich vor vielen Tausend Jahren zu, deshalb sind die Einzelheiten natürlich verloren gegangen.

Die Damoosh erzählen etwas anderes, aber sie betrachten es nicht als Geschichte, sondern als unzweifelhafte Wahrheit – und die Damoosh sind bekanntlich die älteste Rasse, der wir bisher überhaupt begegnet sind. Meine Volcryn heißen bei ihnen die aus der Leere. Wunderbare Geschichten, Royd, wunderbar! Schiffe wie große, düstere Städte, lautlos, stumm, die einem langsameren Rhythmus folgen als das restliche Universum. Den Legenden der Damoosh zufolge sind die Volcryn Flüchtlinge eines unvorstellbaren Kriegs tief im Herzen der Galaxis, der sich zu Anbeginn aller Zeiten ereignete. Sie ließen die Welten und Sterne zurück, die sie hervorgebracht hatten, und suchten in der Leere dazwischen nach wahrem Frieden.

Bei den Gethsoiden von Aath findet sich eine ähnliche Geschichte, aber laut ihrer Legende löscht jener Krieg alles Leben in unserer Galaxis aus, und die Volcryn sind eine Art Götter, die auf den Welten, an denen sie vorüberkommen, neues Leben säen. Andere Rassen betrachten sie als göttliche Boten oder auch als Schatten, die aus der Hölle geflohen sind und uns alle vor unaussprechlichem Schrecken warnen, die bald aus dem Inneren der Galaxis hervorbrechen werden.«

»Ihre Geschichten sind widersprüchlich, Karoly.«

»Ja, ja, das sind sie natürlich, aber sie alle stimmen in den Kernpunkten überein – die Volcryn befinden sich auf dem Weg aus dieser Galaxis hinaus, treiben weit unter Lichtgeschwindigkeit in ihren uralten, unzerstörbaren Schiffen der verfänglichen Pracht unserer kurzlebigen Reiche vorbei. Darum geht es, um nichts anderes! Der Rest ist Firlefanz, Ausschmückung; bald werden wir wissen, was davon stimmt. Ich habe auch die spärlichen Daten über Völker mit einbezogen, deren Existenz nicht als gesichert gilt, deren Heimatwelten in noch weiterer Ferne liegen als die der NorT’alusch – Zivilisationen und Völker, die ihrerseits als legendär gelten –, und wo immer ich etwas fand, fand ich auch stets die Volcryn-Geschichte.«

Allerdings haben Karoly d’Branin und seine Mannschaft die Rechnung ohne den Wirt – will sagen: den Kapitän der Nachtgleiter– gemacht. Royd Eris lebt zurückgezogen in seiner Hälfte des Schiffes, seinen Passagieren erscheint er nur in Form eines Hologramms. Zu Beginn der Reise akzeptiert das Forscherteam das noch, doch je näher sie den Volcryn kommen, desto merkwürdigere Zwischenfälle passieren an Bord, bis es schließlich sogar zu Todesfällen kommt. Während die einen vermuten, dass die Volcryn, denen seltsame, übernatürliche Fähigkeiten zugeschrieben werden, dahinterstecken, glauben andere, dass die Erklärung sehr viel naheliegender ist – und Royd Eris Licht ins Dunkel bringen könnte. Und so wird aus einer Space Opera und der Suche nach den gottgleichen, legendären Volcryn nach und nach eine handfeste Horrorgeschichte.

Science-Fiction und Horror – geht das zusammen? Schließlich arbeiten Horrorgeschichten mit dem Unerklärbaren, während in der SF gilt, dass es für alles, und sei es noch so mysteriös, letztendlich eine rationale, wissenschaftliche Erklärung gibt. In seinem Vorwort zu „Nachtgleiter“ schreibt Martin, dass er als Kind einen Chemiebaukasten besessen hätte, und wie viele andere Kinder sich nie an die Anleitung gehalten hätte. Es sei einfach viel spannender gewesen, dies mit jenem zusammenzumischen und zu sehen, ob sich so etwas herstellen ließ, das blubberte, schäumte oder vielleicht sogar explodierte. Später habe er dasselbe mit Genres gemacht, und eines der Ergebnisse sei „Nightflyers“ gewesen. Ob das nun blubbert, schäumt oder gar explodiert, kann jeder nach der Lektüre selbst entscheiden.

George R. R. Martin: Nachtgleiter. In: Traumlieder II • Storysammlung • Aus dem Amerikanischen von Maike Hallmann • Wilhelm Heyne Verlag, München 2015 • S. 263-403 • erhältlich als E-Book oder gedrucktes Buch • Preis des E-Books: € 11,99 • im Shop

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Nostalgische Liebesgrüße vom Planeten Mongo

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Flash Gordon ist so viel mehr als ein bunter Science-Fiction-Trashfilm aus den frühen 1980ern. Der athletische blonde Held, der als Antwort auf den allerersten Weltraum-Comicrecken Buck Rogers entstand, zählt zu den archetypischsten Science-Fiction-Heroen in den Unendlichen Weiten und prägte ab Januar 1934 speziell die SpaceFantasy, die in visuellen Medien davor so gut wie nicht stattgefunden hatte. Die frühen Verfilmungen des „Flash Gordon“-Zeitungscomicstrips von Autor und Zeichner Alex Raymond (1909–1956) inspirierten dabei nicht nur George Lucas zu seinem Krieg der Sterne in „Star Wars“ – der ursprüngliche Comic beeinflusste zudem viele nachfolgende Künstler und bestimmte den Look und die Entwicklung amerikanischer Bildergeschichten. Bei Hannibal Kult startete mit „Auf dem Planten Mongo“ im Oktober eine deutschsprachige Werkausgabe des klassischen SF-Comics, die Alan Tepper mit viel Enthusiasmus übersetzt und koordiniert.


Alex Raymond

Alex Raymond, der seit seiner Kindheit nicht minder enthusiastisch zeichnete und zwischenzeitlich an der Wall Street gearbeitet hatte, brauchte ab dem 7. Januar 1934 gerade einmal zwei seiner in der Regel wöchentlich erscheinenden Panel-Episoden, um den mutigen Polospieler Flash Gordon, die schöne Dale Arden und den verschrobenen Wissenschaftler Dr. Hans Zarkov auf den exotischen Planeten Mongo zu bringen. Raymond wusste genau, wo die Action zu finden war. Auf Mongo warten immerhin Ming der Grausame als boshafter gelber Diktator und Vater einer passend egozentrischen Tochter, drachenartige Ungeheuer, geflügelte Krieger, trügerische Unterwasserwelten, stolze Löwenmenschen, gefährliche Wälder, Ritterspiele und Hightech-Kriegsgeräte im Kontrast, eine gemeine Hexenkönigin und vieles mehr. Ungeachtet des fantastischen Sandkastens, den Mongo Raymond bot, sollte man nicht zwanghaft versuchen, den wilden Weltraumabenteuernaus einer anderen Ära der SF und des Comicsnachträglich zu viel zeitlosen Charme anzudichten, denn genau den besitzt der Stoff um den Überhelden nur bedingt. Besonders am Anfang kommen die Geschichten ganz schön naiv daher. Das dürfte für Leser, die sich in der Rückschau mit dem so genannten Golden Age des US-Comics beschäftigen, freilich nichts Neues sein. Gleichzeitig muss man aber auch nicht zu sehr auf der erzählerischen Einfachheit oder dem politischen, sexistischen bzw. rassistischen Subtext herumreiten – wie die geradlinigen Figuren und Storys, war dieser heute schief wirkende Kontext schlichtweg ein Produkt der Paramater seiner Zeit. So oder so ergaben Flashs häppchenweise servierte Abenteuer damals die perfekte Mischung für eine erstaunlich vielfältige Zielgruppe, die ihrer wöchentlichen Dosis Flash Gordon Science-Fiction auf den farbigen Comic-Sonntagsseiten der US-Zeitungen entgegenfieberte. Kinder lasen den Strip genauso gebannt wie Erwachsene: heroische Abenteuer, packende Seifenoper und bunten Eskapismus konnten sie damals eben alle gebrauchen. Die spannenden Cliffhanger am Ende aller mehrzeiligen Streifen der Fortsetzungsgeschichte trugen ihr übriges zur Leserbindung bei.

Mag man angesichts des rustikalen Plots und der altmodischen Charakterisierungen, die dem wilden galaktischen Ideen-Mix aus Science-Fiction und Fantasy gegenüberstehen, des Öfteren ein Augen zudrücken, kann man sich die Comics dank der beeindruckenden, erwiesenermaßen visionären Optik bis heute ohne Probleme und mit umso mehr Vergnügen und ja, aufrichtiger Bewunderung betrachten. Eigentlich wünscht man sich sogar ein riesiges Schwarz-Weiß-Artbook, um die große Kunst von Alex Raymond, der 1956 im Alter von nur 46 Jahren bei einem Autounfall starb, vollends würdigen zu können. Doch der erste querformatige Hardcover-Band der „Flash Gordon“-Edition unter dem neuen Kult-Label des Hannibal Verlags liefert auf alle Fälle genug interessante Einblicke und viele detailreiche Bilder. Darüber hinaus dokumentiert er die rasante Entwicklung von Raymonds bekanntestem und wichtigstem Comic. Die Anatomie des Strips veränderte sich schließlich schon binnen des ersten Jahres dramatisch, wie der Auftaktband „Auf dem Planten Mongo“ deutlich macht. Damit ist einerseits tatsächlich die anatomische Darstellung der anfangs recht steifen Figuren und Szenen gemeint, die noch 1934 im selben Maße wesentlich dynamischer und stilsicherer wurde, wie die Elemente und Posen kühner. Andererseits wandelte sich selbst die Seitenaufteilung, die den Raum für die Details und die Dynamik schuf, da Raymond im Verlauf des ersten Jahres auf weniger, dafür größere Panels setzte. Die Abenteuer des mutigen, makellosen Erdenhelden auf Mongo waren daher auch grafisch plötzlich von sichtbar mehr gestalterischem Mut durchzogen und weitaus kraftvoller. Obwohl man Raymond davon abriet, auf den aufwendigen Detailreichtum der klassischen Illustratoren zu setzen, blieb er seiner im ersten Jahr auf Mongo entdeckten Linie treu. Und so war der Strip bereits im Herbst 1934 ästhetisch die einflussreiche Comic-Sensation, die zusammen mit Milton Caniffs ebenfalls 1934 gestartetem Strip „Terry und die Piraten“ und dem 1937 folgendem „Prinz Eisenherz“ von Hal Foster die grafische Entwicklung des amerikanischen Comics diktierte.

Selbst in den betagten Panel-Serien „Nick der Raumfahrer“ und „Sigurd“ des deutschen Künstlers Hansrudi Wäscher steckt jede Menge „Flash Gordon“ (und nicht immer genügt es, nur von Inspiration zu reden). Der King of Comics und Marvel-Gott Jack Kirby wurde ebenso von Flashs geistigem Vater angeregt wie Tarzans Hofzeichner Russ Manning, der Meister des Makabren Bernie Wrightson, Mark „Xenozoic Tales“ Schultz oder Entenhausen-Architekt Carl Barks. Dazu kommen Raymonds unmittelbare Erben Mac Raboy und Al Williamson, die Flashs Abenteuer später fortsetzen, da Alex Raymond sich nach dem Zweiten Weltkrieg anderen Helden widmete (Raymond ersann im Verlauf seiner kurzen Karriere noch den Comic-Detektiv Rip Kirby und den Großwildjäger Jungle Jim, obendrein arbeitete er mit Hardboiled-Legende Dashiell Hammett am Strip „Secret Agent X-9“ zusammen). Neuerer Neal Adams kehrte in den 70ern für eine weitere visuelle Revolution des Superheldencomics auf den Seiten von „X-Men“ und „Batman“ zu Raymonds Versessenheit auf anatomische Korrektheit und zeichnerischen Realismus zurück. Und während Frank „Dark Knight Returns“ Miller im Flash Gordon-Schöpfer einen der Großen sieht und ihn schlicht und ergreifend zum Pantheon zählt, stellt der preisgekrönte Comic-Realist Alex Marvels“ Ross in seiner Einführung zum ersten Band der „Flash Gordon“-Werkausgabe sogar die These auf, dass es ohne Alex Raymond niemals die Evolution des Superhelden-Genres gegeben hätte, wie wir sie bis heute erlebt haben.

Die zweite Einleitung im Band, der vom britischen Experten Peter Maresca digital retuschiert und ursprünglich beim Londoner Verlag Titan veröffentlicht wurde, stammt von Doug Murray. Der Amerikaner, der für Marvel Ende der 80er die Vietnamkriegscomic-Reihe „The ’Nam“ verfasste und einst ein kurzlebiges Flash Gordon-Fanzine herausgab, ordnet die Eckpunkte von Raymonds Biografie und dem multimedialen Phänomen Flash Gordon in die amerikanische Geschichte und die Landschaft der Popkultur zwischen Pulps, Comics und Kino-Serials ein. Der Erfolg von „Flash Gordon“ beschränkte sich nämlich keineswegs auf die Comic-Seiten der Wochenendzeitungen. 1936, zwei Jahre nach seinem Entstehen, folgten eine einzige Ausgabe des „Flash Gordon Strange Adventures“-Pulp-Magazins und vor allem ein erstes Filmserial durch Universal. Bis heute wurde Flash Gordon auf vielerlei Art und Weise interpretiert, und es entstehen noch immer neue Comics, wenngleich wir weiterhin auf die Neuverfilmung durch Regisseur MatthewVaughn warten müssen.

Bis dahin flasht man mit den guten, alten „Flash Gordon“-Comics trotz der imponierenden Bilder sowie ihrer aufwendigen Aufbereitung und Darreichung vermutlich keine jungen Leser mehr, gewinnt man keinen Nachwuchs für die Science-Fiction oder die grafische Literatur. Dafür ist dieser Band aber auch gar nicht gedacht und gemacht. Er ist viel mehr etwas Feines für Nostalgiker, für Sammler, für Liebhaber, für Schöngeister, für Kreative und für Hobby-Historiker der Neunten Kunst und der SF, die den Auftakt dieser Edition zu schätzen wissen und gerne noch einmal zum Planeten Mongo reisen, um den tiefen Fußabdruck von Alex Raymond und Flash Gordon im Multimedia-Kosmos der Science-Fiction zu untersuchen.

Alle Abb.: Hannibal/© 2018 King Features Syndicate/Distr. Bulls

Alex Raymond: Flash Gordon Bd. 1: Auf dem Planten Mongo• Hannibal Kult, Innsbruck 2018 • 208 Seiten • querformatiges XL-Hardcover: 35 Euro


aus „Alex Raymond: Flash Gordon Bd. 1: Auf dem Planten Mongo“; Einleitung.

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Huānyíng Liu Cixin!

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Mitte Oktober gab es eine kleine Sensation für alle Science-Fiction-Fans: Cixin Liu, der chinesische Superstar, dessen Romane und Stories (im Shop) zu Weltbestsellern avanciert sind, kam für eine Lesereise nach Deutschland. Im Gepäck hatte er unter anderem „Der dunkle Wald“ (im Shop), den zweiten Teil seiner Trisolaris-Trilogie. Der Höhepunkt dieser Reise war eine von der Buchhandlung Otherland in Berlin organisierte Lesung in der Heilig-Kreuz-Kirche am 17. Oktober, moderiert von Dietmar Dath (im Shop), zu der 370 Besucher kamen. Die Otherland-Crew hatte an diesem Abend alle Hände voll zu tun, aber ihr Bericht über die Lesung zeigt, dass sich die Anstrengung mehr als gelohnt hat:

Für uns fing die ganze Sache eigentlich am 8. November 2013 an: Damals war SF-Autor David Brin für eine Lesung bei uns zu Gast und legte uns beiläufig ans Herz, die Augen nach dem Buch eines chinesischen Autors namens Cixin Liu offenzuhalten, das demnächst in englischer Übersetzung erscheinen würde.

