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Was wir bisher über „Nightflyers – Die Nachtgleiter“ wissen

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Letztes Wochenende war es endlich so weit, zumindest für die amerikanischen George-R.-R.-Martin-Fans: „Nightflyers – Die Nachtgleiter“ (im Shop) feierte auf Syfy Premiere. Seitdem gab es fast jeden Tag eine neue Folge zu sehen; ein Kompromiss zwischen klassischer wöchentlicher Ausstrahlung und modernem Bingewatching. Zwar müssen die Fans in Deutschland noch etwas warten, bis die Serie auf Netflix erscheint (ein genaues Startdatum steht nach wie vor noch nicht fest), aber hie und da erhascht man bereits erste Einblicke. Hier sind die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Film und Buchvorlage - mit ein paar winzig kleinen Spoilern!

1. Nahe Zukunft statt ferne Welten

Anders als der preisgekrönte Kurzroman spielt die Serie nicht in der fernen Zukunft, sondern im Jahr 2093. Das bedeutet zum einen, dass uns thematisch einiges „näher“ sein dürfte als im Roman. Das haben wir schon in den Trailern und Teasern gesehen, in denen die Folgen des Klimawandels und der Umweltverschmutzung ein großes Problem waren (und unter anderem dazu führen, dass Schiffe wie die Nightflyerüberhaupt losgeschickt werden). Dafür müssen wir auf die „1.000 Worlds“, wie das Universum heißt, in dem George R. R. Martin seinen Kurzroman seinerzeit angesiedelt hat, verzichten – zumindest vorerst. Showrunner Jeff Buhler hat in mehreren Interviews angedeutet, dass er das recht enge Universum mit bislang einer Welt gerne um 999 andere Welten erweitern würde. Es könnte also durchaus sein, dass uns in weiteren Staffeln „Nightflyers – Die Nachtgleiter“ alte Bekannte aus Martins Universum begegnen. Noch wurde die Serie allerdings nicht verlängert.

 

2. Die Nightflyer ist das fortschrittlichste Raumschiff der Menschheit

Anders als in der Buchvorlage ist die Nightflyer das modernste Schiff, das die Erde zu bieten hat, und sie wird ausgeschickt, um Kontakt zu Aliens aufzunehmen, die der Menschheit vielleicht einen Ausweg von dem Planeten bieten können, den sie selbst kaputtgemacht hat. In Martins Kurzroman ist die Nightflyer ein nicht sonderlich großes oder modernes Frachtschiff, das von Expeditionsleiter Karoly D’Branin angemietet wird, der von einer mysteriösen Alien-Spezies namens Volcryn besessen ist, die seit Anbeginn der Zeiten durch die Galaxis zieht (lesen Sie hier einen kurzen Textausschnitt über die Volcryn). Das Schiff kann zwar Passagiere befördern, aber es ist alles andere als komfortabel für die doch recht lange Reise (die Crew muss beispielsweise in den Frachträumen schlafen). Gut, das erste richtige Langstreckenschiff der Menschheit dürfte auch nicht sehr viel geräumiger sein, aber zumindest sollte es Passagierkabinen geben …

 

3. Die Crew ist das eigentliche Problem

Weder Horror-, noch SF- oder gar George-R.-R.-Martin-Fans dürfte das überraschen: Jede/r aus der Besatzung der Nightflyer bringt seine oder ihre eigenen und nahezu unverarbeiteten Probleme mit an Bord, die dann wiederum zu den Problemen aller werden. Die TV-Crew unterscheidet sich etwas von der im Buch, bleibt der Vorlage aber ziemlich treu: Captain Roy Eris (David Ajala) bleibt stets in seiner Kabine, beobachtet die Crew durch seine Kameras und zeigt sich nur als Hologramm. Expeditionsleiter Karl D’Branin (Eoin Macken) ist keineswegs so besessen von den Volcryn wie sein Gegenstück auf dem Papier, sondern will eigentlich nur zurück zur Erde, wo seine Familie auf ihn wartet. Aus Agatha Marij-Black wurde Dr. Agatha Matheson (Gretchen Moll), die als Psychiaterin für den schwierigsten Passagier verantwortlich ist: den Telepathen Thale (Sam Strike), der mitkommen muss, sollte eine sprachliche Verständigung mit den Aliens nicht möglich sein. Thales Fähigkeiten sind so stark ausgeprägt, dass er seinen Reisegefährten Visionen und Bilder in den Kopf setzen und sie damit manipulieren kann – was im Buch zwar vermutet, aber nie bewiesen wird. Daneben befinden sich noch die Biologin Lommie (Maya Eshet), die mittels eines implantierten Ports direkt mit dem Schiffscomputer sprechen kann, und Xenobiologe Rowan (Agus Sampson) an Bord, allerdings fehlt von den beiden Linuisten aus der Romanvorlage (Dannel und Lindran) jede Spur. Das macht „Nightflyers – Die Nachtgleiter“ dafür dann mit Melantha Jirl wieder wett …

 

4. Melantha, wie sie sein sollte

Einer der größten Kritikpunkte, die es sowohl an den verschiedenen Covern des Romans als auch an der Filmumsetzung von 1987 gab, war die Darstellung von Melantha Jirl: Martin beschrieb sie als schwarze Frau, doch Verleger und Filmemacher haben sie kurzerhand weiß und blond gemacht. Sehr zum Missfallen des Autors, der wiederholt Kritik am „Whitewashing“ einer seiner Figuren geäußert hat. Es sei ihm wichtig gewesen, so Martin, dass bei Melantha diesmal alles richtig gemacht wird, und war mit der Wahl von Schauspielerin Jodie Turner-Smith mehr als zufrieden. Melantha ist genetisch modifiziert, was sie im Roman schneller, stärker und schlauer macht als ihre Kollegen. In der Serie dürfte es ähnlich sein; es heißt, ihre Gene seien so verändert worden, dass sie perfekt ans Leben im Weltraum angepasst ist – was immer das nun genau heißen mag, erfahren wir vermutlich erst, wenn die Serie hier angelaufen ist. Dass sich der Autor hier persönlich ins Casting eingemischt hat, bedeutet keinesfalls, dass Melantha vor dem Grauen zwischen den Sternen sicher ist. Nicht vergessen: wir sprechen von George „Red Wedding“ Martin! Ich werde mich beim Schauen also sicherheitshalber nicht allzu sehr mit ihr anfreunden!

George R. R. Martin: Nachtgleiter. In: Traumlieder II • Storysammlung • Aus dem Amerikanischen von Maike Hallmann • Wilhelm Heyne Verlag, München 2015 • S. 263-403 • erhältlich als E-Book oder gedrucktes Buch • Preis des E-Books: € 11,99 • im Shop

Bilder © Syfy.com

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Intergalaktischer Alpdruck

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Unter einigermaßen Eingeweihten trägt Christian Keßler den Ehrentitel des „Filmgelehrten“. Das klingt nach Bücherstaub auf der Hirnrinde, Fusseln im Bart und knochentrockener Akademiker-Autorität – jedenfalls nach einem, der viel weiß und sein Wissen bereitwillig teilt. Wie akkurat Letzteres auf Keßlers Schaffen zutrifft (wie lautet eigentlich das Wort für die filmbezügliche Entsprechung von „Belesenheit“?), ist bequem überprüfbar, indem man hin und wieder sein Facebook-Profil besucht oder, noch besser, es unverzüglich abonniert. Fast täglich gibt es dort (anlässlich einer Blu-ray-Veröffentlichung, einer TV-Ausstrahlung oder einfach so) druckreife Filmkritiken, von denen ausnahmslos jede sofort Lust auf den jeweiligen Film macht. Dabei wird die Kinohistorie in kompletter Breite und die Bewegtbild-Kunstform in all ihren Erscheinungsformen berücksichtigt. Sein System kennt keine Grenzen – bei dem, was dieser Mann rein mengenmäßig und dann auch noch überaus produktiv schöpferisch-weiterverarbeitend wegschaut, kann eigentlich kaum noch Zeit zum Schlafen und Schalstricken übrigbleiben.

Mit den erwähnten anderen Vorstellungen, die der Begriff der Gelehrsamkeit auslösen mag, haben die Texte Keßlers hingegen sehr wenig zu tun. Zu einem Regisseur, dessen Handschrift sehr verschieden gestimmte Filme hervorbringt, schreibt er: „Finde ich aber gut, wenn Leute Harfe UND Schlagzeug können.“ Der mit Daniel Radcliffe in der Hauptrolle besetzte Spukhaus-Film „Die Frau in Schwarz“ von 2012 wird punktgenau in „Harry Potter und das Geheimnis der hageren Oma“ umbenannt. Über Len Wisemans dösige Schauwert-Krawallschachtel „Underground“ (2003) liest man: „Die Charakterisierung der Figuren geht stramm gegen Null, alles ist Bewegung, alles kracht und zischt, jeder Griff zur Margarine ein eigener Videoclip.“ Und jene Grobgeschnitzten, denen Filme – wie reflektiert oder unreflektiert auch immer – wenig mehr sind als die eigenen Erwartungen bitteschön niemals übersteigende, den aktuellen Produktionsstandards genügende Dienstleistungsträger, werden charmant zur Ordnung gerufen, denn „… glaubt mir, Freunde, es gibt eine besondere Hölle für Idioten, die sich im Kino lautstark über Sachen beömmeln, die sie nicht verstehen, und damit den anderen ihren Kuckspaß kaputt machen!“

Das ist der Sound, um den es geht. Alle Zitate sind Christian Keßlers neuestem Werk namens „Endstation Gänsehaut“ entnommen. Nach Büchern über die Wonnen des Exploitation-Films (Wurmparade auf dem Zombiehof, Der Schmelzmann in der Leichenmühle), über die immensen Reize des Verkannt-Obskuren (Das versteckte Kino. Die besten Filme, von denen Sie niemals gehört haben!) sowie über die bizarren Blüten des amerikanischen Pornokinos der 1970er Jahre (Die läufige Leinwand; sämtliche Titel sind im Berliner Martin Schmitz Verlag erschienen) stellt diese „persönliche Reise durch das Horrorkino“ wohl sein bisheriges Magnum Opus dar. Dies liegt nicht nur am mit 400 Seiten stattlichen Umfang, sondern vor allem daran, dass ein ziemlich saftiger Batzen von Keßlers großem Herzen besonders leidenschaftlich für das Horror-Genre schlägt. Mit anderen Worten: Wer Christian Keßlers spezielle Kunst der Filmgeschichtsschreibung kennt und schätzt, hätte sich nichts inniger wünschen können als ein ganz den Mumien, Monstren und Mutationen gewidmetes Lesebuch aus seiner Feder (mit „Das wilde Auge“ unternahm er 1997 einen Streifzug durch den italienischen Horrorfilm, der aber schon lange vergriffen ist). Endlich betritt Roland Deschain den Dunklen Turm!


„Scanners“

Die acht Abschnitte bzw. Großkapitel folgen grundsätzlich der Archetypologie jener Kreaturen und Unholde, um deren beunruhigend deviantes bis grässliches Erscheinungsbild, Treiben und Wirken sich filmischer Horror klassischerweise dreht: Geister, Vampire, Werwölfe, Mumien, Zombies, Hexen, irre Wissenschaftler, irre Killer. Das verschafft sicheren Grund unter den Füßen, der dann jeweils chronologisch durchmessen wird und immer wieder in sumpfige Randzonen (in denen es monsterpersonell weniger klassisch-generisch zugeht) führt. „Trollhunter“ (2010) hat im Kontext der Found-Footage-Erzählmethode seinen Platz bei den Geistern. Der Zombie-Film gehört zu den Subgenres, bei denen das Kameraauge weit aufgerissen wird, wenn es um körperliche Drastik und Deutlichkeit geht, weshalb an entsprechendem Ort etwa Peter Jacksons matschiger Alien-Slapstick „Bad Taste“ (1987) auftaucht, welcher die Splatter-Ästhetik ins „Cartoon-Gemetzel“ wendet. In unmittelbarer Nachbarschaft der Hexen lebt sündiger Höllenzauber wie Clive Barkers „Hellraiser“ (1987) oder Michele Soavis schwarzromantische Grabstein-Groteske „DellaMorte DellaMore“ (1994). Von H.P. Lovecraft Adaptiertes und Inspiriertes findet sich ebenso unter den verrückten Wissenschaftlern wie das Œuvre des konsequenten kanadischen Grenzgängers David Cronenberg, dessen Science-Fiction-Body-Horror wie „Scanners – Ihre Gedanken können töten“ (1981), „Videodrome“ (1983), „Die Fliege“ (1986) oder „eXistenZ“ (1999) sich der „artige[n] Befolgung der Genreregeln“ entschieden widersetzt. Den so folgerichtigen wie anrührenden Epilog des Buchs bildet die Würdigung von Tod Brownings „Freaks“ (1932) als ultimativer, weil das Monströse humanistisch ins Recht setzender Horrorfilm, der nahelegt, „dass die scheinbar Normalen die wahren Monster sein können.“ Stimmiger hätte Christian Keßler dieses voluminöse Dokument seiner Liebe zum Genre nicht zum Abschluss bringen können.