Er hatte Gelegenheit erhalten, das Buch vorab zu lesen, und war begeistert. Wir warteten also bereits gespannt auf „The Three-Body Problem“, als es 2014 auf Englisch erschien. Die Otherland-Crew wurde sofort von der Begeisterung für diesen Roman angesteckt und gab die Infektion sogleich an die Kunden weiter. Es folgte der erste Hugo-Award für einen chinesischen Autor, Werbung für „The Three-Body Problem“von Barack Obama, zunehmendes öffentliches Interesse bis weit über die SF-Szene hinaus … und spätestens, als Heyne dann die deutsche Ausgabe („Die drei Sonnen“, im Shop) ankündigte, fing es an in uns zu arbeiten: Können wir den Star der chinesischen SF nach Berlin bekommen?

Schnellvorlauf zum 17. Oktober 2018: Die ganze Otherland-Crew samt freiwilliger Helferinnen und Helfer ist im Einsatz. Alle sind high vor Aufregung – Veranstaltungen dieser Größenordnung hatten wir mit dem Otherland schon lange nicht mehr, dazu kommt, dass wir mit der Heilig-Kreuz-Kirche einen für uns neuen Veranstaltungsort haben und dass das so ganz nebenbei unsere erste Lesung nicht nur mit einem chinesischen Autor ist, sondern auch mit einem, der uns und die Otherland-Kundschaft in den letzten Jahren mit jedem neuen Buch vom Hocker gerissen hat. Unglaublich, wie glatt dann alles läuft: Der Raum ist bestuhlt, die Mikros funktionieren, Büchertisch und Einlass sind besetzt, die Kartenreservierungsliste liegt bereit, und ab halb sieben trudeln die ersten Besucher ein. Aus Trudeln wird Strömen, und während wir am Anfang noch denken, dass es wohl bei etwas über 200 bleibt, wird die Endzählung 370 Besucher ergeben!

Während ich benommen zwischen Einlass und Büchertisch herumstehe, kommt Otherlander Wolf zu mir und bemerkt irgendetwas zu dem Thema, dass wir den Autor hoffentlich auch erkennen, wenn er dann eintrifft – ich höre nur mit halbem Ohr zu und sage: „Doch, doch, ich habe mir extra noch mal ein Foto angeschaut.“ Wolf: „Er ist gerade an dir vorbeigelaufen.“

Wir bringen Cixin Liu erst einmal in den Hinterraum, wo erst einmal kurzes Begrüßen und Durchatmen angesagt ist. Mit dabei sind Moderator Dietmar Dath (eigentlich für sich schon ein Main Act), Dolmetscherin Jing Bartz, Mark Bremer, der das Hörbuch von „Der dunkle Wald“ produziert und eingelesen hat und bei der Lesung die deutschen Passagen vortragen wird, und Elisabeth Bayer vom Heyne-Verlag. Gemeinsam sprechen wir mithilfe von Jing Bartz den Ablauf durch. Ich habe Gelegenheit, mit klopfendem Herzen mein eingeübtes chinesisches „Willkommen“ („huānyíng“) und „Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen“ anzubringen, wobei ich den Eindruck hatte, dass die Dolmetscherin Liu beim letzteren Satz darauf hinweisen musste, dass ich ihn auf Chinesisch angesprochen hatte … Anschließend üben Simon und ich noch mal die korrekte Namensaussprache. Fängt schon mal lustig an!

Kurz, bevor wir die Gäste dann auf die Bühne bitten (eine halbe Stunde verspätet, weil erst noch die Galerie für die letzten eingetroffenen BesucherInnen geöffnet werden muss), merken wir, dass irgendetwas anders ist als sonst. Das Publikum hat schon gespürt, dass es jetzt gleich losgeht, und als Simon, Wolf und ich nach draußen treten, herrscht absolute Stille. Einen Moment lang sind wir wie erstarrt. Dann betreten Dietmar Dath, Mark Bremer, Jing Bartz und Liu Cixin die Bühne, und der Applaus setzt ein.

Nachdem die Woge schließlich abgeebbt ist, stehen wir angeschwemmt und glücklich da, begrüßen, sagen Dankeschön und übergeben die Moderation dann an Dietmar Dath. Und der ist einfach Dietmar Dath: Gibt ein prägnantes, überraschendes und humorvolles Eingangsstatement zur SF, leitet zu Mark Bremers kurzen Lesepassagen über und stellt Liu Cixin insgesamt nicht mehr als drei Fragen, die es dafür in sich haben.

Liu spricht darüber, den Lesern Raum bei der Vorstellung außerirdischen Lebens zu lassen – so treten die wichtigsten Aliens der Trisolaris-Trilogie nie körperlich in Erscheinung –, aber auch von der Notwendigkeit, ihnen menschliche Facetten beizugeben. Von der Verpflichtung der SF auf wissenschaftliche Plausibilität, später auf eine Publikumsfrage aber auch davon, dass all die wissenschaftlichen Elemente in seinen Büchern letztendlich Teil der Fiktion sind und im Dienste der Geschichte stehen und er sich deshalb keine Sorgen darüber macht, dass seine Bücher einmal wissenschaftlich überholt sein könnten.

Bei den Publikumsfragen bitten Liu und Dath dann darum, eine gewisse Parität zu wahren – es sind offensichtlich sehr viele chinesische BesucherInnen im Publikum, und Liu möchte nicht nur von ihnen, sondern auch und vor allem von seinen deutschen Lesern hören. Als Saalmikrofonbeauftrager versuche ich, diesen Wunsch so gut es geht mit den erst vorsichtigen, dann mit einem Mal hektischen Wortmeldungen zu vereinbaren. In schneller Folge geht es um Psychologie und Kunst. Liu ist ein großer Freund moderner Kunst und bemerkt zugleich, er habe den Eindruck, Kunst sei, je moderner sie werde, desto eher durch Maschinen zu imitieren; und er sinniert über menschliche Entwicklungsstufen, auf denen es für die Menschen wahrscheinlich ohnehin nichts mehr zu tun gäbe als Kunst zu schöpfen.

Wir erfahren, dass Liu in seiner Kindheit während der Kulturrevolution nicht viel zu lesen bekam, und dass seine erste SF-Lektüre „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“ von Jules Verne war. Auf die aus dem Publikum geäußerte Frage, ob seine Interpretation des FERMI-Paradoxons in der Drei-Sonnen-Trilogie vielleicht die Wissenschaft beeinflusst habe, antwortet er bescheiden, dass diese Idee eigentlich so naheliegend war, dass er sicher sei, dass sie schon vor ihm jemand formuliert habe.

Viel zu schnell ist die Publikumsrunde vorbei – wir brauchen Zeit zum Signieren, und nach tosendem Applaus und einer „Jeder bitte nur drei Bücher“-Ansage von uns sammelt sich der Saal zu einer langen Schlange vor dem Podium.

Im Anschluss geht es dann noch mit Liu und einer kleinen Gruppe Otherlandern zum Griechen Z. Einen Moment lang kommt es uns komisch vor, mit einem chinesischen Autor in Deutschland griechisch Essen zu gehen, aber dann sagen wir uns, dass wir in Wirklichkeit mit einem chinesischen Autor in Europa europäisch Essen gehen – alles eine Frage der Perspektive.

Nach dem erfolgreichen Event sind wir ausgelassen, was dazu beiträgt, dass uns die Kommunikationsbarrieren nicht allzu sehr störend. Jing Bartz schickt lachend Unterhaltungsfetzen zwischen Liu Cixin und den anderen am Tisch hin und her, bei denen es um alles von der Frage, ob die Drei-Sonnen-Trilogie eher optimistisch oder eher pessimistisch sei (zu der Liu Cixin sich aber einfach nicht aus der Reserve locken lassen wollte, sondern sich darauf berief, dass er bloß auf Grundlage einer wissenschaftlichen Idee eine gute Geschichte erzählen wollte) bis hin zu der, ob die Biergläser einen Viertelliter oder einen Fünftelliter enthielten (was ausgiebig und unter großem Gelächter erörtert wurde), geht. Obwohl Liu Cixin, Jing Bartz und Elisabeth Bayer von Heyne bereits einen intensiven Lesungsmarathon von Frankfurt über Essen und Hamburg hinter sich hatten, dessen Abschluss der Berlin-Auftritt bildete, leisteten sie uns noch bis nachts um eins Gesellschaft. Anschließend wurde dann auf einer duseligen Wolke der Zufriedenheit heimgeschwebt.

Echt schwer zu glauben, was mit so einer Winzbuchhandlung wie unserer manchmal alles möglich ist … danke und xiexie noch einmal an den Heyne-Verlag, an das Konfuzius-Institut, an Dietmar Dath für seine gelungene Moderation und an alle Otherland-Crewmitglieder und Freunde, die uns geholfen haben, dieses Riesending zu stemmen – und an David Brin für den guten Tipp!

 

Dieser Beitrag erschien zuerst auf der Facebook-Seite der Buchhandlung Otherland Berlin. Titelbild © Otherland Buchhandlung.

Die bisher auf Deutsch erschienenen Bücher von Cixin Liu finden Sie in unserem Shop. Neugierig geworden? Hier und hier finden Sie Leseproben zu „Die drei Sonnen“, und hier eine zum zweiten Band der Trisolaris-Trilogie, „Der dunkle Wald“. Außerdem finden Sie hier eine Leseprobe aus Lius Novelle „Der Spiegel“. Die wissenschaftlichen Hintergründe von „Die drei Sonnen“ haben wir, zusammen mit dem Physiker Dr. Bernhard Bittner, in einer kleinen Video-Reihe zusammengefasst; Cixin Lius eigene Gedanken zu seiner Trilogie finden Sie hier. Und wer sich nach der Lektüre fragt, was chinesische Science-Fiction eigentlich chinesisch macht: die Antwort finden Sie in einem Essay der Literaturwissenschaftlerin Xia Jia.

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Der steinige Weg eines Helden

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Mit seinem Debütroman „Das Imperium der Stille“ (im Shop) hat der junge amerikanische Autor Christopher Ruocchio ein gewaltiges Werk vorgelegt, in dem wir seinen Helden Hadrian Marlowe durch ein atemberaubendes Abenteuer in einem riesigen Sternenreich begleiten. Hadrian Marlowe wird die schwindelerregenden Höhen des Ruhmes ebenso kennenlernen wie die dunkelsten Abgründe. Wie die folgende Leseprobe zeigt müssen sich jedoch auch die größten Helden der Galaxis, bevor sie zu ebendiesen werden können, erst einmal mit ihren Eltern auseinandersetzen.

 

 

DER TEUFEL UND DIE LADY

 

»NICHT DEINE ELEGANTESTE Performance, Hadrian.«

Die Stimme meiner Mutter trug weit genug über die dunklen Holzpaneele, die den Fußboden meines Schlafzimmers bildeten. Eine dunkle Altstimme, geprägt vom Akzent des delianischen Adels und poliert durch die zahlreichen Reden und Auftritte der vergangenen Jahrzehnte. Sie war nicht nur First Lady, sondern zudem Librettistin und Filmemacherin.

»Crispin wollte ja nicht beiseiterücken.« Mehr brachte ich nicht heraus, während ich mit den Silberknöpfen meines besten Hemds spielte.

»Crispin ist fünfzehn und leider ausgesprochen reizbar und launisch.«

»Ich weiß, Mutter.« Ich warf mir die Hosenträger über die Schultern und machte sie fest. »Ich verstehe nicht, wieso mich Vater nicht … nicht zu dieser Besprechung hinzugebeten hat.«

An ihrer gedämpften Stimme hörte ich, dass Mutter sich von der Tür des Wandschranks wegbewegt hatte und zu dem hohen Fenster herübergegangen war, von dem aus man aufs Meer sehen konnte. Das tat sie oft. Lady Liliana Kephalos-Marlowe neigte dazu, sich Fenstern zuzuwenden. Das hatten wir gemeinsam, dieses Bedürfnis, woanders zu sein. Egal, wo. »Musst du das wirklich fragen?«

Musste ich nicht. Statt zu antworten, warf ich mir meine samtseidene Weste über und glättete den Kragen. Nun, ordentlich gekleidet, öffnete ich die Tür und trat aus meinem Schlafzimmer. Mutter stand tatsächlich am Fenster. Meine Gemächer lagen hoch oben im Bergfried an der nordöstlichen Ecke des quadratischen Turms. Von dort hatte ich einen bestechenden Blick über die Mole und den Ozean, der dahinterlag, und konnte meilenweit bis zu den Windinseln sehen, die dunkel vor dem Horizont lagen, allerdings kaum erkennbar, weil sie sich nicht über den Meeresspiegel erhoben. Mutter wandte sich zu mir um. Sie trug niemals Schwarz, hatte nie die Farben und das Wappen der Marlowes für sich angenommen. Sie war eine Nachfahrin des Hauses Kephalos, ihre Mutter, die Vizekönigin, beherrschte in ihrer Eigenschaft als Herzogin zudem den ganzen Planeten, und das trug sie stolz vor sich her. Für die abendliche Gesellschaft – das Begrüßungsbankett für Direktorin Adaeze Feng und ihre ganze Gruppe – hatte meine Mutter ein so enges Kleid aus weißer Seide gewählt, dass es aus synthetischen Fasern geschneidert sein musste. Es wurde über einer Schulter mit einer Goldbrosche zusammengehalten, die die Form des Kephalos- Adlers hatte. Mutters honigbronzenes Haar war am Hinterkopf zusammengefasst und hochgebunden, und es fiel in Ringellöckchen vor ihren Ohren herab. Sie war schön auf jene Art, die allen Paladinfrauen eigen ist. Das Abbild der verschwundenen Sappho in lebenden Marmor gemeißelt, allerdings auch genauso kalt.

»Dein Haar ist fürchterlich.«

»Danke, Mutter«, sagte ich in gemessenem Ton und schob mir die lockigen Ponyfransen hinters Ohr.

Lady Lilianas rotbemalter Mund öffnete sich. Sie suchte nach Worten. »Das war kein Kompliment.«

»Nein«, räumte ich ein, während ich in den Gehrock schlüpfte, dessen linke Brust eine Stickerei des Teufels meines Hauses zierte.

»Du solltest es wirklich schneiden lassen.« Jetzt wandte sie sich vom Fenster ab und streckte die Hände aus, um meinen Kragen glatt zu ziehen.

»Vater verwechselt mich auch so schon mit Crispin.« Wortlos ließ ich zu, dass sie mir den Rock glättete, und strafte sie lediglich mit meinem vernichtendsten Blick. Ihre eigenen Augen waren bernsteinfarben, weitaus wärmer als Vaters. Dennoch war es eine Wärme, die mich nicht erreichte. Ich wusste, wenn sie ihrem eigenen Willen hätte folgen können, wäre sie schon wieder in Artemia bei ihrer Familie und ihren Frauen gewesen und hätte nicht mit uns Marlowes an diesem düsteren, aschgrauen Ort gesessen. Mit uns Marlowes mit unseren kalten Augen und unserer noch kälteren Art – und dem allerkältesten Ehemann.

»Das tut er nicht.« An der unterdrückten Hast ihrer Worte erkannte ich, dass sie nicht begriffen hatte, was ich damit eigentlich hatte sagen wollen.

»Dann will er also, dass Crispin meinen Platz einnimmt?« Noch immer starrte ich sie böse an, während sie die Schultern meiner Jacke glatt zog.

»Ist es nicht das, was du willst?«

Jetzt blinzelte ich verblüfft. Darauf fand ich keine Antwort, jedenfalls nicht, ohne das empfindliche Gleichgewicht meiner Welt ins Wanken zu bringen. Was hätte ich sagen können? Nein? Aber ich wünschte mir den Posten meines Vaters ebenso wenig, wie ich Erster Strategos der Orion-Legionen sein wollte. Ja? Aber dann würde eines Tages Crispin herrschen, und Crispin … Crispin wäre eine Katastrophe. Das war es: Zwar wollte ich den Thron meines Vaters nicht, aber noch weniger wollte ich, dass Crispin eines Tages ihn erhielt.

Mutter trat von mir weg und kehrte ans Fenster zurück. Ihre Absätze klapperten über den Fliesenboden. »Ich kann mich nicht rühmen, Einblick in die Pläne deines Vaters zu haben …«

»Wie auch?« Ich richtete mich zu meiner ganzen, wenig beeindruckenden Höhe auf. »Du bist ja niemals hier.«

Mutter reagierte nicht im Geringsten zornig, sah mich nicht einmal an. »Glaubst du, irgendjemand würde aus freien Stücken hierbleiben?«

»Sir Felix hat sich dazu entschlossen«, gab ich zurück und zog mir die Jacke fester um die schmalen Schultern. »Und Roban und die anderen auch.«

»Sie erhoffen sich davon Aufstiegsmöglichkeiten für sich. Ländereien, eigene Titel. Eine kleine Burg.«

»Sie bleiben nicht aus Treue zu meinem Vater?«

»Keiner von ihnen kennt deinen Vater, außer vielleicht Felix. Nicht einmal ich kann das behaupten, und ich habe ihn geheiratet.«

Das wusste ich zwar schon, aber es erschütterte mich jedes Mal aufs Neue, wenn sich mir offenbarte, wie fremd sich meine Eltern waren. Ganz leise nickte ich und erkannte erst dann, dass meine Mutter das nicht wahrnahm, weil sie mir den Rücken zuwandte. »Er ist niemand, der Vertrautheit inspiriert«, sagte ich endlich und verzog unwillkürlich das Gesicht.

»Und das solltest auch du nicht tun, falls du eines Tages an seiner statt regieren wirst.« Lady Liliana wandte sich nun halb zu mir um und betrachtete mich durch ihre bronzefarbenen Locken. Die Bernsteinaugen blickten hart und müde. Ich glaube, in diesem Augenblick wurde mir zum ersten Mal ihr Alter bewusst. Ich sah nicht die junge Erwachsene, als die sie sich stets gab, sondern die beinahe zwei Jahrhunderte, die sie in Wirklichkeit zählte. Doch der Augenblick verging sofort, als sie fortfuhr: »Du musst vorangehen und nicht am Rand stehen.«

»Falls ich regiere?«, wiederholte ich.

»Das steht ja nicht zwangsläufig fest«, erklärte sie. »Möglich, dass er sich für Crispin entscheidet oder dass er sich ein drittes Kind aus den Tanks bestellt.« Da sie meine Antwort vorausahnte, fügte sie hinzu: »Nur weil das Haus Marlowe bisher stets das älteste Kind zum Erben bestimmt hat, heißt das nicht, dass es so bleiben muss. Das Gesetz lässt deinem Vater freie Hand bei der Wahl seines Nachfolgers. Nimm nichts vorweg.«

Ein wenig verletzt sagte ich: »Alles in Ordnung. Es spielt keine Rolle, das ist …«

Sie unterbrach mich: »… ganz richtig, es spielt keine Rolle. Komm jetzt, wir sind schon fast zu spät.«

 

Bis man das Dessert servierte, entstanden und verglühten Sterne. Während der Toasts schwieg ich tapfer, ebenso während des Salats und länger noch, als Scharen von Dienstboten neue Gerichte brachten und zwischendurch den Tisch abräumten. Und ich hörte zu, wobei ich mir der Wut nur allzu bewusst war, die um meinen Vater herum Zeit und Raum veränderte wie die Schwerkraft. Insgeheim war ich dankbar, dass die Direktorin und ihre Entourage mich von meinem gewohnten Platz zu seiner Rechten verdrängt hatten. Ein Tag war seit meinem verspäteten Auftritt im Thronsaal vergangen, und bisher hatte mein Vater noch nicht wieder mit mir gesprochen. Das war an sich nicht weiter ungewöhnlich, aber dass ich nach dem, was ich getan hatte, noch nicht zurechtgewiesen worden war, machte mich unruhig.

Also aß ich, hörte zu und studierte die seltsamen, beinahe außerirdischen Gesichter der Würdenträger des Konsortiums. Die Plutokraten verbrachten ihr ganzes Leben im Weltraum, und die zentripetale Schwerkraftimitation, die ihre riesenhaften Kreiselschiffe umgab, konnte nicht verhindern, dass sie das körperlich veränderte. Hätte es keine Gentherapien gegeben, die den Körper ähnlich grundlegend veränderten wie die Maßnahmen, denen ich meine Geburt verdankte, wäre es ihnen gar nicht möglich gewesen, überhaupt auf Delos zu stehen. Die Schwerkraft unseres Planeten lag verglichen mit dem Standardwert bei eins und ein Zehntel; sie hätte diese Wesen zermalmt und sie wie Fische auf dem Trockenen nach Luft schnappen lassen.

»Indem sie nun einen Angriff jenseits des Schleiers gewagt haben, sind die Cielcin zu weit gegangen«, sagte gerade Xun Gong Sun, einer der Juniorminister des Konsortiums. »Das sollte der Imperator nicht hinnehmen.«

»Der Imperator nimmt es auch nicht hin, Xun«, erklärte Direktorin Feng milde. »Deswegen herrscht schließlich Krieg.« Ich betrachtete die Direktorin. Wie die anderen Mitglieder der Konsortiumsdelegation war auch sie völlig haarlos, und die Wangenknochen und der Stirnbereich, an dem sich sonst die Brauen befunden hätten, war besonders hervorgehoben worden, um die schrägen, schmalen Augen zu betonen. Ihre Haut war dunkler als die der anderen und hatte beinahe die Farbe von Milchkaffee. Sie wandte sich nun an meine Mutter und meinen Vater. »Der Fürst von Jadd hat zwölftausend Schiffe für den Krieg bereitgestellt, unter dem Kommando von Darkmoon, einem seiner Enkel. Selbst die Tavrosi-Clansleute sind ausgelaufen.«

Mein Vater stellte sein Glas Kandarenerwein auf den Tisch und machte eine sorgsam einstudierte Pause, bevor er antwortete. »Das wissen wir, Madame Direktorin.«

»Nun, tatsächlich.« Lächelnd hob sie ihr Glas. Ihre Finger sahen aus wie dünne Grashüpfer, die einander zuwinkten. »Ich meine nur, all diese Schiffe werden Treibstoff brauchen, Mylord.«

Der Lord von Devil’s Rest starrte die Direktorin an, ließ die Schneidezähne kurz über seine Unterlippe gleiten, dann faltete er die Hände auf dem Tisch. »Sie brauchen uns nicht zu überzeugen. Die Zeit dafür wird schon schnell genug kommen.«

Seine Bemerkung sorgte für leises Gelächter von den Ministern am Fuße des Tisches, und Crispin, der mir gegenübersaß, grinste. Ich sah zu Gibson hinüber und hob die Augenbrauen.

»Günstige Gelegenheiten gibt es überall, und die aktuelle Situation verschafft uns einen momentanen Vorteil, trotz der jüngsten Tragödie auf Cai Shen.«

Oft schon hatte ich meinen Vater in diesem Modus erlebt, belehrend und gebieterisch. Seine Augen – meine Augen – ruhten nie an einer Stelle oder auf einem Gesicht, sondern huschten ständig über seine gesamte Umgebung. Sein tiefer Bass trug weit und berührte mehr das Brustbein als das Ohr. Er hatte eine gewisse Ausstrahlung, eine kalte Anziehungskraft, die alle, die ihm zuhörten, seinem Willen unterwarf. In einem anderen Zeitalter, in einem anderen Universum hätte er vielleicht sogar Cäsar sein können. Aber in unserem Imperium gibt es schon mehr als genug Cäsaren. Wir züchten sie hier geradezu, daher war er dazu verdammt, Größere als ihn zu erdulden.

»Ist es wahr, dass die Bleichlinge Menschen fressen?«

Crispin. Der unverblümte, taktlose Crispin. Ich fühlte, wie alle Anwesenden am Tisch erstarrten. Seufzend schloss ich die Augen und nahm einen Schluck von meinem Wein, einem Blauen Carcassoni, während ich darauf wartete, dass der Sturm losbrach.

»Crispin!« Mutters Stimme trug in gut einstudiertem Bühnenflüstern weit durch den Raum, und als ich die Augen wieder öffnete, starrte sie meinen Bruder an und warf auch der Konsortiumsdirektorin einen Blick zu. »Nicht bei Tisch!«

Aber Adaeze Feng schenkte meiner Mutter lediglich ein Lächeln. »Das ist schon in Ordnung, Lady Liliana. Wir waren alle einmal Kinder.«

Ohne das geringste Bewusstsein für seinen Fauxpas sagte mein Bruder: »Ich habe das einmal von einem Raumfahrer gehört, dass sie Menschen als Nahrungsquelle nutzen. Stimmt das?« Gespannt beugte er sich vor, und ich hätte um alles Gold auf Forum gewettet, dass ich ihn noch nie so interessiert hatte dreinblicken sehen.

Ein anderes Konsortiumsmitglied sagte mit einer Stimme, die tiefer war als die Gräben der See: »Das ist durchaus möglich, junger Herr.«

Ich sah den Sprecher an, der zwischen Gibson und Tor Alcuin ungefähr in der Mitte der Längsseite des großen Esstisches saß, neben einer dampfenden Schüssel mit Fischsuppe und verschiedenen Weinen in roten, wie Figuren geformten Krügen. Er hatte die dunkelste Hautfarbe, die mir je begegnet war, dunkler noch als die Direktorin, sogar noch dunkler als mein Haar, und als er lächelte, erschienen seine Zähne im Vergleich weiß wie die Sterne. »Aber nicht immer. Meistens werden die Ureinwohner eroberter Kolonien eher verschleppt und als Sklaven ausgebeutet.«

»Oh.« Crispin klang enttäuscht. »Dann sind sie nicht alle Kannibalen?« Sein Gesicht verdüsterte sich, als hätte er sich brennend gewünscht, dass alle Außerirdischen monströse, menschenfressende und mörderische Geschöpfe seien.

»Kannibalen sind sie alle nicht.« Jetzt sahen mich alle an, und erst da begriff ich, dass ich es war, der gesprochen hatte. Ich holte langsam Luft und sammelte mich. Das hier war immerhin mein Fachgebiet. »Sie essen uns, nicht ihresgleichen.« Wie viele Stunden hatte ich damit verbracht, an Gibsons Seite die Cielcin zu studieren? Wie viele Tage hatte ich ihre Sprache zu durchdringen versucht und sie nach den wenigen Texten und Gesprächen, die während der dreihundert Jahre Krieg abgefangen worden waren, erlernt. Die Cielcin hatten mich fasziniert, seit ich lesen konnte – vielleicht sogar noch früher –, und mein Tutor hatte es mir nie abgeschlagen, wenn ich ihn um Extrastunden zu dem Thema bat.

Der dunkelhäutige Scholastiker nickte. »Der junge Herr hat völlig recht.« Wie ich später herausfand, stimmte das nicht. Die Cielcin fraßen auch einander ohne Bedenken, das wusste damals nur noch niemand.

»Terence …« Juniorminister Gong Sung legte seinem dunkelhäutigen Kollegen die Hand auf den Arm.

Der Genannte schüttelte den Kopf. »Es ist beim Essen kein schönes Thema, ich weiß. Vergeben Sie mir, Sir Alistair und Lady Liliana, aber die jungen Herren sollten begreifen, was hier auf dem Spiel steht. Wir sind jetzt schon seit drei Jahrhunderten im Krieg. Zu lang, meinen manche.«

Ich räusperte mich. »Die Cielcin sind Nomaden, und fast alle sind sie Fleischfresser. Es ist nicht leicht, im Weltraum Vieh zu halten, auch wenn man Schwerkraft simuliert, da bedient man sich besser bei dem, was man auf den Planeten vorfindet. Ein durchschnittliches Migrationscluster der Cielcin umfasst ungefähr zehn Millionen Aliens, von daher glaube ich nicht, dass ihnen alle Menschen auf Cai Shen zum Opfer gefallen sind.«

»Es war ein sehr großes Cluster, wie es in den Berichten heißt.« Terence hob seine nicht existierenden Augenbrauen. »Sie wissen über die Cielcin gut Bescheid.«

Gibson ließ seine dünne Stimme vom anderen Ende des Tisches erklingen. »Der junge Master Hadrian interessiert sich schon seit vielen Jahren für die Cielcin, mein Herr. Ich habe ihm auch die Sprache der Außerirdischen beigebracht. Er beherrscht sie recht gut.«

Ich sah auf den Teller, um das Lächeln zu verbergen, das meine Lippen kräuselte, und hoffte darauf, dass Lord Alistair es nicht gesehen hatte.

Direktorin Feng wandte sich auf ihrem Platz zu mir um, und ich nahm ein gesteigertes Interesse bei ihr wahr, als ob sie mich zum ersten Mal sah. »Sie interessieren sich tatsächlich für die Bleichlinge?«

Ich nickte, erhob die Stimme aber erst, als ich mich an all die üblichen Höflichkeitsfloskeln erinnert hatte. Immerhin war es die Direktorin des Wong-Hopper-Konsortiums, die das Wort an mich richtete. »Ja, Madame Direktorin.«

Die Direktorin lächelte, und zum ersten Mal bemerkte ich, dass ihre Zähne aus Metall waren und das Kerzenlicht sich auf ihnen spiegelte. »Höchst empfehlenswert. Das ist ein seltenes Interessengebiet für einen Paladin, erst recht für einen aus dem Hochadel des Imperators. Sie sollten über eine Karriere in der Kantorei nachdenken.«

Unter dem Tisch wurden die Knöchel meiner linken Hand neben meinem Knie weiß, und ich zwang mich zu einem Lächeln. Nichts hätte mir ferner gelegen. Ich wollte Scholastiker werden. Zu einem Expeditionskorps gehören. Auf Raumschiffen reisen, dorthin gehen, wo noch niemand zuvor gewesen war, die imperiale Flagge in entfernten Teilen der Galaxie aufpflanzen und wunderbare, seltsame Dinge sehen. Vor allem wollte ich nicht an einen Schreibtisch gekettet sein, schon gar nicht an einen, der in der Kantorei stand. Meine Augen huschten zu Gibson, der ein schwaches Lächeln zurücksandte. »Danke Madame.« Ein kurzer Blick auf meinen Vater zeigte mir, dass ich es besser dabei beließ.

»Oder vielleicht bei uns, wenn Ihr Vater auf Sie verzichten kann. Irgendjemand wird ja später einmal mit diesen Ungeheuern ins Geschäft kommen müssen, wenn der Krieg vorüber ist.«

Vater war während dieses Wortwechsels bemerkenswert still geblieben, und ich konnte den Gedanken nicht abschütteln, dass ein Zornesausbruch direkt bevorstand. Er saß neben meiner Mutter und hatte den Kopf leicht vorgebeugt, als er einem Bediensteten lauschte, der ihm offenbar eine Nachricht überbrachte. Vater raunte eine Anweisung und war von daher abgelenkt, als Crispin sagte: »Sie könnten ihnen Nahrung verkaufen!« Sein Gesicht verzog sich zu einem makabren Grinsen, und die Direktorin zeigte ein skalpelldünnes Lächeln.

»Ich gehe davon aus, dass wir genau das tun werden, junger Herr. Wir verkaufen jedem alles. Nehmen Sie zum Beispiel diesen Wein«, sagte sie und deutete auf die Flasche, aus der ich getrunken hatte, einen St. Deniau Azuré Carcassoni. »Ein hervorragender Jahrgang, Archon, habe ich das schon gesagt?«

»Vielen Dank, Madame Direktorin«, sagte Vater. Auch ohne aufzusehen, merkte ich, dass seine Augen auf mir ruhten. »Ich finde es eigentümlich, dass Sie so offen über Beziehungen mit den Cielcin nachdenken, vor allem, wenn man sich die jüngste Tragödie vor Augen hält.«

Die Direktorin wischte seine Bemerkung beiseite und legte Messer und Gabel hin. »Oh, der Imperator wird siegen, die Erde segne seinen Namen. Und der Kelch der Barmherzigkeit fließet über, wie die Prioren sagen.«

Eine der Juniorministerinnen, die sich goldene Strähnen auf den bleichen Skalp tätowiert hatte, beugte sich neben der Direktorin vor und sagte: »Wenn dieser Krieg vorbei ist, dann müssen doch die Bleichlinge Untertanen des Solarthrons werden.«

»Müssen sie das?«, fragte meine Mutter mit elegant erhobenen Brauen. »Mir wäre es lieber, sie wären dann gar nicht mehr da.«

»Dazu wird es nie kommen«, sagte ich in scharfem Ton und wusste gleich, dass ich einen Fehler gemacht hatte. »Sie haben uns gegenüber einen Vorteil.« Die Gesichter meiner Eltern waren beide hart wie Stein, und an den angespannten Kiefermuskeln meines Vaters erkannte ich, dass er etwas sagen wollte.