„Planet der Vampire“; auch großes Bild ganz oben

„Endstation Gänsehaut“ wird als „persönliche Reise“ ausgewiesen. Das Persönliche darf hier allerdings nicht als Fürsprache oder Synonym einer handfeste Bewertungskriterien nivellierenden Meinungs- oder Geschmackswillkür (Wat den eenen sin Uhl, is den annern sin Nachtigall) verstanden werden. Vielmehr setzt es ohne geringsten autoritären Habitus die Tonart der eigenen Stimme, die einlädt, ein individuelles und doch so populäres Steckenpferd kunstvoll mitzureiten, als Kür, mit wohlwollender Offenheit sowie der im Vorwort angekündigten Absicht, überwiegend „das Preisenswerte [zu] preisen“ und den dummen Unfug nicht als solchen zu würdigen, sondern schlicht zu beschweigen. Der entspannte Ton verschleiert dabei keineswegs, mit was für sauberen Kategorien gearbeitet wird. Aber es klingt eben immer warm-erzählerisch statt kühl-analytisch, wenn Keßler zum Beispiel über Mario Bavas als knalliges „Spielzeugwelt-Zelluloidgedicht“ daherkommende Weltraum-Grusel-Oper „Planet der Vampire“ von 1965 schreibt, diese „Zauberwelt [gleiche] einem intergalaktischen Alpdruck, der nicht aus den Fernen des Weltalls zu kommen scheint, sondern aus der tiefsten Nacht im Inneren des Menschen.“ Der Clou dieser Horrorkino-Annäherung besteht gewissermaßen darin, dass man sich kaum eine zärtlichere Weise vorstellen kann, in der über Filme gesprochen wird, die – zumindest auf den ersten Blick – wenig Zartes, sondern Derbes und Grässliches in Erscheinung treten lassen. Das Buch und sein Autor bestätigen die These Hans Schifferles: „Horrorfilme machen sensibel, nie und nimmer verrohen sie, denn sie handeln von Differenzierungen, Relationen und Feinheiten.“

Inzwischen wird auch im deutschsprachigen Raum nicht selten und viel Lesenswertes zum Thema publiziert, aber „Endstation Gänsehaut“ bewegt sich, nicht zuletzt dank des schieren, großzügig mit Plakatmotiven aus aller Welt illustrierten und per Titel-Index erschließbaren Materialreichtums, eindeutig in der Standardwerks-Klasse. Das Standardwerk ist nach der Gelehrtheit also der zweite Erkennungswert mit staubig-akademischer Aura, dessen Maßgaben Christian Keßler auf gründlich entstaubende und eigenwillige Art erfüllt. Mehr lehrreicher, lustweckender und anmutiger Stoff zum Kino des Schreckens ist hierzulande zwischen zwei Buchdeckeln nicht zu haben.

Christian Keßler: Endstation Gänsehaut. Eine persönliche Reise durch das Horrorkino• Martin Schmitz Verlag, Berlin 2018 • Hardcover • 400 Seiten • € 29,80

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Die Zeit der Erde läuft ab

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Dass Tom und Stephan Orgel ein Garant für spektakuläre Welten und groß angelegte Abenteuer sind, haben die beiden Brüder schon mehrfach unter Beweis gestellt. Mit „Terra“ (im Shop) haben die Autoren nun ihren ersten Science-Fiction-Roman vorgelegt, der den Leser in die Welt der Raumfrachterpiloten entführt, die Güter und Waren zwischen Erde, Mars und Mond transportieren. Doch manche der Container bergen ein tödliches Geheimnis. Ein Geheimnis, das bald die gesamte Menschheit bedroht …

 

NEUNUNDZWANZIG MINUTEN

Drei Tage zuvor

 

»Du hast noch Sauerstoff für neunundzwanzig Minuten.«

Kaltes Grauen stieg in Charlotte auf. Unwillkürlich klopfte sie gegen die Seite ihres Helms, als würde das genügen, um die Anzeige auf ihrem Display zu verändern. Die Grafik in einer Ecke ihres Helmmonitors zeigte dasselbe an, was die Stimme in ihrem Ohr gerade verkündet hatte. »Audrey, das kann nicht stimmen! Meine Tanks waren voll, als ich sie angelegt habe, und ich bin erst seit einer knappen Stunde draußen. Ich müsste noch für mehr als elf Stunden Sauerstoff haben und nicht für verdammte neunundzwanzig Minuten! Und was ist mit der Energieanzeige los?« Der Balken im Display, der den Füllstand ihrer Batterien anzeigte, hatte bereits die 50%-Marke unterschritten.

»Beruhige dich, Charlotte.« Ihre AVA, ihr Advanced Virtual Assistant, hatte die beruhigend samtige Stimme einer französischen Schauspielerin, die ihre Großmutter zutiefst vergöttert hatte. Sie selbst hatte ihr diese Stimme ausgesucht, genauso wie ihren Namen.

»Sag mir bloß nicht, dass ich mich beruhigen soll, Audrey! Wag es ja nicht, oder ich kratz dich aus dem Speicher und ersetze dich durch …«

Eine Injektionsnadel aus der Med-Einheit in ihrem Helm stach in ihren Nacken. Beinahe sofort breitete sich ein eisiges Gefühl in ihr aus, während das Beruhigungsmittel wirkte.

»Ich bitte um Entschuldigung, doch deine erhöhte Atemfrequenz verbraucht den Restvorrat schneller als notwendig.«

»Fick dich«, murmelte sie, dieses Mal jedoch halbherzig. Dann seufzte sie und atmete tief durch. Diesen Luxus gönnte sie sich. »Welche Möglichkeiten habe ich noch, Audrey?«

»Die Schleusen des zentralen Schachts stehen offen. Bis zum Rig sind es zweihundertfünfzehn Meter. Bis zum habitablen Bereich des Rigs solltest du es in zwölf Minuten schaffen.« Charlotte hatte das fast übermächtige Bedürfnis, sich die Stirn zu massieren, doch das war ein Luxus, den ein Raumanzug nicht bot. Sie stampfte auf. Die Luke unter ihren Füßen vibrierte und erzeugte ein dumpfes Dröhnen in ihrem Anzug. »Ich wiederhole mich: Ich stehe auf Schott 10-B, und es ist geschlossen wie … etwas verschlossen sein muss, um den verdammten Weltraum draußen zu halten. Oder die Luft drin. Du weißt, was ich meine.«

Ein leiser Signalton ertönte. Dann kehrte die Stimme der AVA zurück. »Das ist nicht möglich. Mir liegen keine Fehlfunktionen vor. Schott 10-B ist geöffnet und gesichert.«

Charlottes Blick zuckte unwillkürlich zur Sauerstoffanzeige. Sechsundzwanzig Minuten. »Wir haben hier offensichtlich mehr als nur ein Problem«, murmelte sie. »Audrey, das Ganze wird langsam unübersichtlich. Mein Anzug hat eine Fehlfunktion. In dem verdammten Container ist etwas anderes, als darin sein sollte, du kannst das Problem nicht sehen, das verdammte Schott hat eine Fehlfunktion, die Kommunikationssysteme sind down, der Lift ist tot, und mir geht die verdammte Luft aus.« Sie atmete tief durch, im vollen Bewusstsein, dass das nicht dazu beitrug, ihre Vorräte zu schonen. »In Ordnung. Audrey, geh einfach davon aus, dass ich nicht durch den Zentralschacht will. Aus welchen Gründen auch immer. Welche Möglichkeiten habe ich dann? Lebend?«

Die AVA schien zu zögern. »Es kommt darauf an, wie lange du ohne Sauerstoff bei Bewusstsein bleiben kannst.«

»Welche Möglichkeiten?«, wiederholte Charlotte eindringlich.

»Du kannst über die Außenhaut gehen.«

»Gut, und wie mache ich das?«

»Geh durch die Container 7-4 und 7-15. Die Schleuse von 7-4 ist bereits geöffnet. In beiden Einheiten sind dicht gepackte Erzlasten mit den vorgesehenen Notgängen.«

Charlotte verschwendete keine Luft auf eine Antwort. Stattdessen begann sie zu klettern. Es waren fünfzehn Meter bis zu den Einstiegsluken in die LastContainer, und der Liftmechanismus funktionierte nicht – egal was Audrey behauptete. Also blieben ihr nur die Leitern in den Wänden des Schachts. Fünfzehn Meter waren vielleicht nicht viel. Aber mehr als genug, wenn man in einem VacSuit mit voller Ausrüstung steckte und offenbar Luft verlor. Selbst wenn man nur gegen ein Drittel der Erdanziehungskraft anzukämpfen hatte.

Als Charlotte die Luken erreichte, hatte sie wertvolle Minuten verloren. Also hielt sie sich nicht damit auf, eine Pause einzulegen, sondern schob sich durch das Schott in Container 7-4. Den Laderaum, in dem ihre Probleme angefangen hatten. Audrey mochte darauf bestehen, dass dieser Container Erz enthielt, doch das, was sie mit ihren eigenen Augen sah, passte ganz und gar nicht dazu. Aber es bereitete ihr Magenschmerzen. Beinahe genauso viele wie der Gedanke daran, dass irgendetwas ihrer AVA permanent falsche Daten lieferte. Nicht nur Sensordaten, sondern auch Kamerabilder und wer wusste was noch. Möglicherweise waren sogar die Daten ihres Displays falsch, und sie hatte mehr Sauerstoff, als sie dachte. Erneut klopfte sie gegen ihren Helm. Das Display blieb unverändert. Aber das war garantiert nichts, worauf sie einfach warten wollte.

Die Astronautin erreichte das gegenüberliegende Schott und gab den Notfallcode ein. Wider Erwarten glitt es sofort beiseite und gleich darauf das nur einen Meter entfernte Gegenstück. Die Notbeleuchtung im angrenzenden Container begann zu glühen. Eilig zog sie sich hindurch. Dieser Container hier enthielt tatsächlich vorraffiniertes, gepresstes Erz, und ihre Magnetstiefel hinterließen bei jedem Schritt Abdrücke in der dicken, rötlichen Staubschicht. Im schummrigen Halbdunkel lag zehn Meter vor ihr, auf der anderen Seite des Doppelstegs, das Außenschott des Containers. Dahinter wartete das Nichts auf sie. Plötzlich empfand Charlotte ein unbestimmtes Grauen. Dafür war sie nicht gemacht. Das war nicht das, wofür sie hier war. Sie hasste das All, das wurde ihr in diesem Augenblick klar. Es war absurd und doch seltsam logisch. Seit acht Jahren flog sie Transportschiffe, davon ein halbes Dutzend Flüge auf der Goldilocks-Route zwischen Erde und Mars, doch bis heute hatte sie die kleine Blechdose an der Spitze der Olympia nie verlassen. Nicht im freien All, außerhalb der Reichweite einer der Raumstationen. Sie war keine Astronautin, sie war nur …

»Du hast noch Sauerstoff für einundzwanzig Minuten.« Audreys ruhige Stimme durchdrang den chaotischen Wirbel aus Gedanken, den die aufsteigende Panik in ihr erzeugte, und sie biss die Zähne zusammen. Hastig zog sie sich am Geländer der Gangway durch den düsteren Container, auf die ferne Luke zu. Hinter ihr glitt das innere Schott wieder in Position.

»Audrey, öffne das äußere Schott.«

»Öffne das äußere Schott«, wiederholte die AVA ihre Anordnung. Die Anzeige vor ihr blinkte träge. Rot.

Blau. Komm schon. Blau! Nichts veränderte sich.

»Audrey, öffne das äußere Schott. Jetzt!«

»Äußeres Schott ist geöffnet, Charlotte.«

Noch immer blinkte das rote Licht. »Einen Scheiß ist es, Audrey! Benutz deine verdammten Kameras.«

»Visuelle Bestätigung. Das äußere Schott ist geöffnet.«

»Merde!« Charlotte schlug so fest gegen das Schott, dass nur der Handschuh ihres VacSuits sie davor bewahrte, sich die Knöchel zu brechen. Öffnen von Hand. Wie ging das noch mal? Sie packte den Nothebel und zerrte ihn nach oben. Vielmehr versuchte sie es und verschwendete dabei wertvolle Sekunden, bis ihr klar wurde, was sie vergessen hatte. Fluchend öffnete sie das Panel und deaktivierte die Elektronik der Verriegelung. Dann zerrte sie erneut am Hebel, und dieses Mal gab er nach. Mit einem dumpfen Klacken lösten sich die Siegel des Schotts. Sie stemmte die Platte beiseite und starrte zum ersten Mal überhaupt in den gigantischen Abgrund zwischen den Welten, nur noch durch das Glas ihres Helms getrennt vom absoluten Nichts. Eine Welle der Übelkeit brandete über sie hinweg und wurde von einer plötzlich einsetzenden Euphorie davongespült, noch bevor sie sich in ihren Helm übergeben konnte. Schließlich blinzelte sie. »Das ist … tatsächlich ist das wunderschön, Audrey.«

»Das kann ich nicht beurteilen. Du hast noch Sauerstoff für neunzehn Minuten.«

»Weißt du was? Das macht es nicht einfacher. Wirklich nicht. Stell die Ansage ab, Audrey. Gib mir einfach Bescheid, wenn wir bei dreißig Sekunden sind.«

»Verstanden. Deine Wegstrecke beträgt zweihundertdreißig Meter bis zur Heckschleuse.«

Charlotte riss den Blick vom unter ihr gähnenden Abgrund los und schloss die Augen. Es ist eine Illusion. Wo hier draußen oben und unten ist, legst allein du fest. Dazu gab es eine Regel im Basistraining, das jeder absolvieren musste, der auf einem Frachter arbeiten wollte. Unten ist, wo deine Füße sind.

Sie zog sich aus dem geöffneten Schott und aktivierte noch beim Aussteigen ihre Magnetstiefel. Sofort spürte sie den vertrauten Zug, der ihre Fußsohlen auf die Außenhaut des Containers zwang, wo sie mit einem satten Geräusch aufschlugen. Einen langen Moment kämpfte sie gegen die irrationale Furcht, das Schott loszulassen und sich in der großen Leere aufzurichten. Beinahe zu groß war die Furcht, einfach haltlos davonzutreiben in die Unendlichkeit, wie ein Sandkorn um die winzige Sonne zu kreisen, die der einzige Stern war, den die Menschheit je erreichen konnte. Alle Instinkte schrien in ihr, dass sie, wenn sie jetzt losließ, davontreiben würde, so als sinke sie in die ewig lichtlose Tiefe eines Meers, von dessen Grund ihr die wundervollen Lichter der Tiefseekreaturen zu- blinkten. Und sie würde weiter sinken, bis ihr Sauerstoffvorrat zur Neige ging und sie …

Der VacSuit zog sich fester um sie zusammen, und erneut spürte sie eine Injektion in ihren Hals. Der Anzug musste registriert haben, dass sie dabei war, das Bewusstsein zu verlieren. Charlotte zwang ihre Augen auf und sah auf die Anzeige am Rand des Helmdisplays. Der Sauerstoffvorrat stand bei siebzehn Minuten. Sie blinzelte erneut. Zwei Minuten? Der Anzug hätte viel früher reagieren müssen. Irgendetwas lief hier gewaltig schief. »Audrey, kannst du jetzt Kontakt zu den anderen Schiffen herstellen?«

»Nein. Die Kommunikationskanäle sind noch immer gestört.«

»Ich rede nicht von der Bodenkontrolle. Ich will den Konvoi erreichen. Irgendjemanden!«

»Tut mir leid, Charlotte. Meine Daten legen Störungen durch eine Sonneneruption nahe. Du solltest dich beeilen. Das Risiko von Strahlenerkrankungen ist deutlich erhöht.«

Charlotte schnaubte. Als ob das der dringendste Grund ist, sich zu beeilen. Sie widerstand der Versuchung hinaufzusehen, sondern konzentrierte sich auf die ausgeblichene stumpfe Außenhaut des Containers unter ihren Stiefeln. Vorsichtig löste sie einen Fuß, setzte ihn vor sich und spürte, wie sich der Magnet wieder am Metall festsaugte. Dann der andere Fuß. Die konstante Beschleunigung des Schiffs vermittelte ihr das Gefühl, bergauf zu gehen und gegen einen spürbaren Gegenwind anzukämpfen. Fünfzehn Meter vom Ausstieg bis zum Ende des Containers. Fünf Meter bis zum nächsten Container lediglich auf einem schmalen Wartungssteg. Dreißig Meter über den Container, wieder fünf Meter, und so weiter. Eng, aber sie konnte es schaffen. Die Lücke zwischen den Containermodulen tauchte vor ihr auf, und auf einmal hatte Charlotte das Gefühl, sich auf eine dunkle Gletscherspalte zuzubewegen, über die frühere Tourengeher eine schmale Leiter gelegt hatten. Sie hatte das irgendwann in einer alten Dokumentation über Bergsteiger gesehen, aus der Zeit, als es in den Alpen noch Gletscher gegeben hatte und als man den Himalaja einfach so betreten durfte. Damals hatte sie sich gefragt, was Menschen zu derart verantwortungslosen Wagnissen veranlassen mochte. Jetzt wurde es ihr plötzlich klar. Es gab Situationen, in denen Stehenbleiben den Tod bedeutete. So einfach war das: Man blieb stehen und starb – oder man lief weiter und starb nur vielleicht.

Klack. Klack. Klack. Das monotone Klicken der sich lösenden und wieder anhaftenden Magnetstiefel war neben ihrem eigenen Atem das einzige Geräusch, das sie hier draußen begleitete. Es erinnerte sie an das Ticken eines Countdowns, der ihre letzten Atemzüge zählte. Der Steg tauchte vor ihr auf, schmaler und filigraner, als sie ihn in Erinnerung hatte. Unter ihr gähnte schwarz der Schlund zwischen den Lastmodulen, außerhalb des harten Lichts, das von der fernen Sonne kam. Der starke Strahler an der Seite ihres Helms machte die Schatten nur noch tiefer. Gefühlt brauchte sie eine Ewigkeit, bis sie die fünf Meter hinter sich gebracht hatte. Sobald sie den nächsten Container unter den Stiefeln hatte, beschleunigte sie ihr Tempo. Dreißig Meter. Fünf Meter. Dreißig Meter. Fünf Meter. Dreißig Meter, fünf Meter …

Inzwischen rannte sie. Die Hälfte der Strecke lag hinter ihr. Vor ihr ragte der klobige Verbund aus Tanks auf, der das hintere Ende des Zugschiffs markierte, und links und rechts daneben, weit außen, brannten die blauen Flammen der beiden gewaltigen Triebwerke, die die Olympia mit steter Beschleunigung in Richtung Erde trieben. Gleichzeitig schien es, als hänge ihr Schiff bewegungslos im leeren Raum. Bei aller Geschwindigkeit waren die Sterne viel zu weit weg, um sich vor ihren Augen auch nur um das Geringste zu verschieben, und so schien es, als laufe sie auf einem Feld in Richtung Schatten, so wie ein kleines Nagetier vor einem Räuber in Richtung seines Baus flüchtete.

Sie überquerte den letzten der Container so schnell, wie es ihre Stiefel erlaubten, stampfte über den letzten Steg und prallte beinahe gegen das verschlossene Schott. Die Sauer- stoffanzeige des Helmdisplays wies sechs Minuten aus. Mehr als genug Zeit.

Charlotte klappte ein Panel neben dem Schleusenring auf und gab den Entriegelungscode ein.

Nichts geschah.

»Schon wieder? Audrey? Kannst du dieses Schott öffnen?« Niemand antwortete.

Charlotte richtete sich auf, ihre Augen suchten das Display ab. »Audrey?«

Schweigen.

Sie betrachtete das rote Leuchten des Verriegelungsmechanismus. Das hier war nicht die einfache Schleuse eines Wegwerfcontainers, das hier war ein Schott zum Andocken von Hangarbrücken, groß genug, um Verladestapler hineinzufahren. Nichts, was man von außen einfach überbrücken konnte.

»Audrey, verdammt. Meldung!« Noch immer schwieg die AVA.

»Merde!«

Mit einem Blinzeln wählte sie den Schiffscomputer. »Olympia. Ich brauche Zugang zur Heckschleuse des Laderaums. Jetzt.«

»Zugang nicht gewährt. Bitte geben Sie Ihren Autorisierungscode ein.«

Die Stimme des Schiffs ließ Charlotte innehalten. Das war nicht die freundliche Stimme einer älteren Dame, nicht die Stimme, die Charlotte für ihren Bordcomputer eingestellt hatte. Das war die unpersönliche Stimme der Werkseinstel- lungen. »Was ist hier gerade los, Olympia?«

»Inkorrekt. Geben Sie bitte Ihren Autorisierungscode ein.« Charlotte biss die Zähne zusammen. »Autorisierungscode

2-7-3-2-2-9-5-1-4-2-3-7-7-9-1, Charlotte Darville.«

»Inkorrekt. Geben Sie den Autorisierungscode manuell ein.«

Was? Sie ging den Code im Kopf durch. Von wegen inkorrekt. Sie kannte ihn besser als ihre Sozialversicherungsnummer.

Fünf Minuten.

Sie klappte die Tastatur der Schleuse heraus und begann mit zitternden Fingern zu tippen. »Bestätigt.« Das Licht sprang auf Blau um.

Charlotte keuchte und bemerkte erst jetzt, dass sie die Luft angehalten hatte.

»Olympia, öffne die Schleuse.« Die beiden Schotttore glitten beiseite, gleichzeitig aktivierten sich die Lichter innerhalb der Kammer. Charlotte murmelte ein stummes Gebet und betrat ihr Schiff. »Außenschott schließen. Druckausgleich.«

Mit einem Rumpeln, das von ihren Fußsohlen her in ihren Anzug drang, schloss sich das Außentor wieder. Luft strömte ein, und eine große Anzeige an der Wand kletterte stetig, bis sie schließlich den vollständigen Druckausgleich verkündete. Charlotte ließ sich gegen die Wand sinken und schloss die Augen. Die Anzeige für den Sauerstoffvorrat ihres Anzugs hatte zu blinken begonnen. Drei Minuten. Das war zu knapp gewesen. Wirklich. Sobald sie den Mond erreicht hätten, würde sie irgendjemanden Verantwortlichen bei ADO Eurospace gründlich zusammenfalten. Dieses Schiff war offensichtlich ein einziger Schrotthaufen. Sie öffnete den ersten Verschluss am Halssiegel ihres Helms. Ein durchdringender Warnton ließ sie zusammenfahren. Sie riss die Augen auf. Das Helmdisplay wurde plötzlich von einer grellroten Warnmeldung dominiert. Lebensgefahr. Umgebung lebensfeindlich. Sofort Anzugversiegelung überprüfen. Was?

»Olympia, bestätige die Sicherheit der Schleusenatmosphäre.«

»Schleusenatmosphäre sicher«, entgegnete die computerisierte Stimme ihres Schiffs.

»Aber ich habe hier eine verdammte Umweltwarnmeldung!«

»Schleusenatmosphäre geprüft und sicher. Druck normal, Temperatur normal. Rückschluss: Fehlfunktionen in Anzugs- Messarray und Elektronik. Stellen Sie den VacSuit bitte umgehend vollständig zur Überprüfung zur Verfügung.«

Schrotthaufen. Charlotte schüttelte den Kopf. Sie öffnete den Helm, riss ihn vom Kopf, saugte tief die kühle Filterluft des Hauptladeraums ein. Und würgte. Instinktiv griff sie sich an den Hals. Ihre Lunge schien plötzlich mit Wasser gefüllt zu sein. So viel sie auch einatmete, sie bekam keine Luft. Mit einem entsetzten Laut presste sie den Atem wieder heraus, atmete erneut ein und hustete, weil es das Gefühl zu ersticken nur verstärkte. Fahrig hob sie den Helm, versuchte, ihn sich wieder über den Kopf zu stülpen und einrasten zu lassen, doch er glitt ihr aus den Handschuhen, fiel zu Boden und rollte einen Schritt weiter. Charlotte sackte auf die Knie. Sauerstoffmangel ließ ihre Ohren rauschen und begann bereits, die Ränder ihres Gesichtsfelds abzudunkeln. Panik wallte in ihr auf, und sie unterdrückte nur mit äußerster Mühe einen dritten Atemzug, als sie auf allen vieren vorwärtskroch, dem Helm hinterher. Ihre Lunge brannte, und ihr Puls hämmerte so heftig in ihrem Hals, dass in ihr erneut das Gefühl aufstieg, sich übergeben zu müssen. Dann bekam sie den Helm zu fassen, schob ihren Kopf hinein und ließ ihn einrasten. Zischend strömte Atemluft in ihren Anzug. Charlotte sog sie mit einem Schluchzen ein, hustete, atmete erneut durch und blieb keuchend liegen, bis sich ihr Puls wieder zu normalisieren begann. »Olympia! In der verdammten Schleuse fehlt Sauerstoff«, krächzte sie. »Öffne das innere Schott. Sofort!«

»Autorisierungscode erforderlich. Geben Sie bitte Ihren Autorisierungscode ein.«

Hilflose Wut stieg in Charlotte auf. »Du hast meinen verdammten Code bereits! Mach das Schott auf!«

»Autorisierungscode erloschen. Geben Sie bitte einen gültigen Autorisierungscode ein.«

»Was?« Charlotte starrte ungläubig auf den Terminalmonitor in der Wand über ihr, auf dem sich träge das Firmenlogo von ADO Eurospace drehte. »Was soll dieser Mist jetzt? Ich ersticke hier gleich!« Wie aufs Stichwort begann die Dreißig-Sekunden-Warnung in ihrem Helmdisplay zu blinken.