Aber dann ergriff der Juniorminister des Konsortiums das Wort und fragte mit freundlichem Lächeln: »Wie meinen Sie denn das, Sirrah?«

»Wir leben auf Planeten. Die Cielcin sind wie die Extrasolarianer.« Damit bezog ich mich auf die Barbaren in den entlegenen Bereichen des Weltraums, die im Dunkel zwischen den Sternen umherstreiften, immer in Bewegung und auf der Suche nach Handelsschiffen, die es zu überfallen lohnte. »Sie haben keine Heimat, nur ihre Migrationscluster …«

»Ihre scianda.« Gibson nannte das Cielcin-Wort.

»Genau!« Ich spießte ein Stück rosa Fisch auf meine Gabel und aß es, um eine effektvolle Pause zu machen. »Wir können nie sicher sein, die Cielcin komplett ausgerottet zu haben. Selbst wenn wir ein ganzes Cluster vernichteten – eine ganze scianda–, würde es genügen, dass eines ihrer Schiffe entkommt, um ihr Überleben zu sichern. Dagegen kann man mit militärischer Gewalt nicht vorgehen, Mutter. Meine Damen, meine Herren: Das kann man nicht. Die völlige Auslöschung ist unmöglich.« Wieder nahm ich einen Bissen. »Nun trifft auf uns dasselbe zu, aber unsere Bevölkerung lebt zum größten Teil auf Planeten. Wir werden von Angriffen ungleich härter getroffen, oder nicht?« Ich sah die Direktorin an und zählte darauf, dass sie mir aufgrund ihrer lebenslangen Erfahrung als Raumfahrerin in den Weiten des Imperiums recht geben würde.

Fast sah es so aus, als wollte sie genau das gerade tun, als mein Vater sagte: »Hadrian, das reicht.«

Adaeze Feng lächelte. »Alles in Ordnung, Archon.«

»Überlassen Sie es mir, das zu entscheiden, Madame Direktorin«, sagte Lord Alistair sanft und setzte seinen Kristallkelch ab. Eine Dienerin eilte sofort herbei und wollte das Glas aus einem Keramikkrug, der mit Waldnymphen verziert war, neu füllen. Vater machte eine ablehnende Geste. »Vor allem, wenn er derartig mit Verrat flirtet.«

Verrat. Es gelang mir gerade eben, mir die Überraschung nicht anmerken zu lassen, und ich biss die Zähne noch fester zusammen. Mir gegenüber verzog Crispin das Gesicht und bewegte die Lippen, als würde er »Verräter« flüstern. Ich fühlte, wie die Röte meinen Hals hinaufstieg und das Gefühl von Beschämung an mir hinabglitt wie nasser Ton.

»Ich habe nicht gedacht …«

»Nein«, sagte Vater. »Das hast du nicht. Entschuldige dich bei der Direktorin.«

Ich sah auf meinen Teller und starrte die übrig gebliebenen Stückchen gebackenen Lachs und die gerösteten Pilze an – um die eher exotischen Speisen, die für unsere außerweltlichen Gäste bereitet worden waren, hatte ich einen Bogen gemacht. Mit störrischem Blick schwieg ich. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass mich mein Vater nie beim Namen nannte und, wenn überhaupt, lediglich im Befehlston mit mir sprach. Ich war ein Fortsatz seines Ichs, sei fleischgewordenes Vermächtnis. Kein Mensch.

»Es gibt nichts zu entschuldigen, Sir«, sagte die Direktorin, die kurz zu ihren Juniorministern hinübersah. »Aber lassen wir das. Es war ein wunderbares Essen. Sir Alistair, Lady Marlowe …« Sie neigte den Kopf tief. »Denken wir nicht mehr an diese Unterhaltung. Die Jungen haben es nicht böse gemeint, sie beide nicht. Vielleicht könnten wir jetzt zum Geschäftlichen zurückkehren?«

 

Christopher Ruocchio: „Das Imperium der Stille“∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Kirsten Borchardt ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2018 ∙ 992 Seiten ∙ Preis des E-Books € 13,99 (im Shop)

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Bunte Rebellen-Prinzessinnen

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Bitte mal alle die Hand heben, die als Kind der späten 80er und frühen 90er ebenfalls das Gefühl haben, größtenteils von den Zeichentrickserien-Helden He-Man und She-Ra großgezogen und moralisch gerüstet worden zu sein! Ah, so viele. Wer den Stoff nicht kennt, darum ging es: Ein magisches Schwert verwandelte Prinz Adam von Planeten Eternia in den superstarken He-Man, der mit der Macht von Grayskull und vielfältigen Gefährten ab 1983 gegen den fiesen Skeletor samt Schergen kämpfte, was den Verkauf der Masters of the Universe-Actionfiguren von Hersteller Mattel gehörig ankurbelte. Die Spielzeuge und die Abenteuer im Fernsehen liefen so gut und waren selbst bei Mädels so beliebt, dass 1985 das Spin-off „She-Ra: Princess of Power“ ins TV kam und eine eigene Toy-Line befeuerte, von der in den Läden niemand so genau wusste, ob man die Figuren jetzt neben He-Man oder Barbie stellen sollte. Im Fokus des femininen He-Man-Ablegers stand Prinz Adams fast vergessene, barbieblonde Schwester Adora, die auf dem Planeten Etheria dank eines eigenen Zauberschwerts zur mächtigen Kriegerin She-Ra wurde und die Rebellion gegen den bösen Hordak und dessen finstere Horde anführte.


Ein magisches Zauberschwert…


… verwandelt Adora in die mächtige She-Ra.

Nachdem Netflix mit „Trollhunters“, „Der Prinz der Drachen“, „Hilda“ und „Sabrina“ eindrucksvoll bewiesen hat, dass man fantastische Animationsserien und Serienreboots kann, verhelfen der Streaming-Gigant und DreamWorks dem altgedienten Franchise um die starke blonde Kriegerin in „She-Ra und die Rebellen-Prinzessinnen“ nun zu einem schwungvollen, bunten Neustart. Die Geschichte von Adora, der anfangs ein großes Stück ihrer Vergangenheit fehlt, beginnt diesmal in Etherias Schreckenszone, wo sie neben ihrer besten Freundin Catra zu den jüngsten Soldaten der Horde gehört. Eher durch Zufall wird Adora im Krieg, der mit Lügen, Schwertern, Magie, Mutantenkräften, Panzern, Fluggeräten, schweren Geschützen, Robotern und „Gründer-Technologie“ einer vergangenen Zivilisation geführt wird, erstmals zu She-Ra. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hilft sie plötzlich der teleportierenden Thronfolgerin Glimmer und dem Bogenschützen Bow dabei, die Superprinzessinnen Etherias, die alle über besondere Kräfte verfügen, ein weiteres Mal gegen die Horde zu vereinen. Das bedeutet jedoch, dass sich Adora fortan gegen Catra und ihre alten Meister stellt …

Wer die ersten dreizehn Folgen von „She-Ra und die Rebellen-Prinzessinnen“ anschaut, kommt in den Genuss einen exzellenten Reboots und einer in jederlei Hinsicht aktuellen, frischen Trickserienproduktion zwischen Science-Fiction und Fantasy. Dass Netflix’ „She-Ra“-Neuverquickung von DreamWorks stammt, sieht man aufgrund der dominanten Anime-Einflüsse nicht unbedingt auf den ersten Blick, aber deshalb überzeugen die Bilder und die Animationen trotzdem. „She-Ra“ macht in Sachen Diversität zudem alles richtig, und allein der komplexe emotionale und gelegentlich geradezu dezent sexuelle Subtext zwischen She-Ra und Catra weiß für eine „Prinzessinnen-Trickserie“ zu beeindrucken (was nicht zuletzt zeigt, dass die Macher erwachsen gewordene Fans von früher ebenso im Blick haben wie unbedarfte junge Zuschauer). In den alten Serien mit He-Man und She-Ra wurden die moralischen Botschaften am Ende in einem Epilog gerne noch mal mit dem Holzhammer ins Bewusstsein des beeinflussbaren Publikums gerammt, heute geht man subtiler vor, doch da sind die richtigen Messages zu Themen wie Selbstvertrauen, Selbstverständnis und Selbstverwirklichung noch immer. Der Vorspann und seine Musik präsentieren sich schnell und zeitgemäß, hier gibt es weder im Englischen, noch im Deutschen etwas zu meckern. Umso bedauerlicher und frustrierender, dass bei der deutschen Synchro ein paar seltsame Entscheidungen getroffen wurden und z. B. „die Horde“ konsequent zu „die Hordes“ wird, als würde man es mit einem Volk zu tun haben. Autsch.


Aktuelle Diversität und neue Freundschaft: Glimmer, Bow und Adora.


Komplizierte Beziehung: Catra und Adora in der Schreckenszone.

Der ansonsten bemerkenswerte „She-Ra“-Reboot verdankt seine Magie und Qualität einigen bekannten Namen aus dem Comic-Umfeld. Das ist nur passend, da J. Michael Straczynski, Erfinder von „Babylon 5“ und Autor von Comic-Highlights wie „Spider-Man“, „Thor“ und „Superman: Erde Eins“, in den 80ern als Drehbuchautor bei der Erschaffung von She-Ra half. Jetzt ist es dagegen die 1991 geborene Noelle Stevenson, die das Konzept der neuen Serie entwickelte und als Autorin und Showrunnerin fungiert. Sie machte sich u.a. mit den Comics „Nimona“ und „Lumberjanes“ einen Namen, für die sie mehrere Eisner Awards erhielt und in denen sie bereits viele Fantasy-Tropen und Gender-Rollenmodelle auffrischte. Eher unerwartet ist indes das Mitwirken von Chuck Austen. Der 1960 geborene Autor, Zeichner und Tuscher inszenierte früher die Abenteuer von Elektra, den X-Men, Superman und den Avengers, was vor allem bei Marvels Mutanten nicht ohne Kontroversen ablief. Im Animationsbereich wirkte er vor seinem Einsatz als Produzent des „She-Ra“-Revamps an „King of the Hill“, „Die Abenteuer von Rocky & Bullwinkle“ und „Steven Universe“ mit. Die Power-Prinzessinnen können also zum einen auf viel Erfahrung, und zum anderen auf genug Talent, frische Perspektiven und moderne Ansätze zurückgreifen – und profitieren von beidem. Selbst wenn man nach dem sensationellen Auftakt von Adoras Abenteuern schon befürchtet, dass die Folgen, in denen die Prinzessinnen der Reihe nach vorgestellt werden, ins Formelhafte abgleiten könnten, belehren einen Stevenson und ihre Crew eines Besseren.

„She-Ra und die Rebellen-Prinzessinnen“ funkelt in den meisten Momenten der ersten Staffel als erstklassige, spritzige Neuinterpretation, die alte Fans strahlen lässt und dennoch ohne Mühe eine neue Generation für She-Ra und Co. begeistern dürfte. Bei so viel Qualität wünscht man sich, dass noch mehr Kulttrickserien aus den 80ern ein Netflix/DreamWorks/Noelle Stevenson-Facelifting erfahren. Bis dahin macht She-Ras Comeback Grayskull und den Masters of the Universe alle Ehre – und jede Menge Spaß.

Bilder: © 2018 Netflix

She-Ra und die Rebellen-Prinzessinnen – Staffel 1 • Creator & Showrunner: Noelle Stevenson • Laufzeit: 13 Episoden mit je knapp 25 Min.

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​​​​​​​Zwanzig Jahre Weltgewissen

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Zwanzig Jahre im Weltall sind eine ziemlich lange Zeit. Zumindest für eine Raumstation. Seit dem 19. November 2018 sind es nun schon zwei Jahrzehnte, die die Internationale Raumstation ISS im Orbit um die Erde schwebt. Dafür, finde ich, hat sie einen kräftigen Tusch und ein dreifaches Hurra aus der utopischen Zunft verdient.

Mit zwanzig, bei Weltraumtechnik wie bei uns Menschen, ist die Jugend vorbei, und bei einer betagten Lady wie der ISS kann in dem Alter auch mal etwas kaputtgehen. Dann wird es spannend, oder wissen Sie, wie man ein lebensbedrohliches Leck in der Hülle einer Raumstation flickt? Richtig – wie ein gewöhnliches Leck auf der Erde, nämlich zuerst mit dem Finger, dann mit Panzertape. Vorerst. So beschreibt der deutsche Astronaut und Wissenschaftler Alexander Gerst auf seinem Blog die Maßnahmen, die vor knapp zwei Monaten bei der Entdeckung eines etwa drei Millimeter großen Lochs ergriffen wurden:

„Wir haben das Leck dann versiegelt – erstmal mit dem Finger, dann mit Klebeband, später permanent mit einem Pfropfen aus Teilen einer Mullbinde und Epoxidharz. Damit werden wir weiter arbeiten können und am Ende unserer Mission auch sicher zur Erde zurückfliegen.“

Was hier fast beiläufig und im Nachhinein kaum noch bedrohlich klingt, ist in Wahrheit eine außergewöhnliche Tatsache: Seit zwanzig Jahren schwebt ein Metallbehälter um die Erde, in dem sich Menschen mehr oder weniger permanent aufhalten und von dort auf die Welt darunter blicken können. Mit der Internationalen Raumstation hat die Menschheit den Radius ihrer Welt zum All hin ausgeweitet – und wenn es etwas gibt, das bis dato nur eine Science-Fiction-Vision war, dann doch wohl dies.

ISS Internationale Raumstation
Die Internationale Raumstation ISS (Bild: Wikipedia)

Eine kleine Philosophie der ISS

Für die Bewohner der Raumstation ergeben sich aber auch neue Perspektiven auf die Erde darunter. Aus dem Orbit können Menschen ihren Heimatplaneten nun erstmals als Ganzes in den Blick nehmen – und das bleibt nicht ohne Folgen. Viele Astronauten, darunter neben Gerst auch Chris Hadfield in seinem Buch „Anleitung zur Schwerelosigkeit“ (im Shop), berichten von einer neuen Weltsicht: Der Blick auf den Erdball schärft immer auch den Blick auf die Probleme, die Menschheit und Erde als Ganzes betreffen.

Ob Ökologie, Menschenrechte oder Völkerverständigung – vom „außerirdischen“ Standpunkt der ISS aus betrachtet bekommen diese globalen Themen erst ihr ganzes Gewicht. Oder anders ausgedrückt: Der Satz „Wir haben ein Problem!“ entfaltet erst mit einigen Hundert Kilometern Abstand seine wahre existenzielle Dramatik. Wir alle haben ein Problem, so viel sollte heute klar sein.

Peter Sloterdijk hat diesen Gedanken in seinem Aufsatz „Für eine Philosophie der Raumstation“ weitergedacht. Für ihn ist die ISS als technisches Gerät nicht mehr bloß eine „Organ-Verlängerung“ des Menschen, sondern er sieht in der Raumstation den Beginn eines völlig neuen „In-der-Welt-Seins“. Für Sloterdijk

„hat die Astronautik bereits eine pragmatische Form von gemeinsamer Transzendenz hervorgebracht, die alle erdbasierten Lebensformen in gleichem Abstand umkreist und überblickt“.