»Ihre Codes wurden wegen nicht autorisierten Zugriffs auf Frachtbehälterschotts deaktiviert. Setzen Sie sich bitte umgehend mit der Flugkontrolle in Verbindung.«

Charlotte fluchte. »Gib mir die Flugkontrolle! Sofort!«

»Kommunikation mit Flugkontrolle zurzeit nicht möglich. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal.«

»Fick dich!« Hastig zerrte sie einen Versorgungsschlauch aus der Bauchtasche und stöpselte ihn direkt in eines der Sauerstoffventile in der Kammerwand. Das erwartete Zischen blieb aus. »Unautorisierter Zugriff«, erklärte ihr das Schiff.

»Audrey! Verdammt, Audrey, öffne das verdammte Ventil!« Panik schnürte ihr den Hals zu.

»Ihre persönliche AVA wurde wegen missbräuchlichen Zugriffs vorübergehend deaktiviert«, stellte das Schiff fest. »Setzen Sie sich bitte umgehend mit der NOAH-Sicherheit in Verbindung.«

Die Vorratsanzeige von Charlottes Anzug sprang auf null, und plötzlich überkam die junge Französin eine unerwartete Ruhe. Sie atmete tief ein und trat an das winzige Bullauge in der Mitte des Außenschotts.

Die Pracht eines Sternenhimmels, den auf der Erde so noch niemand mit bloßem Auge gesehen hatte, blickte teilnahmslos zurück. Für einen langen Moment sah sie schweigend hinaus.

Das All mochte unendlich sein. Doch sie war so weit gelaufen, wie sie konnte, und trotzdem kam für jeden unweigerlich einmal der Punkt, an dem man nicht mehr weiterkam. An dem es keinen Punkt gab, zu dem man noch fliehen konnte. Irgendwann machte es keinen Unterschied mehr, ob man lief oder stehen blieb.

Man sagte, dass die Wege auf die Gipfel des Himalaja mit Toten markiert waren. Vielleicht musste das so sein. Vielleicht mussten auch die Wege zu den Sternen mit Toten markiert werden. Sie atmete aus und wieder ein. Benommenheit machte sich in ihr breit. Kohlendioxid. Das Einzige, was in ihrem Anzug noch kreisen konnte. Es fiel ihr erstaunlich leicht, das Warnsignal zu ignorieren.

Vermutlich wurde sie jetzt zu einer dieser Wegmarken auf dem Zug der Menschen hinaus ins All. Das war nicht der Plan gewesen – aber was lief im Leben schon jemals nach Plan?

Sie atmete erneut ein, und die Dunkelheit schloss sich über ihr, als sie zusammensackte. Ein paar Warnmeldungen flackerten noch für einige Zeit hektisch über ihr Helmdisplay, bis nach einer Weile der letzte Warnton verstummte.

Irgendwann erlosch das Licht in der Schleusenkammer wieder.

 

T.S. Orgel: „Terra“∙ Roman ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2018 ∙ 512 Seiten ∙ Preis des E-Books € 11,99 (im Shop)

 

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Interstellar 2

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Kurz vor Weihnachten hat die NASA uns mit einem weiteren Weltraum-Highlight beschenkt: Die Raumsonde Voyager 2 hat bereits am 5. November die Heliosphäre, also den Bereich um unsere Sonne herum, in dem der Sonnenwind und ihr Magnetfeld wirksam sind, verlassen, wie die NASA kürzlich mitteilte. Damit tritt sie sechs Jahre nach ihrer Schwestersonde Voyager 1 in die sogenannte Heliopause ein; die Randzone, in der die Sonnenwind-Partikel auf die interstellaren Partikel treffen.

Auf der Jahresversammlung der American Geophysical Union vor wenigen Tagen sprachen mehrere NASA-Wissenschaftler und -Ingenieure über die Zukunft der Sonden, die jetzt beide in einem Bereich operieren, in den die Menschheit bisher noch kaum Einblicke gewonnen hat. Voyager 2 soll fortan untersuchen, wie die Sonnenwind-Partikel mit den interstellaren Partikeln interagieren, und zudem nach kosmischer Strahlung Ausschau halten. Dasselbe macht Voyager 1 seit sechs Jahren, aber Voyager 2 bringt eine Reihe neuer Möglichkeiten mit sich: nicht nur, weil beide Sonden in gegensätzlichen Richtungen die Ekliptik verlassen haben und damit Daten aus verschiedenen Bereichen sammeln können, sondern vor allem, weil bei Voyager 2 das Cosmic Ray Subsystem (CRS), das Plasma Spectrometer (PLS) und das Plasma Wave System (PWS) noch aktiv sind. Bei Voyager 1 sind letztere bereits in den 1980er Jahren ausgefallen. Sowohl die Heliopause, als auch die hochenergetischen kosmischen Strahlen, die sich mit nahezu Lichtgeschwindigkeit durchs All bewegen, können von Voyager 2 gemessen werden. Diese Strahlen, so Georgina Denolfo, eine NASA-Astrophysikerin, seien wie kleine Botschafter aus unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Bisher haben wir die Umgebung unseres Sonnensystems nur durch den Sonnenwind hindurch betrachten können, jetzt haben wir gewissermaßen die Tür aufgemacht. Die könnte jedoch noch einmal zufallen: Unsere Sonne durchläuft verschiedene Aktivitätszyklen und befindet sich derzeit in einer eher ruhigen Phase. Wenn sie wieder in eine Phase gesteigerter Aktivität eintritt, könnte sich die Heliosphäre wieder ausdehnen und Voyager 2 erneut in ihren Einflussbereich eintreten und uns so noch mehr Daten über diese Grenzzone liefern. Darüber hinaus können uns die Daten, die Voyager 2 aus der Heliopause nach Hause schickt, auch einiges über Exoplaneten verraten. Jedes andere Sonnensystem verfügt ebenfalls über Heliosphäre und Heliopause. Je nach der Zusammensetzung dieser Sphären könnten wir einiges über die potenzielle Bewohnbarkeit der Planeten darin verraten.

Dass Voyager 2 überhaupt so weit gekommen ist, ist ein kleines Wunder. Die Sonde startete am 20. August 1977, zwei Wochen vor ihrer Schwester, ins All, und sollte die äußeren Planeten des Sonnensystems untersuchen. Während Voyager 1 sich auf Jupiter und Saturn konzentrierte, ehe sie Richtung interstellarem Raum aufbrach, sah Voyager 2 sich danach noch Uranus und Neptun an – als bisher einzige Raumsonde. Möglich wurde das durch eine besondere Konstellation der äußeren Planeten, die nur einmal alle 176 Jahre auftritt. So konnten beide Voyagers in Swing-by-Manöver die Schwerkraft nutzen, um sich energiesparend von Planet zu Planet zu hangeln.

Auch wenn das Budget nicht ausreichte, um die Instrumente an Bord von Voyager 2 so zu gestalten, dass sie bis Uranus und Neptun durchhalten würden, war die Flugbahn so gestaltet, dass die Sonde die beiden äußersten Planeten auf jeden Fall passieren würde. Als Backup zu Voyager 1 gedacht, waren die wichtigsten Missionsziele von Voyager 2 ebenfalls Jupiter und Saturn – alles danach war ein Bonus. Sollte Voyager 1 ausfallen, wollte man den Kurs der zweiten Sonde so ändern, dass Voyager 2 stattdessen die beiden großen Gasplaneten sah und danach ins All davonflog.

Doch dazu kam es nicht. Voyager 1 hielt durch, und Voyager 2 durfte auf ihrer Flugbahn bleiben. Sie erreichte Jupiter 1979, vier Monate nach Voyager 1, die schneller unterwegs ist, und nahm dort eine Reihe von Fotos und Daten auf, die man direkt mit denen ihrer Schwestersonde vergleichen konnte. So stellte man unter anderem Veränderungen im Großen Roten Fleck, einem gewaltigen Sturm, fest. Danach ging es weiter zum Saturn. Voyager 2 erreichte ihren nächsten Punkt zu dessen Ringen am 26. August 1981. Durch ihre Kameras beobachteten Wissenschaftler den Stern Delta Scorpii zweieinhalb Stunden lang. Das Flackern des Sterns zeigte ihnen, dass Saturn neben den großen Ringen von mehreren kleinen umgeben ist, von denen der kleinste gerade einmal 100 Meter dick ist.

Fünf Jahre nach der Pflicht erfolgte dann die Kür: Voyager 2 erreichte den Uranus am 24. Januar 1986. Sie stellte fest, dass sein Südpol zur Sonne zeigt, und dass die Atmosphäre zu 85% aus Wasserstoff und zu 15% aus Helium besteht. Dazu entdeckte sie, dass auch der Uranus ein Ringsystem hat. Sie fand 10 neue Uranusmonde und ein Magnetfeld, das um 55 Grad gegen die Rotationsachse des Planeten geneigt ist. Warum, wissen wir bis heute nicht. Daneben schickte Voyager 2 Aufnahmen vom vielleicht seltsamsten Mond im ganzen Sonnensystem: Miranda sieht aus, als sei er mehrmals auseinandergebrochen und wieder zusammengesetzt worden – aber warum und wie, bleibt uns ebenfalls noch ein Rätsel.


Miranda

Weiter zu Neptun, den Voyager 2 am 25. August 1989 erreichte und sich ihm bis auf weniger als 5.000 Kilometer annäherte. Sie entdeckte auch hier neue Monde, fünf an der Zahl, und vier Ringe um den Planeten. Die Bilder, die sie nach Hause schickte, dienen Wissenschaftlern bis heute als Vergleichsmaterial: Hubble sah, sehr zur Überraschung der Forscher, dass sich auf dem Neptun Stürme zusammenbrauen. Voyager 2 schien in einer ruhigen Phase vorbeigekommen zu sein. (Dasselbe gilt übrigens auch für Uranus, auf dem man 2014 gigantische Stürme entdeckte.)

Voyager 2 ist 17.853.556.780 Kilometer von der Sonne entfernt, während ich diese Zeilen schreibe – und es werden sekündlich 17 Kilometer mehr, so schnell ist die Sonde unterwegs. Einfach dauert es sechzehneinhalb Stunden, bis ihre Signale uns erreichen. Und in ein paar Jahren werden selbst die stärksten Empfangsanlagen auf der Erde nicht mehr in der Lage sein, ihre stetig schwächer werdenden Signale aufzufangen. Denn beiden Voyagers geht langsam der Saft aus, den sie vor allem zum Beheizen ihrer Instrumente brauchen. Derzeit operiert Voyager 2 bei einer „Innentemperatur“ von 3,6° Celsius, und jedes Jahr erzeugt sie im Schnitt 4 Watt weniger Energie. Wenn die Sonde, wie von der NASA geplant, bis 2025 durchhalten soll, müssen irgendwann einige der Instrumente abgeschaltet werden. Den Wissenschaftlern stehen also schwierige Entscheidungen bevor.

Aber selbst wenn beiden Sonden endgültig die Puste ausgegangen ist, werden sie weiter ihrem Kurs folgen. Bis zur Oort’schen Wolke, der Grenze unseres Sonnensystems, dauert es noch 300 Jahre. In etwa 30.000 Jahren werden die Voyagers sie dann durchflogen haben. Danach befinden sie sich auf einem langsamen Flug einmal rund um das Zentrum der Milchstraße, der Milliarden Jahre dauern wird. Sie und ihre goldenen Schallplatten sind die ersten Botschafter der Menschheit im All, und vielleicht findet sie ja jemand auf ihrer „Grand Tour“. Ob es uns Menschen dann noch geben wird?

Mehr Informationen zur Voyager Interstellar Mission finden Sie auf voyager.jpl.nasa.gov.