Die ISS fungiert demnach als eine Art globaler Spiegel, der uns, der Menschheit, unser globales Handeln vorhält. Mit anderen Worten: Die ISS umschwebt uns als Weltgewissen. Das bestätigt auch Alexander Gerst in seinen Tweets, Fotos und Blogbeiträgen von der Internationalen Raumstation aus, etwa wenn er die kalifornischen Waldbrände aus dem Weltall heraus dokumentiert.

Alexander Gerst: Waldbrände in Kalifornien
„Looking down on countless fires when flying over #California. Tough to see so much destruction, and we can’t do anything about it from up here.“ (twitter.com/Astro_Alex)

Schauplatz Space Station

Die Frage, was der Aufenthalt im All mit uns Menschen macht, hat allerdings nicht nur Philosophen beschäftigt. Die extremen Bedingungen, denen Menschen dort oben in der Schwerelosigkeit ausgesetzt sind, haben auch die Fantasie der Romanautoren und Regisseure entzündet. Und so findet man in dem kleinen Subgenre der Raumstations-Science-Fiction jede Menge menschlicher Dramen, Liebschaften und verrückter Ideen – nur eben „in space“!

Damit sind wir auch wieder beim Anfangsthema angekommen, nämlich tragischen Unfällen auf Raumstationen. So etwa bei Neal Stephensons „Amalthea“ (im Shop), wo die Crew der ISS feststellen muss, dass die alte, klapprige Station zur Arche Noah der Menschheit umgebaut werden muss, als der Mond auseinanderbricht und die Erde untergeht.

Gravity
Gravity, 2014

Es geht aber auch eine Nummer kleiner, beispielsweise in dem Hollywood-Hit und Weltraum-Kammerspiel Gravity, in dem ein Astronaut und eine Astronautin ums Überleben kämpfen. Oder eine Nummer weiter in die Zukunft gedacht, wenn die letzten Menschen auf der Raumstation mit einem Serienkiller konfrontiert werden, wie in den Weltraumthrillern „Tracer“ (im Shop) und „Enforcer“ (im Shop) von dem südafrikanischen SF-Autor Rob Boffard – unserem Weltraumkolumnisten.
 

In der Welt zu Hause

Diese Geschichten zeigen vor allem eins: Die Internationale Raumstation ist viel weniger ein Ding „irgendwo da draußen“ (auch wenn es für mich persönlich jedes Mal ein erhebender Moment ist, die ISS als kleinen Lichtpunkt über das Firmament wandern zu sehen und dabei zu denken: Dort sind auch Menschen). Nein, die ISS ist ein Ort, der zuerst und vor allem zu dieser Welt gehört, und das ist ihre eigentliche Funktion. Darin zeigt sich ihre wahre Größe, dass sie den Astronautinnen und Astronauten – und damit allen anderen Menschen auch – die Zugehörigkeit zu der Erde als Ganzer aufzeigt, oder wie es Alexander Gerst ausdrückt:

„So wie ich mich schon auf Forschungsmissionen in der Antarktis und auf Vulkanen gefühlt habe, so bin ich mir auch hier im All sehr sicher über eine Sache: Hier oben habe ich meinen Platz in der Welt gefunden.“

Herzlichen Glückwunsch also, liebe ISS, zum zwanzigsten Geburtstag!

 

Titelbild: ESA/Alexander Gerst

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Die Eiszeit hat nie aufgehört

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Überwintern kann anstrengend und gefährlich sein. Das wissen die Figuren aus Jasper Ffordes brandneuem Roman „Eiswelt“ (im Shop) nur allzu gut. Eine der wichtigsten Regeln bevor man in den Winterschlaf geht, ist daher, sich ausreichend Körperfett anzueignen. Wie das am besten geht zeigt uns Hauptfigur Charlie Worthing in einer ersten Leseprobe.

 

Fat Thursday

»… Die Länge der Zeitspanne, die Menschen in der Hibernation verbringen, hat sich leicht verändert, hauptsächlich aufgrund von klimatischen Veränderungen und Fortschritten in der Landwirtschaft. Der ›Standardwinter‹ wurde 1775 eingeführt und auf acht Wochen vor und acht Wochen nach der Wintersonnenwende festgelegt. Vom Schlummeranfang bis zum Frühlingserwachen begeben sich 99,99 Prozent der Bevölkerung in den dunklen Abgrund des Schlafes …«

DIE MENSCHLICHE HIBERKULTUR, MORRIS DESMOND

 

 

Fat Thursday hatte sich schon seit langer Zeit als der erste Tag konzentrierten Vollfressens etabliert: Es war der Punkt, an dem man begann, sich mit den neusten Methoden zum Thema »Der schnelle Weg zum Fettansatz« zu beschäftigen und gute Vorsätze zur Vermeidung jeglicher Körperfett reduzierender Aktivität zu fassen. Während man tags zuvor noch hinter einem knapp verpassten Bus herlaufen konnte, ohne dass man schief angesehen wurde, galt ein solches Verhalten tags darauf bereits als Energieverschwendung, die man als beinahe kriminell verantwortungslos betrachtete. In den zwei Monaten bis Schlummeranfang war jede Kalorie gewissermaßen heilig, und man kämpfte um den Erhalt eines jeden Gramms Körpergewicht. Der Frühling wartete nur auf jene, die mit ihren Fettreserven haushalten konnten.

Skinny Pete fiel in Schlaf, war nur Haut und Knochen                                           Skinny Pete fiel in Schlaf, starb nach ein paar Wochen

Bei meinem Job als Stellvertretende Hausverwaltung unterstand ich der generell wohlwollenden Schwester Zygotia, die mit Hingabe delegierte, was wiederum bedeutete, dass die gesamten Feierlichkeiten zum Fat Thursday mehr oder weniger meiner Verantwortung oblagen. Und obwohl ich dadurch mehr Kritik zu fürchten hatte als normalerweise, bot es doch eine willkommene Abwechslung von der alltäglichen Langeweile, die bei der hauswirtschaftlichen Leitung des Geburts- und Erziehungspools St. Granata (Inoffizielles Motto: »Mit uns stimmt die Quote – auch ohne Ihren Beitrag.«) ansonsten auf mich wartete. Im Grunde mussten für den Fat Thursday nur drei Dinge beachtet werden: Man brauchte genug zu essen sowie genügend Stühle und musste aufpassen, dass Schwester Placentia nicht den Gin in die Finger bekam.

Megan Hughes traf als Erste ein. Sie hatte zwölf Jahre im Pool verbracht, bevor ein reiches Paar aus Bangor sie ausgewählt hatte. Nach meinen letzten Informationen hatte sie einen Mann geheiratet, der eine große Nummer beim Mrs.-Nesbit-Konzern war, der eine florierende Kette von Tearooms im traditionellen Stil betrieb, während sie selbst inzwischen zu den Förderern von St. Granata zählte: Wir verdienten gutes Geld damit, Ausgleichskinder gegen Bezahlung Leuten wie Megan zuzuschreiben, für die diese ganze Baby-Geschichte unerträglich nach Bauernhof roch. (Ausgesetzte Kinder galten als Umgehung einer Schwangerschaft, nicht als Vermeidung – ein kleiner, rechtlich aber entscheidender Unterschied.) Es war reine Ironie, dass ausgerechnet sie Karriere bei ABwurF gemacht hatte – dem Amt für Bevölkerungswachstum und rigorose Fruchtbarkeit –, indem sie dafür sorgte, dass andere Frauen ihrer Fortpflanzungspflicht verantwortungsbewusst genügten. Es war schon einige Jahre her, dass Megan und ich uns das letzte Mal gesehen hatten, aber immer, wenn wir das taten, erzählte sie mir, wie sehr sie mich bewundert hatte, als wir aufwuchsen, und dass ich großen Einfluss auf sie gehabt habe.

»Matschbirne!«, rief sie auf spöttisch-aufgeregte Art, »du siehst echt großartig aus.«

»Danke, aber ich heiße jetzt nur noch Charlie.«

»’tschuldigung. Charlie.« Sie hielt kurz inne und dachte nach. »Ich denke immer an dich und das St. Granata.«

»Jetzt auch?«

»Ja. Und«, sie beugte sich etwas näher zu mir, »weißt du was?«

Na bitte.

»Was denn?«

»Ich habe dich echt bewundert, als wir aufgewachsen sind. Wie du immer gelächelt hast, obwohl du unglücklich warst. Du hattest Rieseneinfluss auf mich.«

»Ich war nicht unglücklich.«

»Du hast aber unglücklich ausgesehen.«

»Manchmal trügt der Schein.«

»Das ist wohl wahr«, sagte sie, »aber ich meine es ernst: Du warst auf eine tragische Weise inspirierend, so wie der Versager der Familie, der aber trotzdem immer versucht hat, das Beste aus allem zu machen.«

»Du bist wirklich zu freundlich«, sagte ich, denn schließlich war ich an Megans Art schon lange gewöhnt, »aber es könnte auch schlimmer sein: Ich hätte ohne Takt oder Mitgefühl auf die Welt kommen und hohl, egozentrisch und grässlich bevormundend werden können.«

»Das ist wohl auch wahr«, sagte sie grinsend und legte mir die Hand auf den Arm. »Wir haben ja so ein Glück, du und ich. Hab ich dir erzählt, dass ich bei ABwurF befördert worden bin? Vierunddreißigtausend plus Dienstwagen und Pension.«

»Na, das freut mich aber«, sagte ich.

Sie strahlte.

»Du bist so nett. Aber jetzt muss ich mich beeilen. Bis bald, Matschbirne.«

»Charlie.«

»Richtig. Charlie. Ein Rieseneinfluss.«

Damit marschierte sie den Flur hinunter. Es wäre leicht gewesen, sie von Grund auf zu verabscheuen, aber tatsächlich empfand ich gar nichts für sie.

 

Lucy Knapp war die nächste wichtige Person, die zur Tür hereinkam. Wir hatten uns achtzehn Jahre lang jeden Tag gesehen, bis sie aufs HiberTech Training College wechselte. Im Pool kamen und gingen Freundschaften wie die Gezeiten, aber Lucy und ich waren uns immer nahe gewesen. In den sechs Jahren seit ihrem Auszug hatten wir uns mindestens einmal im Monat gesprochen.

»Hey«, sagte ich, und dann stießen wir mit den Fäusten aneinander, eine über der anderen. Ein geheimes Begrüßungsritual, das wir schon seit einer Ewigkeit so praktizierten.

Lucy und ich waren dafür verantwortlich, dass am Gesicht von St. Somnia im Fries über unseren Köpfen immer noch ein bisschen Bananentoffee klebte, das Überbleibsel einer herrlichen Essensschlacht anno 1996. Ebenso deutlich sah man auch die Delle im Putz, wo Donna Trinket, die unbedingt den Erdgeschoss-Rundenrekord auf Roller Skates hatte brechen wollen, mit richtig viel Schwung zu Fall gekommen war, weil irgendwer aus der Küche Spaghettiringe in Tomatensoße auf dem Boden ausgekippt hatte.

»Stimmt es, dass du zur Prudential-Winter-Überlebensvorsorge gehst?«, fragte sie mit einem Unterton, in dem ich freundliche Verachtung mitschwingen hörte.

»Ich würde alles tun, um aus diesem Loch rauszukommen«, antwortete ich. »Und es ist schließlich auch nicht so, dass ich dann nur Hibernations-Schutz mit optionaler Neueinstufung und obligatorischer Transplantationserstattung verkaufen kann, sondern auch Lebens-, Zahnersatz-, Feuer- und KFZ-Versicherungen, von Frostschäden gar nicht zu reden. Was hältst du davon?«

»Ich kann mich vor Gleichgültigkeit kaum halten.«

»Geht mir auch so, aber ich sag nur: Morphenox.«

Zwar würde ich die ersten zehn Jahre bei der Prudential nur den Mindestlohn bekommen, aber dennoch war es die Sache wert. Nicht der Arbeit wegen, die war so fad wie Schmelzwasser, aber es gab einen anderen Bonus: Die Versicherung würde meinen Anspruch auf Morphenox vom St. Granata ohne Unterbrechung transferieren. Ich würde also im wahrsten Sinn des Wortes ruhig schlafen können. Trotz strenger vertraglicher Verpflichtungen und des Mangels an Flexibilität, die der Job mit sich brachte, war das eine Karriereentscheidung gewesen, über die ich nicht lange hatte nachdenken müssen. Ich würde endlich hier rauskommen, aber sämtliche pharmazeutische Privilegien mitnehmen können.

 

»Hey«, sagte ich, »hast du gehört, dass Ed Dweezle den Nacht-Fandango getanzt hat?« (Slangausdruck für »zum Nachtwandler werden«. Die Wandler selbst bezeichnete man gern als Spreu, Leergut, Ausgeknipste oder Hirntote. Wiedergänger war die wohl höflichste Bezeichnung, aber praktisch gesehen befanden sie sich eher in einem »pseudobewussten und mobilen vegetativen Zustand«.)

»Ja«, antwortete Lucy. »Hab ich.«

Dweezle hatte immer schon Probleme gehabt, sein Gewicht zu halten. Oft hatten wir ihm etwas von unserem Essen zugesteckt, damit er zurechtkam. Ich weiß nicht, wie er es geschafft hatte, drei Winter allein zu überstehen, nachdem er nicht mehr im St. Granata lebte, aber es hatte vermutlich eine Stange Geld gekostet. In seinem vierten Winter war er zu leichtgewichtig in die Hib gegangen, wenn auch randvoll mit Morphenox, und drei Wochen vor Frühlingserwachen waren ihm die Ressourcen ausgegangen. Nach seiner Nachtwandlung hatte man ihn zunächst umgewidmet und irgendwo oben im Norden als Straßenkehrer eingesetzt, und acht Monate später war er ausgeschlachtet worden.

»Nützlich bis über den Tod hinaus«, sagte Lucy, »wie das Unternehmen in seinem Slogan immer verkündet.«

Mit besagtem Unternehmen meinte sie HiberTech, das Morphenox herstellte, geeignete Nachtwandler umwidmete und dann ihr Transplantationspotential kontrollierte. Ihre Nachtwandler-Politik entsprach stark – manche sagten sogar: perfekt – dem Modell der Vertikalen Integration. Ein anderer Slogan lautete: Außer dem Gähnen ist alles von Nutzen.™

Ich ging mit Lucy aus der Lobby in den Großen Saal.

»Mir ist bei diesen Pool-Wiedersehenstreffen nicht ganz wohl«, sagte sie. »Insgesamt war es eine ganz gute Erfahrung, aber ich mochte ja nicht jeden hier.«

»Es gab halt immer ein paar Idioten dazwischen«, stimmte ich ihr zu.

»Arschlöcher und Heilige halt.«

Wir mischten uns unter die anderen Pooler und begrüßten sie mit Handschlag, Umarmung oder Nicken, je nach ihrem Platz auf der genau festgelegten Respekt- und Zuneigungsskala. Williams, Walter, Keilly, Neal, der andere Walter, der andere Williams und McMullen, die darauf einigermaßen weit oben standen, waren alle da. Kurz überlegte ich, ob ich etwas zu Gary Findlay sagen solle, aber er hatte mich kaum gesehen, als er sich auch schon von mir abwandte unter dem Vorwand, sich noch ein Bier aus der Kühlbox holen zu wollen. Seit unserem zwölften Lebensjahr hatten wir kein Wort mehr miteinander gewechselt, seit dem Tag, als er aufhörte, mich herumzuschubsen – nachdem ich ihm ein Ohr abgebissen hatte. (Falls es jemanden interessiert: Es schmeckte salzig und löste sich erstaunlich leicht vom Kopf.)

Ältere Ehemalige, die ich nicht kannte, standen neben jenen, die aktuell hier großgezogen wurden, und denen, die aus meiner Zeit noch übrig waren. Zwischen allen Poolkindern bestand ein gewisses Band, wie in einer Familie. Davon abgesehen waren viele von uns aufgrund der Einsatzfreude der Schwesternschaft tatsächlich miteinander verwandt.