Alle Bilder: NASA/JPL

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„Terra“ – der Soundtrack

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Wie einigen unserer Leser bereits aufgefallen ist, enthält unser Science-Fiction-Thriller „Terra“ (im Shop) neben vielen Anspielungen auf die Popkultur unserer Gegenwart auch eine ganze Reihe von Musikstücken. Genug, um einen kleinen Soundtrack damit zu füllen, und das ist nicht zufällig so.

T. S. Orgel: TerraGenau genommen ist dies der Soundtrack, zu dem Tom seine Passagen in diesem Roman geschrieben hat. Bei Stephan würde sich das etwas schwieriger gestalten, da er beim Schreiben keine Musik hören kann. Tom dagegen hat es sich bereits bei den vorherigen Romanen angewöhnt, zumindest einige der Szenen mit ganz bestimmten Songs zu verknüpfen. Tatsächlich behauptet er, dass ihm die Musikstücke helfen, beim Schreiben ganz gezielt eine Stimmung hervorzurufen.

In „Terra“ war es jetzt allerdings erstmals möglich, einen Teil der Stücke direkt im Text zu verankern, auch wenn einige davon nicht auf den ersten Blick zu erkennen sind. Deshalb nehmen wir euch an dieser Stelle auf einen kleinen Ausflug hinter die Kulissen unseres Romans mit.

► Der erste Track, den man sich als Leser vorstellen darf, ist „Convoy“, der Title Track des gleichnamigen Films aus dem Jahr 1978. Auch wenn er im Buch selbst keine spezielle Szene hat, standen Song und Film ein ganz klein wenig Pate bei der Idee eines kilometerlangen Konvois von Frachtraumschiffen mit ihren recht individuellen „Truckern“ und ihren Gesprächen über Sprechfunk.

► Der erste Song, der beim Schreiben einer Szene lief, war O Death von Shakey Graves.

► Die erste tatsächliche Erwähnung eines Musikstücks kommt natürlich gleich zu Beginn es ersten Kapitels – ein Schlüsselsong nicht nur für Protagonist Jak, sondern auch die perfekte Vorstellung seiner virtuellen Assistentin Nina (eine Art hochentwickelte Alexa inklusive eigenem Hologramm). Nina ist der Sängerin Nina Simone nachempfunden – und Jak wird hier von einem Song geweckt, dessen Titel symptomatisch für alles darauf Folgende wird: Go To Hell von Nina Simone.

► Etwas später im Text werden die Songs Bobo Jacobo und Chinga tu Madre von einer Band namens Los Hermanos Napalm erwähnt, zwei Songs, die zum Mexican Border Crossover gehören, worauf Jak als Halbmexikaner steht. (Ja, er hört Nina Simone, Frank Sinatra und Crossover.) Beides sind natürlich Coverversionen, deren Originale im Jahr 2095 der Romanhandlung fast 100 Jahre alt sind und die von der mexikanischen Rockband Molotov stammen.

► Für Horton dagegen konnte es nichts passenderes geben als You can’t kill me von Mojo Nixon – feiner Trailer-Park-Rock, der einst auch den Soundtrack zum legendären Computerspiel Redneck Rampage zierte. Auch das beschreibt Horton ganz gut …

► Jamiroquai ist gleich zweimal vertreten. Der Titel Virtual Insanity wurde genauso wenig zufällig gewählt wie Cosmic Girl. Und God is an Astronaut hatten sich allein schon wegen ihres Bandnamens für diesen Soundtrack qualifiziert, aber auch dazu gibt es eine eigene Szene.

► Der Rage-Against-The-Machine-Track (noch so ein Bandname) „Take the Power Back“ ist allerdings fest mit dem Last Stand der Crew der Zenobia verbunden (laut MusicLibrary von Toms Rechner lief er beim Schreiben insgesamt 37 Mal).

► Dann kam tatsächlich die Stelle, an der wir einen Song suchten, der von den Space-Truckern während des großen Finales gehört werden sollte – inklusive nächtlicher Umfrage auf Twitter übrigens. Während es ursprünglich Paradise City werden sollte, waren auch Fly Me To The Moon und der Magic Carpet Ride im Gespräch, wurden dann aber zugunsten eines Vorschlags von Toms Frau verworfen: Shock to the System (natürlich wieder in einer Coverversion, dieses Mal in der 2095 populären Stilrichtung Moon-Jet) vom legendären 80er-Album „Cyberpunk“ (!) hatte einfach den richtigen Drive für die Szene (und nebenbei bemerkt ein sehr schräges Video). Cyberpunk allein passt natürlich schon perfekt zu unserem Mond, und Billy Idol schrieb das Stück angesichts der Los-Angeles-Aufstände von 1991, die auf die Polizeigewalt gegen Rodney King hin ausbrachen. Welche bessere inoffizielle Hymne für New Angeles auf dem Mond kann es denn geben? Außerdem … nein. (Spoiler!)

► Den Abschluss macht im letzten Kapitel schließlich wieder Nina Simone mit einem quasi-prophetischen Song: New World Coming. Kann man ruhig hören, wenn man die Szene liest.

► Den Bonus Track, sozusagen den Song, der beim Abspann läuft, bildet schließlich Space Oddity. Musste einfach sein. Allerdings nicht das Original, sondern die Version, die Commander Chris Hadfield auf der ISS eingesungen hat – weil auch das nur passend ist.

Es gibt noch ein gutes Dutzend anderer Songs, die nicht auf unserem Soundtrack gelandet sind, obwohl sie beim Schreiben liefen, aber für einen kleinen Einblick sollte das reichen. Vielen Dank, dass ihr uns auf unserem kleinen Ausflug durch den Soundtrack des Alls begleitet habt – und viel Spaß mit dem Soundtrack zu „Terra“, den ihr übrigens auch auf Spotify finden könnt. Hier nochmal als Überblick:

T. S. Orgel: Terra - Spotify-Playlist zum RomanConvoi– C.W. McCall
O Death– Shakey Graves, Monica Martin (Fargo Year 2)
Go to hell– Nina Simone (Silk & Soul)
Journey of the Sorcerer– Eagles (One of these Nights)
Virtual Insanity– Jamiroquai (Travelling without Moving)
Que No Te Haga Bobo Jacobo– Molotov (¿Dónde Jugarán las Niñas?)
You Can’t Kill Me– Mojo Nixon (Whereabouts Unknown)
He’s Writin’ the Book– Analog Champions (Old Soul)
Cosmic Girl– Jamiroquai (Travelling without Moving)
Evil Ways (Justice Mix) – Blues Sacramento (Dark Country)
Chinga tu Madre – Molotov (¿Dónde Jugarán las Niñas?)
All Is Violent, All Is Bright– God is an Astronaut (All Is Violent, All Is Bright)
Take The Power Back– Rage Against The Machine (Rage Against The Machine)
Fly Me To The Moon (In Other Words)– Frank Sinatra, Count Basie (Sinatra/Basie – The Complete Reprise Studio Recordings)
Magic Carpet Ride– Steppenwolf (Born to Be Wild)
Shock to the System– Billy Idol (Cyberpunk)
New World Coming– Nina Simone (Here Comes The Sun)
Space Oddity– Chris Hadfield (Space Sessions: Songs from a Tin Can)

Frohe Weihnachten, hoffentlich mit genug Zeit zum Lesen – und kommt gut ins neue Jahr,

Tom & Stephan

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Die Bobs erobern das Universum

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Endlich ist es soweit – Bob Johansson, der Held aus Dennis E. Taylors kultiger Space Opera „Ich bin viele“ (im Shop), ist zurück, und mit ihm seine mannigfachen Kopien. In „Wir sind Götter“ (im Shop), dem zweiten Teil der sogenannten Bobiverse-Trilogie, haben Bob und seine Klone die Aufgabe, den Rest der Menschheit auf neue Planeten evakuieren. Leichter gesagt als getan, denn in den Tiefen des Alls lauert so manche Gefahr auf die schlagfertigen KIs. Für alle, die jetzt neugierig geworden sind, gibt es hier eine erste Leseprobe.

 

1

Himmelsgott

 

Bob – Februar 2167 Delta Eridani

Aus dem Totholzhaufen drang ein wütendes Quieken. Die beiden Deltaner hielten kurz inne und bereiteten sich darauf vor, den Rückzug anzutreten. Doch als nichts weiter geschah, bewarfen sie die Stelle gleich darauf erneut mit Steinen.

Dem Jäger, den ich Bernie getauft hatte, sträubte sich vor Aufregung das Rückenfell. »Komm hierher, kutzi, kutzi, kutzi«, lockte er mit aufgestellten Ohren.

Um ihnen nicht die Sicht zu versperren, flog ich mit meiner Überwachungsdrohne ein Stück zurück. Es machte ihnen nichts aus, wenn ich bei der Jagd zusah, aber ich wollte sie nicht ablenken, da selbst die kleinsten Fehler zu Verletzungen führen konnten und nicht selten tödlich endeten. Allein Mike hob kurz den Kopf, als er die Bewegung wahrnahm, wohingegen die anderen Deltaner der fußballgroßen Drohne keinerlei Beachtung schenkten.

Anscheinend hatte einer der Steine sein Ziel gefunden, denn nun stürmte das Quasischwein laut kreischend wie eine wutentbrannte Dampfmaschine aus dem Eingang seines Baus. Sofort rannten die beiden Steinewerfer zur Seite, und die anderen Jäger nahmen ihren Platz ein. Sie stemmten ihre Speere in die Erde und stellten zusätzlich einen Fuß auf die Schaftenden, um die Waffen zu stabilisieren. Danach konnten sie nichts anderes mehr tun, als tapfer die Stellung zu halten. Obwohl ich selbst das Geschehen aus sicherer Distanz durch meine Überwachungsdrohne beobachtete, spürte ich, wie sich meine Eingeweide vor Angst zusammenzogen. Bei Gelegenheiten wie dieser fragte ich mich, ob ich es mit der Authentizität meiner VR-Umgebung vielleicht ein wenig übertrieb. Es war überhaupt nicht nötig, dass ich Eingeweide besaß, geschweige denn, dass sie sich zusammenzogen.

Das Quasischwein rannte ungebremst in die aufgepflanzten Speere. Schnell war es, das musste man ihm lassen, aber nicht besonders klug. Ich hatte noch nie ein Quasischwein gesehen, das den Speerspitzen auszuweichen versuchte. Ein Jäger namens Fred wurde zur Seite geworfen, als sich sein Speer zunächst bog und dann auseinanderbrach. Er schrie, offenbar ebenso sehr vor Überraschung wie aufgrund der Schmerzen, und aus seinem Bein sprudelte Blut. Dabei fiel mir wieder einmal auf, dass sich deltanisches und menschliches Blut farblich fast exakt glichen.

Die anderen Deltaner hielten dem Ansturm stand, und das Quasischwein erhob sich von der eigenen Wucht getragen auf den Speerspitzen in die Luft. Einen Moment lang schien es beinahe zu schweben, bis es mit einem letzten Kreischen zu Boden krachte.

Die deltanischen Jäger zogen die Lippen zurück und entblößten ihre beeindruckenden Fangzähne. Argwöhnisch warteten sie ab, ob sich das Tier noch mal bewegen würde. Denn gelegentlich kam es vor, dass selbst derart schwer verwundete Quasischweine aufsprangen und erneut angriffen.

Vorsichtig schlich Bernie sich an. In einer Hand hielt er seinen Speer, in der anderen einen Knüppel. Aus möglichst großer Entfernung beugte er sich vor und piekte das Quasischwein in die Schnauze. Als es sich daraufhin nicht rührte, drehte er sich grinsend zu seinen Jagdkameraden um.

Natürlich grinste er nicht wirklich, sondern wackelte nach Art der Deltaner mit den Ohren, aber ich war inzwischen so sehr mit ihren gestischen und mimischen Eigenheiten vertraut, dass ich nicht länger über ihre Bedeutung nachdenken musste. Um die gesprochene Sprache kümmerte sich derweil eine Übersetzungssoftware, die Redewendungen und Metaphern zwischen Englisch und Deltanisch hin und her übertrug. Damit ich die einzelnen Deltaner im Auge behalten konnte, hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, ihnen zufällig ausgewählte menschliche Namen zu geben.

Ohne die Übersetzungssoftware war eine Kommunikation zwischen Menschen und Deltanern unmöglich, da ihre Sprache für unsere Ohren wie ein Sammelsurium aus Grunzlauten, Knurren und Schluckauf klang. Und laut Archimedes, meinem Hauptansprechpartner, erinnerten menschliche Stimmen die Deltaner wiederum an leidenschaftlich-wild sich paarende Quasischweine. Reizend.

Mit ihren tonnenförmigen Körpern, den spindeldürren Gliedmaßen, den großen, extrem beweglichen Ohren und einer Mundpartie, die an die Schnauzen von wilden Ebern erinnerte, sahen die Deltaner wie eine Kreuzung aus Fledermäusen und Schweinen aus. Ihre Felle waren größtenteils grau, mit individuellen hellbraunen Mustern im Gesicht und am Rest des Kopfes. Die Deltaner waren die erste nichtmenschliche intelligente Lebensform, auf die ich bislang gestoßen war – und zwar bereits im zweiten Sonnensystem, das ich nach meinem Aufbruch von der Erde vor mehr als dreißig Jahren angesteuert hatte. Vielleicht war intelligentes Leben tatsächlich so verbreitet, wie Star Trek es uns hatte glauben machen wollen.

Bill sendete regelmäßig die neuesten Nachrichten aus Epsilon Eridani, die jedoch neunzehn Jahre lang unterwegs waren, bevor ich sie empfing. Falls mittlerweile auch einer der anderen Bobs auf eine außerirdische Intelligenz gestoßen sein sollte, hatte Bill möglicherweise noch nicht einmal davon erfahren und schon gar nicht den entsprechenden Bericht an uns weitergeleitet.

Nun richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Deltaner, die gerade damit begannen, ihre Jagd nachzubereiten.

Sie untersuchten Fred, der auf einem Felsen saß, deltanische Flüche ausstieß und sich eine Hand auf die Wunde presste, um die Blutung zu stoppen. Ich näherte mich mit der Drohne, und einer der Jäger trat beiseite, damit ich mir Fred genauer ansehen konnte.

Er hatte Glück gehabt. Die Verletzung, die er sich zugezogen hatte, als sein Speer zerbrochen war, wies unregelmäßige Wundränder auf, war jedoch nicht tief und schien sauber zu sein. Wenn das Quasischwein die Zähne in ihn geschlagen hätte, wäre er nun tot.

Mike tat so, als wollte er seinen Speer in die Wunde stoßen. »Tut das weh? Sag schon, tut das weh?«

Fred bleckte die Zähne. »Ja, sehr witzig. Nächstes Mal kannst du ja den kaputten Speer nehmen.«

Ungerührt erwiderte Mike sein Lächeln, und Bernie schlug Fred auf die Schulter. »Komm, sei keine Heulsuse. Es blutet schon fast nicht mehr.«

»Genau, dann lasst es uns mal aufhängen, damit es ausbluten kann«, sagte Mike und wickelte ein Seil ab, das er sich um den Oberkörper geschlungen hatte. Während er es über einen geeigneten Ast warf, schlang Bernie das Ende des Seils um die Hinterläufe des Kadavers.

Knoten binden zählt nicht gerade zu ihren Stärken. Die Verschnürung war sehr simpel und würde sich vermutlich lösen. Ich nahm mir vor, Archimedes ein paar Seemannsknoten beizubringen.

Während Mike und Bernie den Kadaver an dem Seil in die Höhe zogen und begannen, ihn auszunehmen, stimmten die übrigen Deltaner ein Dankeslied an. Einen Moment lang erwartete ich beinahe, dass sie ihrer Beute einen Jagderlaubnisschein ans Ohr heften würden. Aber dafür befand ich mich natürlich im falschen Jahrhundert und auf dem falschen Planeten, wo ich es mit einer anderen Spezies zu tun hatte.

Grinsend wandte ich mich vom Videofenster der Drohne ab und griff nach der Kaffeetasse. Marvin, der mir über die Schulter geschaut hatte, warf mir einen verwirrten Blick zu, aber ich sah nicht ein, wieso ich es ihm erklären sollte. Er müsste sich doch von sich aus daran erinnern können, wie der Ursprüngliche Bob vor langer Zeit mit seinem Dad auf die Jagd gegangen war. Wortlos zuckte ich mit den Schultern. Das musst du dir schon selbst zusammenreimen, mein Freund.

Marvin verdrehte die Augen und kehrte zum Lay-Z-Boy

zurück, den er stets erscheinen ließ, wenn er mich in meiner VR besuchte. Ich lehnte mich indes in meinem antiken Ohrensessel zurück und ließ mir von Jeeves Kaffee nachschenken. In allen VR-Umgebungen, in denen die Jeeves- KI zum Einsatz kam, sah sie wie John Cleese im Frack aus.

Während ich an dem Kaffee nippte, der wie immer perfekt schmeckte, betrachtete ich die Bibliothek um mich herum – die bis zur Decke reichenden Bücherregale, den großen, klassischen Kamin und die schmalen, bodentiefen Fenster, durch die permanent spätnachmittägliches Sonnenlicht hereinschien und den Raum erleuchtete. Und inmitten von alledem stand wie ein großes grelles Auge der mit rotem Cord bezogene Lay-Z-Boy, in den sich Marvin lümmelte.

Allerdings nur in der VR. In der echten Welt waren Marvin und ich leuchtende optoelektronische Würfel und in zwei verschiedenen Sonden installiert, die sich derzeit in einer Umlaufbahn um Delta Eridani 4 befanden. Doch früher waren wir Menschen gewesen und brauchten unsere VR-Umgebungen, um bei Verstand zu bleiben.

Spike kam herüber. Er sprang Marvin auf den Schoß und begann zu schnurren. Die KI der Katze agierte absolut realistisch, bis hin zu ihrem völligen Mangel an Loyalität. Ich schnaubte amüsiert und drehte mich zum Videofenster zurück.

Mittlerweile hatten die Jäger ihre Beute ausgeweidet. Im Grunde genommen hatten die Quasischweine nur wenig Ähnlichkeit mit irdischen Wildschweinen. Rein äußerlich erinnerten sie eher an Bären, aber sie besetzten die gleiche ökologische Nische und waren auch ebenso gut gelaunt und anhänglich wie ihre terrestrischen Entsprechungen.

Die Jagd auf diese Tiere war keineswegs eine einseitige Angelegenheit, und die Deltaner gingen dabei jedes Mal ein Risiko ein. Normalerweise unterlagen die Quasischweine, aber manchmal gelang es ihnen auch, einen oder zwei Jäger zu töten. Allerdings waren die Karten bei diesem Spiel noch mal neu gemischt worden, seitdem die Deltaner ihre Speere mit Feuersteinspitzen versahen. Jaja, mir war klar, dass ich damit gegen die Oberste Direktive verstoßen hatte. Blabla.Pfft. Auch wenn sich einer von uns Klonen Riker nannte und seine VR wie die Kommandobrücke der Enterprise gestaltet hatte, war dies hier nicht Star Trek.

Die Deltaner banden ihre Jagdbeute auf zwei Speere, die sich vier von ihnen auf die Schultern hoben. Mike winkte mich zu sich, und ich ließ meine Drohne zu seiner hinüberschweben. Zwei weitere Deltaner schlangen die Arme um Fred und halfen ihm auf. Sein Bein blutete zwar immer noch, und er hinkte arg, aber er würde es bis zum Dorf zurückschaffen.

Unsere Rückkehr glich einem Triumphzug, und ein paar der Jäger sangen ein Siegeslied. Die anderen scherzten und zogen einander freundschaftlich auf. Es erstaunte mich immer wieder, wie menschenähnlich sich die Deltaner verhielten. Manchmal überkam mich deswegen ein Gefühl der Nostalgie und Sehnsucht nach echten menschlichen Kontakten.

Bald hatten wir das Dorf erreicht, wo wir lachend begrüßt und gefeiert wurden. Ein erlegtes Quasischwein war immer ein Anlass zum Feiern. An diesem Abend würden die Hexghi ein Festmahl auftischen und noch eine ganze Woche lang ordentlich zu essen haben. Hexghi bedeutete so viel wie Familien an unserem Feuer. Diese Gruppe von Jägern gehörte zu Archimedes’ Hexghi, das ich mehr oder weniger als meine Familie adoptiert habe.

Mithilfe der anderen schaffte Fred es bis zu der Stelle, wo seine Familie lagerte und seine Gefährtin sich sofort rührend um ihn kümmerte. Einer der Jäger lief los und holte Cruella, die Medizinfrau. Seufzend machte ich mich auf eine meiner üblichen Auseinandersetzungen mit ihr gefasst.

Nach wenigen Augenblicken kehrte er mit Cruella und ihrer Gehilfin im Schlepptau zurück. Als sie sich bückte, um die Wunde zu inspizieren, steuerte ich die Drohne zu ihr hinüber. Anscheinend zu dicht für ihren Geschmack, denn Cruella schlug sie mit ausgestrecktem Arm so fest beiseite, dass sie mehrere Fuß weit davonflog, ehe die KMI sie wieder stabilisieren konnte. Die anderen Deltaner wichen erschrocken zurück. Einer von ihnen sah aus, als wollte er fliehen oder würde gleich ohnmächtig werden. Die Drohne war klein und ließ sich leicht herumschubsen. Aber immerhin war ich, na ja … der Himmelsgott.

Mir war schon seit längerer Zeit bewusst, dass die Medizinfrau nichts und niemanden fürchtete. Und sie zeigte sich auch nicht gerade offen für Ratschläge. Frustriert biss ich die Zähne zusammen und fragte mich, ob Cruella wohl diesmal auf meine Hinweise hören würde.

Fred beschäftigte offenbar der gleiche Gedanke. »Das wäre doch eine gute Gelegenheit, Baabs Vorschlag mit dem heißen Wasser auszuprobieren.«

Cruella warf erst ihm und dann meiner Drohne einen finsteren Blick zu. »Da du mich nicht zu brauchen scheinst, kann er ja vielleicht auch gleich deine Wunde verbinden.«

»Ach, bei den Eiern meiner Vorväter, Cruella«, stieß Mike hervor. »Probier doch wenigstens einmal etwas Neues aus. Schließlich hat Baab uns noch keinen einzigen schlechten Ratschlag gegeben.«

Cruella zischte ihn an, und im nächsten Moment brach zwischen den Jägern und ihr ein lautstarker Streit aus. Die Jäger waren meine treuesten Unterstützer. Kein Wunder, denn schließlich waren die Feuersteinspitzen, die Vorrichtung zur Begradigung von Speerschäften sowie die Faustkeile nur ein paar der Neuerungen gewesen, mit denen ich ihnen das Leben erleichtert hatte. Zumindest sie vertrauten darauf, dass ich nur das Beste für die Deltaner wollte.

Schließlich warf Cruella die Hände in die Luft. »Na schön!«, blaffte sie. »Dann machen wir es eben auf seine Weise. Aber wenn dir die Beine abfaulen, möchte ich kein Gewinsel von dir hören.« Sie drehte sich um und knurrte ihrer Gehilfin etwas zu, worauf die mit angelegten Ohren davoneilte.

Ein paar Minuten später kehrte sie mit einem gefüllten Schlauch und einem weichen Ledertuch zurück.

Cruella deutete auf den Schlauch. »Frisch abgekochtes Wasser.« Als Nächstes hielt sie das gegerbte Ledertuch hoch. »In gekochtem Wasser gewaschen.« Anschließend sah sie zornig in die Kamera der Drohne. »Und jetzt geh mir aus dem Weg.«

Ich konnte es kaum glauben, dass sie sich die Zeit nahm, die Wunde mit dem Tuch und dem gereinigten Wasser zu säubern. Das war wirklich mal ein Fortschritt. Zwar hatte sie sich nur darauf eingelassen, weil die Jäger sie so vehement dazu gedrängt hatten. Aber wenn Cruella es auch in Zukunft so machte, würden die Infektionsfälle dramatisch zurückgehen.

Ich kippte die Drohne kurz nach vorn, um ein Nicken anzudeuten, und schickte sie zum Rand der Siedlung. Danach kehrte ich wieder in meine VR zurück und schloss das Videofenster. Dass die Medizinfrau von ihrer hergebrachten Heilmethode abrückte, war ein riesiger Erfolg, wofür ich ihr gern zum Dank aus den Augen ging. So konnte sie ihre Würde wahren und würde sich nicht genötigt fühlen, bei der nächsten Gelegenheit wieder auf stur zu schalten.

Damit würde ich zwar den Rest der Feierlichkeiten verpassen, aber das Schicksal der erlegten Quasischweine war mir wohlvertraut und mittlerweile gut dokumentiert. Vermutlich schmeckte es köstlich. Als ich an Rippchen in Barbecue-Sauce dachte, lief mir das Wasser im Mund zusammen. Da ich ein Computer war, benötigte ich natürlich kein Essen mehr, aber in der VR konnte ich tun und lassen, was ich wollte. Und da ich bereits eine Kaffeesimulation geschaffen hatte, konnte ich genauso gut auch noch Spareribs programmieren.