Lucy wollte die Oberen Schwestern begrüßen, die auf dem Podium saßen und wie sieben Herzoginnen Hof hielten. Sie kicherten albern über irgendeinen kleinen Witz; offenbar hatte sich die strenge Haltung, die sie sonst gewöhnlich zeigten, durch den dreifachen Angriff von besonderem Anlass, reichlichem Essen und (zumindest für jene von ihnen, die gerade nicht schwanger waren) dem billigsten Sherry, der für Geld zu haben war, ein wenig verflüchtigt.

»Sieh da, unsere liebe Lucy Knapp«, säuselte Schwester Placentia, als wir näher traten, und sie umarmte Lucy, während sie mich ignorierte wie ein Möbelstück, das an seiner gewohnten Stelle stand. »Erzähl doch mal, was es Neues gibt.«

Lucy berichtete höflich, dass sie bei HiberTech inzwischen das Express-Ausbildungsprogramm zum Manager absolvierte. Ich stand stumm daneben. Trotz der hin und wieder etwas unberechenbaren Betreuung und Erziehungsweise waren die meisten Schwestern einigermaßen in Ordnung. Ohne sie wäre ich gar nichts gewesen – selbst weniger beeinträchtigte Kinder als mich ließ man gewöhnlich untergewichtig in ihren ersten Winter gehen. Es gab schlimmere Pools als diesen.

»Faszinierend, meine Liebe«, bemerkte Schwester Placentia, nachdem Lucy einen kurzen Überblick über ihre aktuellen Tätigkeiten gegeben hatte. »Besteht vielleicht die Möglichkeit, dass du uns einen Edward als Küchenhelfer organisieren kannst?«

»Das verbesserte Modell, das im nächsten Jahr erscheinen soll, könnte dazu vielleicht taugen«, antwortete Lucy zurückhaltend. »Ich werde dann mal schauen, was sich machen lässt.«

Edward oder Jane waren die Standardnamen, die umgewidmete Nachtwandler erhielten. Sobald ihre kannibalistischen Tendenzen ausgemerzt und die zerfaserten Überreste ihres Verstands wieder einigermaßen verdrahtet worden waren, konnten sie einfache Aufgaben übernehmen. Allerdings, wie manche meinten, nur so einfache, dass sie im Haushalt gar nicht sinnvoll einzusetzen seien. Das St. Granata in Port Talbot hatte einen Edward, der abwaschen konnte (Allerdings nur Teller, Untertassen, Töpfe, Pfannen und Besteck. Tassen, Krüge und Becher stellten eine zu hohe Anforderung dar.), aber meist wurden sie für ausschließlich repetitive Aufgaben eingesetzt, beispielsweise zum Türenöffnen, Wasserpumpen oder Gräbenausheben. Ich hatte von einem gehört, der in der Lage war, einen Gabelstapler zu fahren, und angeblich gab es einen Nachtwandler, der Zahlenreihen addierte, aber ich wusste nicht, ob das stimmte.

»Wie sieht’s aus, Matsch?« Die Stimme erklang so unvermittelt an meinem Ohr, dass ich zusammenzuckte. Es war Schwester Zygotia, die ich besonders gern mochte, obwohl oder vielleicht gerade weil sie recht exzentrisch war. Sie hegte eine Vorliebe für Erdnussbutter und Anchovis, pflegte über den Winter ihre Schlafzimmertür zuzunageln, »um sich vor umherziehendem Wintervolk zu schützen«, und bestand darauf, dass Pudding nach dem Zufallsprinzip mit Currypulver versetzt werden musste, um uns, wie sie sagte, »besser auf die unvermeidlichen Enttäuschungen des Lebens vorzubereiten«.

»Geht so«, sagte ich. »Der Haushalt für das nächste Jahr ist zwar recht knapp, aber wir sollten zurechtkommen, solange die Ausgleichszahlungen nicht gesenkt werden und wir nur einmal in der Woche Fleisch auf den Tisch bringen.«

»Gut, gut«, sagte sie geistesabwesend, dann legte sie mir die Hand auf die Schulter und bugsierte mich in eine Ecke. »Hör mal, ich will zwar nicht die Überbringerin schlechter Nachrichten sein, aber mir bleibt nichts anderes übrig. Mutter Fallopia hat von deiner Bewerbung bei der Prudential erfahren, und, nun ja, sie hat mit dem dortigen Personalbeamten gesprochen. Deine Bewerbung wurde … annulliert.«

Die Nachricht überraschte mich zwar zugegebenermaßen nicht wirklich, aber es war dennoch kein gutes Gefühl. Frustration hat einen ganz eigenen Geruch, wie heißer Toffee. Ich sah Schwester Zygotia an, die mir versicherte, es täte ihr wirklich leid, und ich sagte, dass es schon in Ordnung sei, ja, wirklich, und dann war ich froh, dass man mich bat, dabei zu helfen, Schwester Contractia wieder zur Ordnung zu rufen, die ihre Aufgaben als Türsteherin etwas enthusiastischer versah, als man insgesamt für nötig hielt. Schwester Contractia hatte viel übrig für eine gute Schlägerei, und daher dauerte es zehn Minuten, um sie zu besänftigen und die Platzwunde über ihrem Auge zu versorgen. Als ich zurückkam, erzählte Lucy Knapp gerade allen von ihrer ersten Überwinterung bei HiberTech, und dass sie tatsächlich schon einmal eine Wintersonnenwende erlebt hatte. Sie zeigte allen den Messingstern, der an ihrer Bluse steckte, um es zu beweisen.

»Hast du durch den Schlafmangel eine Narkose bekommen?«, fragte ich und schob meinen Frust ganz hinten in mein Bewusstsein, wo er auf gute und alteingesessene Gesellschaft stieß.

»Sobald man seinen Schlafzyklus auf den Spätsommer umgestellt hat, geht’s«, sagte Lucy, »aber die erste Saison kann schon ganz schön hart sein. Das einzig Gute war: Während man sich eigentlich den Arsch abfriert, gefressen oder als Hauspersonal zwangsrekrutiert wird, kann man immerhin davon halluzinieren, dass man auf der Gower-Halbinsel sitzt, einen Falschen Banana Daiquiri (Ein Löffel Nesquik Banane und zu gleichen Teilen Rum und Robinson’s Barleywater Lemon) schlürft und vom Worm’s Head Bar & Grill aus den Sonnenuntergang beobachtet.«

Lucy war nicht die einzige Person aus dem Pool, die inzwischen überwinterte, sondern nur die bisher letzte, die sich dazu entschlossen hatte. Ein Poolkamerad namens Billy DeFroid war drei Jahre zuvor in den Winterkonsuldienst eingetreten, und man hatte sich von ihm nur das Beste erzählt, bis er von einer Rotte Nachtwandler gefressen worden war, die sich in Llandeilo zusammengerottet hatten. Immerhin hatte er länger durchgehalten als die meisten anderen. Die durchschnittliche Lebenserwartung für einen Novizen für den ersten Winter »mit den Stiefeln im Schnee« lag bei nur sechs Wochen. Der Winter verzieh nicht den kleinsten Fehler, und kleine Winterwunderneulinge verbrachten ihre erste Saison am besten hinter verschlossenen Türen und kümmerten sich um Papierkram.

»Lucy«, bat ich, »erzähl doch mal von der Narkose.«

»Das ist … am Anfang ganz schön heftig«, sagte sie. »Ich dachte, meine Beine wären aus Schokolade. Je kälter es wurde, desto brüchiger fühlten sie sich an. Ich machte mir Sorgen, ob ich überhaupt würde abhauen können, falls irgendwelche Nachtwandler kämen.«

»Solche Träume habe ich manchmal auch«, warf Maisie Rogers ein, »dass ich laufe und laufe, aber nicht fliehen kann.«

Träume. Niemand, der etwas auf sich hielt, hatte Träume. Wer von uns Zugang zu Morphenox hatte, tauschte jegliche unbewussten Schlafaktivitäten gegen eine dramatische Verringerung an gespeichertem Energiebedarf. Morphenox löschte die Fähigkeit zum Träumen und sorgte im Austausch für eine höhere Überlebenschance. Zum ersten Mal seit Menschengedenken konnte man damit tatsächlich erwarten, den Winter zu überleben. Wie hieß es so schön in der Werbung: »Morphenox bringt Ihnen den Frühling!« Im Kleingedruckten hätte vielleicht der Hinweis stehen können: »Aber nur, wenn Sie das Glück, das Geld oder die gesellschaftliche Stellung haben, die Ihnen den Zugang zu diesem Medikament ermöglichen.«

»Du musst diese ganze Traumgeschichte nicht wie ein Ehrenabzeichen vor dir hertragen«, rüffelte Megan, die sich jetzt ebenfalls zu uns gesellt hatte.

Wir alle nickten zustimmend. Die meisten Menschen, die sich ohne pharmazeutische Hilfe durch den Winter quälen mussten, sprachen nicht darüber. Es war, als trüge man eine Mütze mit dem Slogan »Bürger 3. Klasse«.

Aber Maisie hatte kein Problem damit.

»Ich schäme mich nicht«, sagte sie ungehalten, während wir anderen stöhnten und mit den Augen rollten, »und ich werde mir das auch nicht einreden lassen. Davon abgesehen sind Träume auch lustig und zufällig, und auf diese Weise werde ich wenigstens niemals ein Nachtwandler, der sich durch den Winter schleppt, Käfer und Vorhänge und Menschen und sonst irgendwelchen Kram frisst und dann sein Dasein als Ersatzteillager beschließt.«

»Wenn du ausgeknipst wirst, dann weißt du ja nicht, dass du nur noch eine Hülse bist«, stellte ich fest. »Darin liegen Tragik und Segen dieses Zustands – kein Hirn, keine Sorgen.«

Natürlich zeitigte Morphenox einige unvermeidliche Nebenwirkungen: entsetzliche Kopfschmerzen, einige furchterregende Halluzinationen – und von zweitausend Anwendern, die den Winter gut überstanden, stand einer als Nachtwandler wieder auf. Die 50 Prozent der Bevölkerung, denen Morphenox gewährt wurde, waren es schließlich eben, die zu sabbernden Hülsen mit schweren Problemen in der persönlichen Hygiene und einer erschreckenden Vorliebe für Kannibalismus werden konnten. Dessen ungeachtet glaubte aber jeder, dass es sich lohnte, das Risiko einzugehen.

Als das Essen hereingebracht wurde, breitete sich Unruhe im Saal aus. Wir stellten uns zu einer ordentlichen Schlange auf, und der Geräuschpegel nahm aufgrund der Vorfreude auf das Mahl deutlich zu. Während wir warteten – Schwestern, Kinder und Unterernährte wurden zuerst versorgt –, unterhielten wir uns über die blöde Idee, die der selbsternannte »Extremschlaf«-Guru Gaer Brills für den trendbewussten Winterschläfer entwickelt hatte, und natürlich auch darüber, wer diese Runde von Albion sucht das Supertalent gewinnen würde.

»In Jutesäcke eingewickelt und mit Gänseschmalz eingeschmiert mit Minimal-BMI auf Bäumen pennen«, schnaubte Lucy bezüglich der Ideen von Gaer Brills. »Da wird es den ganzen Winter über Hipster regnen.«

Was Albion sucht das Supertalent betraf, hatten wir nach dem Überraschungsgewinner des letzten Jahres – Bertie, einem Dackel mit Südwester, der stepptanzen konnte – keine Ahnung, wer dieses Jahr das Rennen machen würde, und daher wandte sich die Unterhaltung bald einem Thema zu, das in jüngster Zeit die Nachrichten dominierte – die gestiegene Wintersterblichkeit und was man dagegen tun könnte. Gemäßigte Stimmen schlugen Baby-Werbung und finanzielle Anreize für Schwangerschaften vor, um den Rückgang der Bevölkerungszahlen zu kompensieren, die Hardliner wiederum drängten auf öffentliches Anprangern von Kinderlosigkeit, die Abschaffung aller Austragungsbefreiungen und Einstellung aller Kinderüberschreibungsprogramme. Zwar hatte der Bevölkerungszuwachs die Winterverluste bisher auffangen können, aber ein gelegentlicher Knick in der Geburtenstatistik führte dennoch oft zu Panik, was rechten Hardlinern immer ausgesprochen gelegen kam.

»Ich habe gehört, dass der Winterschwund mit einem Schlag aufgefangen werden könnte, wenn man das Mindestalter für Schwangerschaften senken würde«, sagte Megan, die jetzt zu uns gestoßen war.

»Das würde aber bedeuten, dass man den Begriff Kind neu definieren muss«, sagte Lucy, »und ich bin mir nicht so sicher, ob das wünschenswert oder überhaupt machbar wäre.«

»Man könnte sicher das Geschlechterverhältnis auf 70:30 trimmen«, überlegte ich laut.

»Damit noch weiter herumzufummeln wäre eine wirklich schlechte Idee«, sagte Lucy. »Ich habe jetzt schon genug Schwierigkeiten, ein anständiges Date zu finden.«

»Ich würde sagen, man sollte die enormen staatlichen Subventionen für HiberTech einfrieren«, erklärte Maisie in ihrem besten Revoluzzerton. »Und anstelle Morphenox nur wenigen zukommen zu lassen, sollte es eine machbare Strategie geben, um sicherzustellen, dass alle Bürger am Schlummeranfang den Ziel-BMI erreichen. Wir sollten die elitäre Hibernation nicht akzeptieren, sondern stattdessen auf gleichwertigen Schlaf für alle hinarbeiten – das ist fair und gerecht, würde die Überlebenschancen erhöhen und den Winterschwund mindern, und dann würde auch eine geringere Geburtenrate ausreichen.«

Wir alle verstummten sofort. Das war die zentrale Forderung und das schon seit Langem formulierte Ziel der einst hochgeachteten Opposition, aus der inzwischen der strikt illegale Interessensverband RealSleep – Kampagne für Echten Schlaf geworden war. Dort hielt man natürlichen Schlaf für den einzig wahren, lehnte eine pharmakologische Lösung für den Winterschwund als moralisch verwerflich ab – erst recht, wenn sie nicht allen zugänglich war – und ging davon aus, dass Menschen träumen mussten, um langfristig ihre Gesundheit zu erhalten. ( Das inoffizielle Motto von RealSleep lautete, frei nach Shakespeare: Was auch für Träume kommen mögen.) Wer sich öffentlich zu ihren Ansichten bekannte oder auch nur darüber diskutieren wollte, war entweder sehr mutig oder sehr verrückt. Maisie war vermutlich eher mutig.

»Die Subventionen werden vor allem für die Forschung verwendet, damit eines Tages die gesamte Hibernation in der schützenden Hülle von Morphenox stattfinden kann«, sagte Lucy verteidigend. »Don Hector war zwar ein Genie, aber selbst er stieß an Grenzen. Eines Tages aber werden wir so weit sein.«

»Das wissen wir nur, weil deine Kumpels bei HiberTech das behaupten«, gab Maisie zurück. »Das ist ein Mechanismus zum Aufrechterhalten sozialer Regeln. Don Hector

hat uns nicht befreit, er hat eine Klassengesellschaft geschaffen, in der die einen gut und die anderen schlecht schlafen. Wir sollten ein einziges großes, globales Winterschlafdorf sein, mit gleichem Schlaf und gleicher Würde.«

Entgeistertes Einatmen wurde hörbar. Das war die Missionsaussage von RealSleep, eine Art Ruf zu den Waffen.

»Wir sollten über so etwas nicht reden«, sagte Lucy, die plötzlich wesentlich ernster wurde. »Ich könnte große Probleme bekommen, weil ich dich nicht melde. Und Don Hector war ein großer Mann, der Millionen Menschen durch Morphenox gerettet hat.«

»Mein Dormitologe hat mir gesagt, dass demnächst eine neue Formel auf den Markt kommt«, berichtete Megan. »Morphenox-B. Was ist denn da dran?«

»Und ich habe etwas über das Projekt Lazarus gehört«, fügte ich hinzu, da meine Neugier jetzt meine Vorsicht überwand.