Spike schlich über den Schreibtisch und legte sich mit einem Miauen auf die Tastatur. Ich ließ mir von Jeeves noch einmal Kaffee nachschenken und drehte mich dann zu Marvin um. »Okay, die Show ist vorbei. Was gibt’s Neues? Wolltest du nicht etwas mit mir besprechen?«

Marvin nickte und erhob sich. Er ließ den La-Z-Boy verschwinden und kam zu meinem Schreibtisch herüber. Nachdem er sich einen Ohrensessel herangezogen hatte, ließ er über der Tischplatte einen Globus von Eden erscheinen. Einer der Kontinente war zu einem kleinen Teil rot umrandet. »Das ist das derzeitige Verbreitungsgebiet der Deltaner. Das alte Dorf habe ich aus der Darstellung rausgenommen, da dort niemand mehr ist …«

»Außerdem war es eher ein Flüchtlingslager als eine dauerhafte Siedlung«, fügte ich hinzu. »Sie haben nicht einmal eine ganze Generation lang dort gelebt.«

Marvin nickte. »Ich habe viel nachgeforscht und einige Ausgrabungen unternommen. Daher kann ich die historischen deltanischen Wanderungsbewegungen inzwischen ziemlich genau nachzeichnen.«

Als ich seinen erwartungsvollen Blick bemerkte, bedeutete ich ihm mit einer kreisenden Handbewegung, dass ich gern mehr erfahren würde.

»Sie scheinen ursprünglich nicht aus diesem Gebiet zu stammen«, fuhr er fort. »Offenbar hat sich der vernunftbegabte Zweig der Deltaner vielmehr hier entwickelt …« Marvin ließ den Globus rotieren und deutete auf einen anderen Teil des Kontinents. »… und ist erst anschließend in das derzeitige Areal umgezogen.«

»Und an ihrer Geburtsstätte lebt heute niemand mehr? Wieso?«

»Das ist es, was ich nicht verstehe, Bob. Ich habe zwar zahlreiche Hinweise auf verlassene deltanische Siedlungen entdeckt, aber viel zu wenige Gräber angesichts der Bevölkerungsdichte, von der wir ausgehen müssen.«

»Raubtiere?«

»Das habe ich zuerst auch vermutet. Aber wenn das stimmt, hätte ich doch hier und da auf ihre sterblichen Überreste stoßen müssen. Du hast doch gesehen, was die Gorilloiden von ihren Mahlzeiten übrig lassen. Sie sind nicht gerade sehr gründliche Nahrungsverwerter.«

Ich betrachtete den Globus und strich mir nachdenklich über das Kinn. »Das ergibt alles keinen Sinn. Laut deinen Aufzeichnungen hat es im Ursprungsgebiet überhaupt keine Gorilloiden gegeben. Also haben die Deltaner einen vergleichsweise sicheren Lebensraum zugunsten eines gefährlicheren Gebiets aufgegeben.«

»Und sind anschließend aus diesem gefährlicheren Gebiet geflohen und in ein noch gefährlicheres abgewandert.« Marvin schüttelte ratlos den Kopf. »Sie sind keine Dummköpfe. Vielleicht ist ihre Intelligenz noch nicht ganz auf menschlichem Niveau, aber sie verhalten sich grundsätzlich vernünftig. Irgendetwas übersehen wir.«

Mit einem Schulterzucken versetzte ich den Globus in eine Kreiselbewegung. »Das ist rätselhaft, Marvin, und Bobs lieben Rätsel.« Wir grinsten uns an. »Das Wichtigste ist jedoch, dass sie hier viel sicherer sind als an dem Ort, wo wir sie gefunden haben. Die Deltaner haben sich in Camelot gut eingelebt. Es gibt hier genug Wild für sie, und die Gorilloiden begreifen allmählich, dass es besser ist, sie nicht länger zu jagen.«

»Du willst ihre Siedlung wirklich Camelot nennen?« Marvin sah mich vorwurfsvoll an. »Jedes Mal, wenn du das sagst, muss ich an die Ritter der Tafelrunde denken.«

Ich grinste ihn mit erhobenen Augenbrauen an. »Das wäre doch ein gutes Leitbild.«

Marvin verdrehte die Augen und hielt den Globus an. »Ich werde auf jeden Fall mit meinen Untersuchungen fortfahren, aber die Voraussetzungen hier sind nicht sehr günstig. Auf der Erde konnten die Forscher auf vorhandenem Wissen aufbauen, und sie erkundeten eine Welt, die sie verstanden. Hier auf Eden ist alles neu für uns.«

»Stimmt. Und trotzdem haben sie Jahre gebraucht, um zum Beispiel das Schicksal der Anasazi-Kultur zu ergründen.« Ich ließ mich zurücksinken und schüttelte den Kopf. »Ja, ich verstehe, Marvin. Und es freut mich, dass du dich diesem Projekt widmen willst. Als ich hier ankam, habe ich zwar ein paar erste Erkundungen angestellt, aber das war damals nicht das Wichtigste für mich.«

Schmunzelnd nickte Marvin mir zu und verschwand aus meiner VR.

 

Dennis E. Taylor: „Wir sind Götter“∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Urban Hofstetter ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2018 ∙ 448 Seiten ∙ Preis des E-Books € 11,99 (im Shop)

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>>Wiederentdeckt: Der Bildband „Unter fremden Sonnen“

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Manchmal gibt es Romane, Comics, Filme oder Musik, die in der Zeit ihrer Entstehung durchs Raster fallen. Die veröffentlicht werden und dann einfach – verschwinden. Verschwinden, oder unverdienterweise vergessen werden. Manchmal lohnt sich aber ein zweiter Blick.

Die späten 1970er/frühen 80er waren eine Blütezeit der Science-Fiction– gerade auch in Deutschland. Eine regelrechte Flut von Büchern ergoss sich über die Leser, fast alle Taschenbuchverlage hatten bereits SF-Reihen oder starteten eigene, beflügelt vom Erfolg der Konkurrenz. Viele Werke, die bisher nur in gekürzter Form erhältlich gewesen waren, erschienen neu. Es gab Romane, Storysammlungen und Anthologien und selbst für den ausgefallensten Geschmack war definitiv jeden Monat etwas dabei.

Es war auch die Blütezeit der „Perry Rhodan“-Serie, die unter der Leitung von Willi Voltz einen bemerkenswerten Höhenflug erlebte und 1980 die 1000. Ausgabe erreichte. Und der Pabel-Moewig-Verlag, in dem die Serie erschien, ließ sich nicht lumpen. Auf der Welle des allgemeinen Booms der SF brachte man auch eine Reihe von Bildbänden heraus, die zwar für damalige Verhältnisse recht teuer waren, aber erstmals einen Blick auf ein Phänomen ermöglichte, das vor allem in den USA und England existierte. Denn dort waren die Illustratoren der Titelbilder verehrte Stars in der der SF-Fan-Szene und ihre schönsten Motive wurden in prächigen Büchern gesammelt. Und manchmal entstanden sogar Exklusiv-Bildbände mit gänzlichen neuen Illustrationen – und dazu gehörte auch der von Robert Holdstock und Malcolm Edwards herausgegebene Band „Unter fremden Sonnen“ (im Orig. „Alien Landscapes“).

Dieser Band war etwas ganz Besonderes, denn in ihm zeigten zehn verschiedene Künstler zehn verschiedene Welten der SF, die einen hohen Stellenwert bei den Lesern genossen. Eine Mini-Geschichte der SF sozusagen – im quadratischen LP-Format. Holdstock und Edwards steuerten die Texte bei, die diese Welten jenseits der Gemälde vorstellten und sie gaben sich alle Mühe, die Schauplätze berühmter Werke so real wie möglich erscheinen zu lassen.

Und die Welten waren:

• Arthur C. Clarke: Rama (Bilder: Jim Burns)

• Anne McCaffrey: Pern (Roger & Linda Garland)

• James Blish: Die Okie-Städte (John Harris)

• Hal Clement: Mesklin (Tony Roberts)

• Harry Harrison: Eros (Colin Hay)

• Frank Herbert: Arrakis (Terry Oakes)

• Larry Niven: Ringwelt (Stuart Hughes)

• Isaac Asimov: Trantor (Angus McKie)

• Brian Aldiss: Treibhaus (Bob Fowke)

• H.G. Wells: Das Ende der Welt (Les Edwards)

Vielleicht abgesehen von der ursprünglichen „Wüstenplanet“-Trilogie, deren Neuausgabe 1978 bei Heyne mit den umwerfenden Titelbildern von John Schoenherr erschienen war, hielt man sich in den deutschen Verlagshäusern lieber fern von den Werken der US-Coverkünstler und entwickelte bevorzugt einen eigenen Look, der nicht selten ins Abstrakte ging – sehr zum Leidwesen des „Fandoms“, das schon immer viel wert auf die „Stimmigkeit“ von Cover und Inhalt legte.

„Unter fremden Sonnen“ war da eine dankbare Alternative, denn hier wurden die Visionen der Autoren abseits von Werbewirksamkeit und Geldbeutel umgesetzt. Erstmals – und lange vor Internet und CGI – erblickte man diese Welten nicht nur in der eigenen Fantasie (die natürlich eh unschlagbar war), sondern durch die Augen hochbegabter Illustratoren, die sich alle Mühe gaben, den Beschreibungen von Clarke, Herbert oder Asimov gerecht zu werden. Und so wurde dieser Band zu einem fantastischen Kaleidoskop der SF, der liebgewonnene Welten zum Leben erweckte – und neugierig auf Welten machte, die man noch nicht entdeckt hatte.

Bei Interesse: „Unter fremden Sonnen“ bzw. „Alien Landscapes“ ist antiquarisch relativ leicht und günstig zu bekommen. Ein Blick lohnt sich!

Abb. ganz oben: Die Okie-Städte (John Harris)

Ebenfalls Wiederentdeckt.


Unter fremden Sonnen: Rama (Jim Burns)


Unter fremden Sonnen: Mesklin (Tony Roberts)


Unter fremden Sonnen: Arrakis (Terry Oakes)


Unter fremden Sonnen: Trantor (Angus McKie)

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Das erste Weltraum-Highlight des Jahres!

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1992 war das Rotkehlchen „Vogel des Jahres“, Bill Clinton wurde zum Präsidenten der USA gewählt, und unser Sonnensystem wurde eine Nummer größer, als Dave Jewitt und Jane Luu von der University of Hawaii ein kleines Objekt namens 1992QB1 entdeckten, das die Sonne jenseits der Neptunbahn in einem Abstand von 40 Astronomischen Einheiten umkreist. Die Suche nach solchen Objekten, über deren Existenz der holländische Astronom Gerard Kuiper in den 1950er Jahren spekuliert hat, ist ausgesprochen mühsam. Die größten KBOs (Kuiper Belt Objects) erscheinen, wenn überhaupt, nur als winzige Lichtpunkte im Teleskop, weswegen man sie lange für ferne Sterne gehalten hatte. Im Gegensatz zu „echten“ Sternen bewegen sie sich allerdings, wenn auch sehr langsam. Um ein KBO zu finden, muss man also immer denselben Bereich des Himmels über Tage hinweg beobachten und die Bilder dann miteinander vergleichen.


MU69 (eingekreist) wurde über mehrere Wochen hinweg von Hubble beobachtet

Heutzutage wird vor allem das Hubble-Teleskop dazu benutzt, um nach KBOs Ausschau zu halten, was erst seit Ende 1993, nachdem das Teleskop repariert wurde, möglich ist (unter anderem deswegen suchten die beiden Voyager-Sonden nicht nach ihnen, als sie den Kuiper-Gürtel durchquerten – wir wussten schlichtweg nicht, dass sie da sind). Seit 1992 wurden mehr als 3.100 Objekte im Kuiper-Gürtel gesichtet, und die Astronomen gehen davon aus, dass es insgesamt mehrere Hunderttausend KOBs gibt, deren Durchmesser größer ist als 30 Kilometer. Einige davon kommen uns hin und wieder entgegen: die kurzperiodischen Kometen, die von der Schwerkraft des Neptun aus ihren Bahnen gerissen und ins Innere Sonnensystem katapultiert werden, wo sie dann von der Sonne wieder zurück in die eisigen Außenregionen geschleudert werden. Doch die überwiegende Mehrzahl der KBOs bleibt dort, wo sie vermutlich seit der Entstehung des Sonnensystems sind: weit, weit weg.

Eines davon ist (486958) 2014 MU69. Es wurde im Juni 2014 von Hubble entdeckt und bekam die Kleinplanetennummer 486958. Es hat einen Durchmesser von schätzungsweise 25 Kilometern und braucht 293 Jahre, um unsere Sonne einmal zu umkreisen. Und es steht seit seiner Entdeckung im Fokus der Astronomen, denn die Raumsonde New Horizons, die 2014 noch auf ihrem Weg zum Zwergplaneten Pluto war, MU69 würde erreichen können. Ein Jahr später war es dann soweit: New Horizons schloss ihre Primärmission, den Vorbeiflug an Pluto, ab und machte sich auf den Weg in den Gürtel. Nach mehreren Kurskorrekturen hat New Horizons heute ihr nächstes Ziel erreicht: „Ultima Thule“, so der Spitzname von MU69, ist etwa 6,5 Milliarden Kilometer von der Erde entfernt, was diesen Flyby zu dem am weitesten von der Erde entfernten macht.