»Wenn man die Hitze der HiberTech-Gerüchteküche kanalisieren könnte«, sagte Lucy nach kurzem, verärgertem Schweigen, »dann ließe sich damit vermutlich für alle Zeiten der Winter vertreiben.«

»Du hast Megans Frage nicht beantwortet«, sagte Maisie.

Lucy und Maisie starrten einander feindselig an, und Lucys Augenlider flatterten. Ich mochte sie sehr, aber sie war eine loyale HiberTech-Mitarbeiterin, durch und durch.

»Ich muss Megans Frage auch nicht beantworten«, sagte sie langsam und akzentuiert.

Das Gespräch wurde unterbrochen, da jetzt Unruhe an der Tür entstand. Die Gäste machten eine Gasse frei, um Leute durchzulassen, und das hieß entweder, dass ein Promi oder jemand von großer Wichtigkeit erschien. Oder, wie sich herausstellte, beides.

Es waren zwei Leute, die sich gepflegt unterhielten. Zum einen unsere Mutter Fallopia, hochgewachsen, elegant, streng und mit einem Habit, der so schwarz war, dass sie wie ein nonnenförmiges Loch in der Luft erschien. Neben ihr stand ein großer Mann in dem weißen, gesteppten Kampfanzug eines Winterkonsuls. Der Goldene Sonnenwendstern, der an seinem Kragenaufschlag steckte, wies darauf hin, dass er mindestens zwanzig Winter erlebt hatte. Zwei identische Bambis mit Walnussholzgriffen ragten aus den Gurten über seiner Brust, und seine Haltung vermittelte eine gewisse stille Würde. Er war dunkelhaarig, von hoher Statur und hatte die Aura eines Filmstars aus alter Zeit. Außerdem sah er Euan, Sian, Maisie, Daphne, Billy und Ed Dweezle ein wenig ähnlich – aber dafür gab es einen Grund.

»Wow«, sagte Lucy, die ebenso beeindruckt war wie wir anderen – und wie vermutlich alle Anwesenden. »Das … das ist Jack Logan.«

 

Jasper Fforde: „Eiswelt“∙ Roman ∙ Aus dem Englischen von Kirsten Borchardt ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2018 ∙ 656 Seiten ∙ Preis des E-Books € 11,99 (im Shop

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Das Beste aus 2018

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Dieses Jahr war auf ganz eigenartige Weise von Science-Fiction geprägt. Mit dem Tod von Ursula K. Le Guin ist eine große Autorin von uns gegangen, während der Erfolg chinesischer Science-Fiction ungebrochen frischen Wind ins Genre pustet. Aber auch darüber hinaus hat das, was wir Zukunft nennen, unsere Gegenwart in 2018 geprägt: Der ideologische Kampf um die Anerkennung, dass die Klimakatastrophe real und immer bedrohlicher ist, ist dieses Jahr in eine neue Phase eingetreten – Stichwort Sommer, Stichwort Diesel. In unserer Rückschau auf das Jahr und den Empfehlungen für Weihnachten spiegeln sich diese Überlegungen wider. Denn Science-Fiction, also Literatur, die denkt, was kommt, und damit sagt, was ist, bleibt relevant.

In diesem Sinne wünschen wir Ihnen frohe Weihnachten, erholsame Feiertage und einen guten Rutsch ins neue Jahr!

Ihre diezukunft.de-Redaktion

 

Elisabeth Bösl  Elisabeth Bösl

 

 

Buch

Kim Stanley Robinson New York 2140

Die Klimakatastrophe wird kommen, wenn wir weiterhin so tun, als wäre die Erderwärmung eine Erfindung der Wissenschaft (oder der Chinesen). Aber wie geht es danach weiter? Darüber schreibt Kim Stanley Robinson in „New York 2140“ (Heyne, im Shop), und er kommt zu dem Schluss, dass die Menschheit niemals aufgeben, sondern immer einen Weg finden wird. Wir brauchen mehr solcher „optimistischen Katastrophenromane“!

Klassiker

Die Expedition der Space Beagle

Wieder eines meiner Lieblingsbücher aus meiner Kindheit, das die „Meisterwerke“-Behandlung erfahren hat: „Die Expedition der Space Beagle“ (Heyne, im Shop) von Alfred Elton van Vogt. Noch einmal hinter Cœurls Geheimnis kommen, die Besatzung vor den telepathischen Riim retten und sich ordentlich vor dem Ixtl gruseln, das zwischen den Sternen lauert – und sich gleichzeitig darüber freuen, dass man das jetzt, als Ach-so-Erwachsener, immer noch kann!

Space Opera

Starfire – Imperium von Spencer Ellsworth

Eine coole Heldin, die nicht auf den Mond gefallen ist? Check. Ein galaktisches Imperium, das soeben in einer Rebellion von geklonten Supersoldaten gestürzt wurde? Check. Der neue Herrscher hat ordentlich Dreck am Stecken, und die Heldin findet es heraus? Check. Und dazwischen lauern die Shir, eine Spezies, die ganze Welten fressen. Mehr Weltraumoper als „Starfire – Imperium“ (Heyne, im Shop) von Spencer Ellsworth geht nicht!

TV-Serie

The City and the City

Auch 2018 gab es jede Menge Serien und Filme, die wirklich gut waren. Aber eine, auf die ich mich dieses Jahr am meisten gefreut habe, war The City and the City, die BBC-Two-Serienadaption von China Miévilles Roman mit David Morrissey als Inspector Tyador Borlú, der in der unmöglichsten Stadt der Welt den Mord an einer Studentin aufklären muss. Leider gibt es noch keine DVD dazu, aber vielleicht erfüllt mir die BBC ja nächstes Jahr diesen Wunsch!

Game

Call of Cthulhu – The Official Video Game

Als alter „Call of Cthulhu“-Pen-and-Paper-Zocker war ich natürlich gespannt auf die digitale Umsetzung „Call of Cthulhu – The Official Video Game“ (Cyanide Studio), die ich aber nicht allein auf der PS4 zocke – der Mann muss dabei sein und in gruseligen Momenten helfen. Leider hat „mein“ Edward Pierce keine Gelegenheit ausgelassen, um zu trinken und wahnsinnig zu werden, weshalb ich jetzt beim Spielen von den verwackelten Bildern reisekrank werde.

Ding

Eufy Robovac 11s

Dieses Jahr habe ich tatsächlich am Cyber-Monday teilgenommen (sonst verweigere ich Montage, die eine Woche dauern, kategorisch!) und mir den Eufy Robovac 11s angeschafft. Der kleine Staubsaugerroboter erledigt seitdem das, was der Mann und ich mit Inbrunst hassen: die Bodenreinigung. Und das leise und gründlich. Nur zusehen darf man ihm dabei nicht, das treibt den Blutdruck hoch.

Fail

Krups F30908 ProAroma Glas-Kaffeemaschine, im modernen Design, schwarz

Die „Krups F30908 ProAroma Glas-Kaffeemaschine, im modernen Design, schwarz“, die wir Anfang des Jahres gekauft haben. Die Kanne ist so gestaltet, dass man den Deckel nicht einfach aufklappen kann, sondern ihn komplett abmontieren muss. Möge derjenige im Hause Krups, der für diesen Fail verantwortlich war, in Zukunft jede einzelne E-Mail mit einem PlayStation-Controller schreiben müssen!
 

Highlight

Airbus Defence and Space in Bremen

Mein Highlight dieses Jahr war der Besuch bei Airbus Defence and Space in Bremen, wo ich unter anderem die Gelegenheit hatte, einen Blick auf das Orion Service Modul zu werfen, ehe es in die USA geflogen wurde! Außerdem kann man dort das Astrolab sehen und durch das Columbus-Modul der ISS streifen (und man darf sogar die zahllosen Schalter drücken, denn, so der Security-Mitarbeiter: „Isʼ ja nur’n Modell, da passiert nix!“).
 

  Stefanie Brösigke

 

 

Buch

Naomi Alderman Roman Die Gabe

Was wäre, wenn Frauen plötzlich die Fähigkeit hätten, mit ihren Händen Stromschläge zu verteilen und sich dadurch die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern umdrehten? Wäre unsere Welt dann wirklich eine bessere? Dieser Frage geht Naomi Alderman in ihrem preisgekrönten Roman „Die Gabe“ (Heyne, im Shop) auf den Grund. Völlig zu Recht von Barack Obama zu einem der besten Bücher des Jahres gekürt.
 
 

Klassiker

Die linke Hand der Dunkelheit Ursula K. Le Guin

Zu Ehren der Grande Dame der Science-Fiction, die traurigerweise im Januar verstorben ist, muss ich einfach „Die linke Hand der Dunkelheit“ (Heyne, im Shop) von Ursula K. Le Guin empfehlen. Ein Roman voll unglaublicher Ideen und einer überbordenden Fantasie, der den Leser wahrlich neu zu denken lehrt, und ohne den Bücher wie „Die Gabe“ vielleicht niemals geschrieben worden wären.

Space Opera

Das Imperium der Stille von Christopher Ruocchio

Zugegeben, „Das Imperium der Stille“ (Heyne, im Shop), das Romandebüt des jungen US-Autors Christopher Ruocchio, ist mit seinen fast tausend Seiten ein ziemlicher Klopper. Die Lebensbeichte seines Helden, des Sonnenfressers Hadrian Marlowe, ist jedoch so spannend – es wird geliebt, gehasst, intrigiert und gekämpft –, dass die tausend Seiten wie im (Raumschiff)flug vergehen.
 
 
 

Film

Neil-Armstrong-Biopic Aufbruch zum Mond

Das Neil-Armstrong-BiopicAufbruch zum Mond (Universal) von Damien Chazelle gibt nicht nur einen interessanten Einblick in das Leben des ersten Mannes auf dem Mond, sondern überzeugt auch mit atmosphärischen Bildern und emotional eindringlichen Szenen. Wenn Neil Armstrong, Buzz Aldrin und Mike Collins in die Rakete der Apollo 11-Mission klettern, glaubt man die Anspannung förmlich mit den Händen greifen zu können.
 
 
 
 
 
 

Comic

Asterix – Der Große Graben von Goscinny/Uderzo

In einem kleinen gallischen Dorf herrscht Krieg zwischen den Bewohnern, deshalb trennt ein Graben die linke von der rechten Dorfhälfte. Dass sich die Kinder der beiden sturen Häuptlinge ineinander verlieben, trägt in „Asterix – Der Große Graben“ von Goscinny/Uderzo (Egmont-Ehapa) nicht zur Entspannung der Situation bei. Als dann auch noch die Römer angreifen, können nur noch Asterix, Obelix und Miraculix helfen …

Ding

Caffettiera

Dieses kleine silberne Ding namens Caffettiera hat mir nicht nur dieses 2018, sondern auch alle Jahre meines Erwachsenenlebens den Start in den Tag versüßt. Einfach Wasser und Espressopulver einfüllen, Caffettiera auf den Herd stellen, und – Voilà! – schon hat man, wie Sheldon Cooper sagen würde, ein echt italienisches Vergnügen!

Fail

 AfD bei den Landtagswahlen

Das gute Abschneiden der AfD bei den Landtagswahlen im Herbst ist mir wirklich sauer aufgestoßen. Fürs nächste Jahr könnte man vielleicht überlegen, wie man sein Missfallen mit den etablierten Parteien zum Ausdruck bringt, ohne antidemokratische und rechtsradikale Kräfte zu unterstützen.

Highlight

Cory Doctorow

Cory Doctorow hat uns dieses Jahr in München besucht. Ein ebenso sympathischer wie hochintelligenter und vielseitig gebildeter Autor, mit dem sich zu unterhalten eine wahre Freude ist.
 
 

 

  Christian Endres

 

 

Buch

Matt Ruff Lovecraft Country

Das Warten auf die deutsche Ausgabe von Matt RuffsEpisodenroman „Lovecraft Country“ (Hanser) hat sich gelohnt. Hinter dem cleveren Remix von Pulp-Elementen verbirgt sich ein brandaktueller Roman über den Rassismus gegenüber Schwarzen in den USA. 
 
 

Klassiker

Harper Lee Wer die Nachtigall stört

Ich muss gestehen, dass mir dieses Jahr wenig Science-Fiction-Klassiker unterkamen. Aber ich habe Harper Lees Südstaaten-Meisterwerk „Wer die Nachtigall stört …“ (Rowohlt) erneut und dabei erstmals in der Neuübersetzung gelesen, und der Roman hat seinen Wow-Faktor und seinen Lieblingsbuchstatus bewahrt. 

Space Opera

Lavie Tidhars Central Station

Lavie Tidhars buntes Zukunftsmosaik „Central Station“ (Heyne, im Shop) lässt die gesamte Science-Fiction als vielfältige Ideenliteratur hochleben. Klar, dass es in den Kapiteln im Band, die alle einen Kurzgeschichten-Vibe haben, auch einige Space-Opera-Elemente gibt. 
 
 
 

TV-Serie

Black Spot

Die französische Mystery-Serie Black Spot (Amazon Prime) ist das Beste, was man zur Zeit auf allen Streaming-Plattformen finden kann. Ein düsterer Genre-Mix zwischen Krimi und Weird Fiction, atmosphärisch wie sonst was, handwerklich perfekt inszeniert. Problem: Danach schmeckt alles andere erstmal schal.
 

Comic

Terry Moore Motor Girl

Manchmal, wenn die Luft scheinbar raus ist, kommt ein Comic wie die deutsche Gesamtausgabe von Terry Moores neuer Serie „Motor Girl“ (Schreiber & Leser) aus dem „Strangers in Paradise“-Universum daher und erinnert einen daran, wieso man Panel-Geschichten liebt und sogar lebt.
 
 
 
 
 
 
 
   

Ding

Tom Gauld The Snotty Bookshop

50 Postkarten vom schottischen Cartoonisten Tom Gauld im Hardcover-Einband: „The Snotty Bookshop“ (Drawn & Quarterly). Also eine Art inoffizieller Best-of-Band seiner witzigen, genial reduzierten Cartoons zum Thema Literatur, dessen dicke Seiten man raustrennen, beschreiben, adressieren und verschicken kann. Theoretisch.

Fail

Disenchantment

Matt Groenings neue Fantasy-Trickserie Disenchantment (Netflix) hat die richtigen Zutaten und eine tolle Optik, aber extreme Probleme mit Timing und Spannung. Die Folgen sind auch wieder viel zu lang, ein echtes Netflix-Dilemma. Qualitativ bisher kein Nachfolger für „Die Simpsons“ und „Futurama“.

Highlight

Basement Tales Vol. 2: Sperrgebiet

Autorenfreuden: Eine meiner Science-Fiction-Kurzgeschichten hatte auf ihrem langen Weg einiges an Pech (z. B. wurde die Heftroman-Serie, in der sie hätte kommen sollen, 2011 kurz nach Zusage eingestellt). Nun, nach sieben verflixten Jahren, habe ich endlich ein schönes Plätzchen gefunden: „Basement Tales Vol. 2: Sperrgebiet“ (The Dandy Is Dead).

 

 
 

 

  Bernd Kronsbein

 

 

Buch

Jasper Fforde Eiswelt

„Der Winter naht“ – Wie oft haben wir das in den letzten Jahren gehört, aber in diesem Roman ist er wirklich da. Und wie! Jasper Fforde entwirft in „Eiswelt“ (Heyne, im Shop) eine Alternativwelt, in der quasi ständig Eiszeit ist, und das mit so vielen irren Einfällen, dass man fast auf die Knie gehen möchte. Und es ist nicht nur spannend, es macht auch Spaß! Denn Humor hat Fforde auch. Besser geht es nicht.
 
 

Klassiker

John Crowleys Maschinensommer

Postapokalypse mal ganz anders: Wer genug hat von Zombies, Mutanten und Kannibalen, wer einfach einmal Abwechslung haben möchte, der sollte unbedingt einen Blick in John Crowleys „Maschinensommer“ (Heyne, im Shop) riskieren, ein Roman, der ziemlich singulär in der SF-Landschaft steht. Crowley erzählt von einem posttechnologischen Zeitalter – aber wie, das muss man selbst gelesen haben.
 

Space Opera

Christopher Ruocchio Das Imperium der Stille

Vielleicht eher: ganz große Space Opera. Denn Christopher Ruocchio hat mit „Das Imperium der Stille“ (Heyne, im Shop) einen Schmöker geschrieben, wie es ihn nur alle Jubeljahre mal gibt. Einen gigantischen Entwurf, die Lebensgeschichte eines Helden und Mörders vor einem faszinierenden, schillernden Hintergrund. Etwas für lange Abende, an denen man so richtig abtauchen kann in diese grandiose Welt.
 
 

Film

The Endless Benson & Moorhead

Benson & Moorhead haben mit The Endless (Meteor Film) einen Film gemacht, der mal etwas riskiert, der zwar bekannte Zutaten aus der Phantastikküche benutzt, aber dennoch etwas liefert, was man so noch nicht gesehen hat. Es ist die Geschichte von zwei Brüdern, die zu einer Sekte zurückkehren, weil der eine etwas in seinem Leben vermisst. Das ist bisweilen leicht krumm, aber sehr sehenswert.
 

Comic

On a Sunbeam (First Second) von Tillie Walden

„On a Sunbeam“ (First Second) von Tillie Walden ist die Buchausgabe eines Webcomics, 530 Seiten des größten Talents, das dass Medium seit Jahren hervorgebracht hat. Eine Geschichte über eine Crew von Raumfahrerinnen, die Artefakte im All restaurieren. Auch eine Liebesgeschichte. Und insgesamt ein Traum von Buch. Optisch, inhaltlich, in jeder Beziehung. Walden ist 22. Was da wohl noch kommt? 
 
 

Game

Just Shapes and Beats

Abseits von Triple-A-Exzessen gibt es immer wieder diese kleinen Spiele, die einfach nur durch eine simple Idee bestechen und schlicht Laune machen. Bei dem Space-Shooter „Just Shapes and Beats“ (Berzerk Studio) muss man den Angriffen seiner Feinde ausweichen – und das im Takt von Beats. Das ist irre schwer, aber man schleicht sich immer wieder zur Switch des Sohns zurück – während er Latein lernt.
 
 

Fail

Sommer 2018

Ein toller Sommer, das war früher ein Grund zur Freude. Jetzt ist es Grund zur Panik. Man kriegt allmählich das Gefühl, in präapokalyptischen Zeiten zu leben, weil so viel aus den Fugen zu geraten scheint. Dystopien, das waren immer nur Gruseltexte, jetzt rücken sie einem zunehmend auf den Pelz. Ist das echt? Ist das fake? Ist man zu alt? Zu doof? Kommt der Maschinensommer (s.o.)? Ach je …

Highlight

Helligkeit fällt vom Himmel James Tiptree

Da nehme ich gerne einfach mein Highlight von 2016 wieder her – denn jetzt ist die James Tiptree Edition von Septime abgeschlossen, mit „Helligkeit fällt vom Himmel“ (Septime) ist der letzte Band erschienen. Das ist ein Anlass zur Freude, denn das Werk dieser Autorin verdient viel mehr Aufmerksamkeit. Auch über 30 Jahre nach ihrem Tod sind diese Texte frisch und aufregend. Unfassbar.
 

 

  Sascha Mamczak

 

 

Buch

Donna J. Haraway Unruhig bleiben

Donna J. Haraways „Unruhig bleiben“ (Campus) ist das kleine Wunder eines akademischen Textes (genauer gesagt: einer Sammlung von Texten), der die Science-Fiction nicht nur ernst nimmt, sondern: ERNST. Was Haraway allein aus dem Begriff extrahiert, ist erstaunlich. Ein Buch für alle, die denken, sie wüssten über das Genre Bescheid.
 
 
 

Klassiker

Arkadi und Boris Strugatzki Das Experiment

„So etwas wie Kommunismus gibt es nicht, und die Sowjetunion hat es gemacht.“ Über dieses berühmte Zitat kann man sich amüsieren. Oder man schreibt einen großen Roman, der genau diese Absurdität in all ihren zynischen, atemberaubenden, niederschmetternden, phantastischen Facetten illustriert. Arkadi und Boris Strugatzkis „Das Experiment“ (Heyne, im Shop) ist dieser große Roman.
 
 
 
 
 

Space Opera

2001 – Odyssee im Weltraum

2001 – Odyssee im Weltraum (Warner Home Video). Noch ein Klassiker, zugegeben. Aber im November starb der kanadische Schauspieler Douglas Rain, der mit seiner Stimme Stanley Kubricks und Arthur C. Clarkes Bordcomputer HAL 9000 jene mörderische Freundlichkeit verlieh, die das Zeitalter der künstlichen Intelligenz einläutete. Also: Sie können zu Weihnachten Alexa verschenken – oder diesen Film.

 

 
 
 

TV-Serie

Maniac Netflix

Ich habe ja kein Netflix, aber Cary Fukunagas zehn Episoden von Maniac (Netflix) haben es über Umwege (über die ich mich lieber ausschweige) doch zu mir geschafft. Der Regisseur gilt als schwierig, was in der Filmbranche oft nichts anderes heißt als: Hier arbeitet jemand intensiver an seiner Kunst, als man ihm zugestehen will. „Maniac“ katapultiert den Inner-Space-Irrsinn der New Wave in unsere Zeit.
 
 
 

Comic

Shaun Tan Reise ins Innere der Stadt

Shaun Tan: „Reise ins Innere der Stadt“ (Aladdin). Dass Shaun Tan zeichnen und malen kann, wussten wir längst. Aber er kann auch schreiben. Zum Beispiel so: „Als du starbst, brachte ich dich zum Fluss. Und als ich starb, wartetest du am Ufer auf mich. Und so verging zwischen uns die Zeit.“ Ein Buch zum Träumen, zum Weinen, zum Verlieben.
 
 

Ding

Futuro

In München steht ein … Futuro-Haus. Kein Scherz. Was eigentlich als Kurzzeitinstallation gedacht war, hat nun seinen festen Standort vor der Münchner Pinakothek der Moderne gefunden: Matti Suuronens in den Sechzigerjahren als Skihütte konzipiertes, ellipsoides Kunststoffhaus „Futuro“. Muss man gesehen haben – eine vergangene Zukunft in all ihrer kuriosen Pracht.

Fail

Sommer 2018

Der Sommer 2018. Nicht nur einer der heißesten aller (gemessenen) Zeiten, sondern auch einer der längsten. Und hatte man da noch die Hoffnung, nun könnte auch dem letzten Ignoranten klar werden, dass hier auf jeder Ebene Handlungsbedarf besteht, wurde man im Winter eines Besseren belehrt. Die Kohlendioxid-Emissionen sinken nicht, sie steigen. Wir ziehen das offenbar durch – mit allen Konsequenzen.
 

Highlight

Die amerikanischen Kongresswahlen

Die amerikanischen Kongresswahlen Anfang November. Dass sich Donald Trump einen Tag danach zum Sieger erklären würde, hat wohl niemanden überrascht, aber dass seine Propaganda auch von europäischen Medien übernommen wurde, war dann doch erstaunlich. Also nochmal: Trump hat diese Wahlen nicht gewonnen. Das heißt nichts für den Präsidentschaftswahlkampf 2020. Aber es heißt etwas.

 

Sebastian Pirling  Sebastian Pirling

 

 

Buch

Jasper Ffordes Eiswelt

Einmal war ich beinahe in Wales, und zwar als ich ein Semester in Liverpool studierte. Noch beinaher können Sie Wales erleben, wenn Sie Jasper Ffordes neuesten Wurf „Eiswelt“ (Heyne, im Shop) lesen. Der spielt nämlich in einem Wales, in dem die Eiszeit nie aufgehört hat. Der Inhalt ist ganz fabelhaft und eigentlich nicht nacherzählbar. Also lesen Sie Fforde und besuchen Sie Wales im ewigen Winter!

Klassiker

Ray Bradburys Fahrenheit 451

Wie fühlen Sie sich eigentlich, wenn Sie lesen? Ich bin immer wieder verblüfft darüber, dass ich mithilfe von bedrucktem Papier tatsächlich in die Gedanken eines anderen Menschen eintauchen kann. Ist dies nicht das eigentlich Subversive an Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ (Heyne, im Shop)– dieses Jahr übrigens neu verfilmt –, dass die Lesenden die wahren Rebellen sind? Also, schenken Sie Rebellion!
 
 

Space-Opera

Christopher Ruocchios Roman Das Imperium der Stille

Im Weltall ist alles größer, so viel steht fest. Jupiter ist größer als die Erde, Beteigeuze größer als die Sonne – und in Christopher Ruocchios Roman „Das Imperium der Stille“ (Heyne, im Shop) fühlt sich sogar die Galaxis größer an als unsere. Dabei beweist Ruocchio spielerisch, dass galaktische Imperien, geheimnisvolle Aliens und gewaltige Weltraumschlachten so aufregend und modern sein können wie nie zuvor.
 
 

Comic

Poorly Drawn Lines von Reza Farazmand

Das fiese an guten Comicstrips ist ja, dass sie, nachdem man sie mit einem Caffé Latte in der Hand und einem amüsierten Schnauben inhaliert hat, einen dann doch nicht mehr loslassen. Wie Kuchenkrümel in der Tastatur setzen sie sich in einem fest – und „Poorly Drawn Lines“ (online) von Reza Farazmand liefert besonders trockene, ironische Krümel. Die Buchausgabe war sogar ein New York Times-Bestseller. 
 

Game

Carrera Go!!! Plus

Carrera-Bahn fahren – kennt das noch jemand? Meine Kids haben letztes Jahr eine bekommen, und seitdem sind meine Frau und ich süchtig danach. Wer saugt Staub, oder wer bringt die Kinder ins Bett? Ein Zehn-Runden-Battle entscheidet. Zumal man auf der dazugehörigen App Carrera Go!!! Plus (Carrera Toys) dabei Mini-Games spielen kann, etwa Scheiben wischen oder Räder wechseln – bis die Kinder mit uns schimpfen.
 
 
 
 
 

TV-Serie

Adventure Time

Dieses Jahr ist das Letzte. Zumindest für Adventure Time (Cartoon Network), die wohl beste Cartoon-Serie aller Zeiten, die nun nach zehn Staffeln beendet wurde. Die Story: Finn, ein Junge mit Bärenfellmütze, und Jake, ein gelber, gummiartiger Hund, wohnen in einem Baumhaus und erleben Abenteuer. Aber was für welche! Diese Serie ist der postmoderne Bildungsroman in Zeichentrickform. Punkt.

Fail

Smartwatch und Fitnesstracker

Ich trage nach wie vor weder Smartwatch noch Fitnesstracker. Waaas? (Dissonante Streicher im Hintergrund …) Ja, ich verweigere mich der Quantifizierung. Die Zahl der Haare auf meinem Haupt (es werden weniger) oder der Körperfett-pro-Frustrations-Koeffizient (er wird mehr) sind nicht einmal mir selbst bekannt – und das soll auch so bleiben. „Fail better“, heißt es doch. Das habe ich vor.
 
 

Highlight

Die Science-Fiction-Lounge Think Ursula!

Man stelle sich vor, es gäbe eine große Veranstaltung, auf der die Vielfalt und die Möglichkeiten der Science-Fiction präsentiert würden, und das vor einem breiten Publikum. Ha! Muss man sich nicht vorstellen – das ist wirklich passiert. Die Science-Fiction-LoungeThink Ursula! fand diesen Herbst auf der Frankfurter Buchmesse statt, und es kamen Hunderte, um Ursula K. Le Guin zu würdigen und das Genre zu feiern. 
 
 
 
 
 
 

 

Alexander Schlicker  Alexander Schlicker

 

 

Buch

Weltenzerstörer Cixin Liu

Frei aus dem Herzen: Ich liebe das Werk von Cixin Liu, seit mir „Die drei Sonnen“ in die Finger kam. Da es fast zu einfach wäre, an dieser Stelle nun „Der dunkle Wald“ zu nennen, nehme ich einfach die ebenfalls dieses Jahr erschienene Novelle „Weltenzerstörer“ (Heyne, im Shop), die mit ihrer Balance zwischen chinesischer Tradition und globalem Klimadenken erneut Lius Genie unterstreicht.

 

 

Klassiker

Mars-Chroniken  Ray Bradbury

Ich muss gestehen, dass Ray Bradbury für mich lange Zeit „nur“ der Autor von „Fahrenheit 451“ war – völlig zu unrecht natürlich. Denn wie virtuos visionär Bradbury in den Erzählungen der „Mars-Chroniken“ (Diogenes) mit dem sich wandelnden Status der Menschheit bei der Kolonialisierung des roten Planeten hantiert, ist heute noch gleichermaßen höchst unterhaltsam und kritisch klug durchdacht. 

Space Opera

Christopher Ruocchio Das Imperium der Stille

Wenn es in diesem Jahr einen Roman gab, der mich schon mit seiner schieren Größe auf allen Ebenen beeindruckt hat, dann Christopher Ruocchios „Das Imperium der Stille“ (Heyne, im Shop). Ein gewaltiges Erzähluniversum, viele Völker, epochale Kriege und eine hochspannende wie angenehm vielschichtige Erzählerfigur sind nur einige der Qualitäten dieses Debüts. 

 

TV-Serie

Legion

Da mich in Sachen Film dieses Jahr – bis auf Aufbruch zum Mond vielleicht – im Science-Fiction-Bereich nichts wirklich vom Hocker gerissen hat, komme ich lieber gleich zur Serie. Da setzte sich wie schon 2017 Legion (Fox) bei mir durch. Leute, bitte gebt Noah Hawleys surrealem Psycho-Meta-Meisterwerk im Superhelden-Kosmos endlich die Anerkennung, die es verdient. Allein die Bildsprache ist ein Hochgenuss.

Game

Monster Hunter: World

Hierzulande lange eher ein Geheimtipp für Multiplayer-Jäger, startete mit „Monster Hunter:  World“ (Capcom) die Reihe endlich in globale Blockbuster-Sphären durch. Eine lebendigere und schönere Future-Fantasy-Spielewelt hat es bisher kaum gegeben, und der grandios ausbalancierte RPG-Mix aus Crafting, Jagen, Taktik und Kämpfen gegen fulminant abwechslungsreiche Biester macht nahezu alles richtig.

 

 
 
 
 
 

Ding

Fugentorpedo

Ja, ich kucke trotz Carsten Maschmeyer gerne die Investoren-Dauerwerbe-Show Die Höhle der Löwen und lasse mich bei Bedarf zum Kauf einzelner Produkte überzeugen. Da meine Frau und ich schon öfter die körperlichen Leiden einer häuslichen Fugenreinigung auf uns genommen haben, ist der Fugentorpedo tatsächlich ein echter Problemlöser. Gutes muss nicht immer fancy sein. 
 
 
 
 

Fail

Tier- und Umweltschutz Fail

Ich möchte gar nicht anfangen, über den ganzen Etikettenschwindel in Sachen Tier- und Umweltschutz bei nahezu allen Regierungen dieser Welt zu lamentieren, sondern frage mich oft genug im Alltag, warum so viele Menschen selbst bei Kleinigkeiten etwa noch auf unnötiges Plastik „vertrauen“ und dessen Folgen einfach verdrängen. Allein kann niemand die Welt retten, aber bei sich selbst einfach mal anfangen geht schon. 

 

Highlight

#MeToo!

#MeToo! Allein, dass die längst überfällige Veränderung des gesellschaftlichen Umgangs mit alltäglichem und nach wie vor medial überall grassierendem Sexismus nicht, wie viele Themen, nach einem „Anfangshype“ wieder gedanklich beiseitegeschoben wird, macht mir ebenso Mut wie die Tatsache, dass viele Menschen Machtmissbrauch endlich als das anerkennen, was es ist: ein Problem, das uns alle angeht.
 
 
 
 
 

 

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