Die ersten Aufnahmen von Ultima Thule, die New Horizons gemacht hat

Live dabei sein können wir nicht, denn die Signallaufzeit zwischen New Horizons und der Erde liegt bei 6 Stunden, 7 Minuten und 48 Sekunden. Aber in den nächsten Tagen und Wochen werden wir sicherlich einiges über Ultima Thule erfahren. Die Sonde wird in einem Abstand von 3.500 Kilometern an dem KBO vorbeifliegen und dabei Daten sammeln und Bilder machen, die sie dann in den nächsten Monaten zur Erde zurückschickt (ganz so wie beim Pluto-Flyby). Über Monate hinweg stand Ultima Thule unter Beobachtung des Hubble-Weltraumteleskops und anderer Teleskope auf der Erde, wobei hauptsächlich nach möglichen Gefahren für die Sonde wie etwa kleinere Gesteinsbrocken Ausschau gehalten wurde. Bei einer Fluggeschwindigkeit von 58,536 km/h könnten selbst reiskorngroße Staubkörner die Sonde irreparabel beschädigen. Die Auswertung der Teleskopbilder brachte Erstaunliches zutage: Ultima Thule hat entweder eine sehr ungewöhnliche Form, oder das KBO besteht aus zwei Objekten, die einander in einem sehr engen Orbit umkreisen (und sich dabei möglicherweise berühren). Kleinere Monde oder gar ein Ringsystem scheint Ultima Thule nicht zu haben – gute Nachrichten also für die Sonde. Genau werden wir das allerdings erst wissen, wenn New Horizons die ersten Daten zur Erde geschickt hat.

Das gilt auch für das Aussehen von Ultima Thules Oberfläche. Bisher wissen wir nur, dass sie rötlich ist, was von den Kohlenwasserstoffen herrührt, die von der Sonne kommen und auf das KBO treffen. Als Faustregel gilt: je länger das passiert, desto röter wird das Objekt – und daraus schließen die Forscher, dass Ultima Thule schon sehr, sehr lange im Kuiper-Gürtel seine Bahn zieht. Es könnte sogar sein, dass die sich seit der Entstehung des Sonnensystems vor 4,6 Milliarden Jahren nicht verändert hat. Damit bekommen wir heute, wenn alles klappt, einen wirklich exklusiven Einblick in die Geschichte unseres Sonnensystems. Drücken wir also die Daumen, dass alles klappt, und freuen wir uns auf die ersten Bilder von den Grenzen unseres Sonnensystems!


Zum Pluto und noch weiter: Die Flugbahn der Sonde durch das Sonnensystem

Alle Bilder © NASA/JPL

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Wird fortgesetzt – oder?

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Die Welt der heutigen Film-Blockbuster und TV-Serien würde ohne die Comic-Steinbrüche von Marvel und DC komplett anders aussehen. Doch auch andere Verlage, andere geschriebene und gezeichnete Bildergeschichten und Comic-Figuren, wecken inzwischen das Interesse von Film und Fernsehen – und das ist, trotz aller Aufmerksamkeit für die Kreativen und Werke aus der Neunten Kunst des grafischen Erzählens, nicht immer gut für das Ursprungmedium. Man gönnt es den Autoren natürlich, wenn sie nach vielen Jahren voll starker Panel-Storys schließlich Gold und Anerkennung außerhalb der Comic-Szene finden, aber als Leser muss man manchmal auch für den Erfolg und den medialen Paradigmenwechsel der Lieblingsschreiber büßen, wie ein paar aktuelle, prominente Beispiele deutlich machen.

US-Autor Brian K. Vaughans erfrischende Hochglanz-Space-Opera „Saga“ verabschiedete sich dieses Jahr mit US-Heft 54 – bzw. Sammelband 9 – und einem brutalen Cliffhanger auf unbestimmte Zeit in eine längere Pause. Gleichzeitig wissen Fans seit Kurzem, dass Vaughans parallel laufendes Zeitreise-Highlight „Paper Girls“ im Juli 2019 mit US-Ausgabe 30 zu Ende gehen soll, womit niemand so früh rechnete. Nun hat das exzellente „Saga“ bereits einige kürzere Auszeiten hinter sich, die Vaughan und Zeichnerin Fiona Staples damit erklärten, dass ihnen Güte über alles geht, und das Ergebnis ihrer internen Qualitätskontrolle gab ihnen bisher stets Recht. Allerdings wurde Anfang Dezember obendrein verkündet, dass BKV mit Legendary einen Deal über seine Creator-Owned-Comics abgeschlossen hat; und da es sich bei Vaughan um einen TV-Veteran („Lost“, „Under the Dome“) handelt, darf man davon ausgehen, dass er in den Entwicklungsprozess und womöglich sogar die Drehbücher der Legendary-Vorstöße in sein Werk involviert sein wird. Nicht zu vergessen, dass er als Producer längst an der überfälligen Fernsehinterpretation seiner postapokalyptishen Vertigo-Comic-Serie „Y: The Last Man“ beteiligt ist. Ein Schelm also, wer Böses dabei denkt. Wir vermissen unsere liebste Alien-Familie aus „Saga“, das im druckfrischen deutschen Band 9 noch mal alle Tugenden der bestechenden SF-Serie beschwört, jedenfalls jetzt schon, und warten kribbelig auf die nächsten Comic-Kapitel. Zudem würde man sich als Leser mal wieder über eine Brian K. Vaughan/Marcos Martin-Eigenproduktion auf PanelSyndicate.com freuen.

Die Fans von Warren Ellis sind indes Kummer gewohnt – als Fanboy hat man die unfertigen Ellis-Serien „Doctor Sleepless“ und „Fell“, die einem Festplatten-Crash zum Opfer fielen, nie ganz überwunden. Der oberste Futurologe der Comic-Welt tanzt seit Jahren schwer beschäftigt an der Grenze zum Burnout entlang. Bücher, Comics, TV-Serien, Filme – der Brite hat mehr Projekte in der Pipeline und mehr Bälle in der Luft, als er uns trotz seines legendären E-Mail-Newsletters wissen lässt. Sicherlich hat die lange Wartezeit auf neue Kapitel von „Injection“ auch mit dem Zeitplan von Zeichner Declan Shalvey und mit Ellis’ überzeugendem „WildStorm“-Relaunch bei DC zu tun, doch pausierte ja selbst das von Zach Howard bebilderte „Trees“, weshalb Howard und Ellis kurzerhand die actionlastige SF-Miniserie „Cemetery Beach“ als weniger komplexen Füller aus der Taufe hoben. Dennoch, irgendwie wird man das Gefühl nicht los, dass zwischen den nächsten Heften von „Trees“, das übrigens ebenfalls für eine Umsetzung als TV-Serie vorgesehen ist, vor allem immer Netflix’ Animationsserie „Castlevania“ steht, dessen Staffeln Ellis schreibt. Immerhin: Sowohl „Injection“ als auch „Trees“ sollen 2019 weitergehen. Bleibt zu hoffen, dass Ellis, der vor wenigen Jahren einen gesundheitlichen Warnschuss verpasst bekam, sich nicht mal ganz übernimmt und bei aller Kreativität und allem Können besser auf sich aufpasst.

Auch Ed Brubaker schreibt deutlich weniger Comics als früher. Für Marvel und DC inszenierte der Amerikaner vor über zehn Jahren denkwürdige, wichtige Runs in „Captain America“ (Brubaker erschuf den Winter Soldier), „Daredevil“, „Gotham Central“, „Batman“, „Sleeper“ und „Catwoman“, dazu kamen allerhand eigenständige Krimi-Stoffe, allen voran die Serie „Criminal“. In den letzten Jahren reichte es nur noch für das wenigstens ziemlich gute „Kill or Be Killedmit Langzeit-Kreativpartner und Zeichner SeanPhillips, das von „John Wick“-Regisseur Chad Stahelski verfilmt werden soll. Der Grund für den Rückgang von Brubakers Comic-Veröffentlichungen? Bru verdingte sich als Autor für die TV-Neufassung von „Westworld“ und brachte Amazons Krimi-Serie „Too Old To Die Young“ auf den Weg, auf die wir uns für 2019 selbstverständlich ungeachtet der Comic-Rezession im Brubaker-Land mächtig freuen. Dennoch ist es beruhigend, dass der Amerikaner und sein britischer Partner-in-Crime Phillips nach der in vielerlei Hinsicht etwas dünnen Graphic Novel „My Heroes Have Always Been Junkies“ sowie dem Finale von „Kill or Be Killed“ im Januar 2019 eine neue Serien-Inkarnation ihres Comic-Meisterwerks „Criminal“ lancieren.

Greg Rucka, der mit Brubaker die zurecht preisgekrönte Panel-Serie „Gotham Central“ über die Cops in Batmans düsterer Heimatstadt verfasste und wie sein Kollege früher fleißig für die Superhelden-Verlage Output generierte, scheint sich auch etwas verzockt zu haben, was das Zeitmanagement angeht. Seine starken, viel gelobten unabhängigen Genre-Serien „Lazarus“ und „Black Magick“ litten zunächst unter Ruckas jüngstem „Wonder Woman“-Run zu Beginn der Ära DC Rebirth, und dann … tja, gute Frage eigentlich. Vielleicht unter Drehbuchfassungen für die seit Längerem angedachte „Lazarus“-Verquickung via Amazon? Jedenfalls ist es nun so weit, dass die zwischenzeitlich durch eine gute, jedoch etwas unbefriedigende Anthologie-Miniserie ergänzten „Lazarus“-Comics in den USA 2019 mit verändertem Format und Erscheinungsrhythmus neu durchstarten müssen. Ob und wie es mit der sympathischen Krimi-Serie „Stumptown“ weiter geht, steht dagegen ganz in den Sternen.

Betrachtet man sich diese Wechselwirkung zwischen Comic-Autoren und ihren Multimedia-Ambitionen, bleibt „Kick-Ass“-Schöpfer Mark Millar wieder einmal eine Ausnahmeerscheinung. Seit dem Deal mit Netflix, das sich 2017 Millarworld bis auf das Kick-Ass-Franchise einverleibte, bringt der Schotte seine Ideen exklusiv beim Streaming-Giganten ein. Sieben Filme oder Serien entwickelt der Bestsellerautor mit der beispiellosen Comic/Multimedia-Karriere jährlich für Netflix – rund die Hälfte davon, gezeichnet von den Top-Künstlern der Szene, werden vorab wie gewohnt in Comic-Form veröffentlicht. „The Magic Order“, der erste Millar-Comic unter Netflix-Flagge, hat die Messlatte für dieses Konzept gleich ganz schön hoch gelegt. In Sachen Frequenz und Konsequenz, was seine Comics angeht, wird Millar wohl eine Ausnahmeerscheinung bleiben. Vermutlich muss man hier aber in Relation stellen, dass Millar bei aller Unterhaltsamkeit eben hauptsächlich für Popcorn-Comics zuständig ist, und nur bedingt für vielschichtige Settings und Szenarien.

Comic-Autoren, die ihr Talent in anderen Medien ausleben, sind in jedem Fall ein Grund zur Freude, und in 2019 sowie den folgenden Jahren bescheren sie uns sicher einige gute Filme und Fernsehserien. Selbst wenn ihr Comic-Schaffen darunter leidet und man als treuer Fanboy ihrer Bildergeschichten die Zähne zusammenbeißen muss. Hoffen wir trotzdem, dass sich niemand ganz aus dem Comic-Metier verabschiedet und es mit „Saga“, „Lazarus“, „Trees“ und Co. bald in einem halbwegs vernünftigen Rhythmus weitergeht.

Große Abb. ganz oben: „Saga“ (Image)

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2019 im All

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Dieses Jahr ging gut los, zumindest für Weltraum-Enthusiasten: Am Neujahrstag flog die Raumsonde New Horizons am Kuiper-Gürtel-Objekt „Ultima Thule“ vorbei. Aber auch wesentlich näher an unserem Zuhause gab es bereits einiges zu vermelden: OSIRIS-REx erreichte den erdnahen Asteroiden Bennu, und die chinesische Raumsonde Chang’e 4 setzte auf der erdabgewandten Seite des Mondes auf.

Chang’e 4 wird im Laufe des Jahres höchstwahrscheinlich Gesellschaft bekommen, denn Indien plant im Rahmen der Chandrayaan-2-Mission die Landung einer Sonde in der lunaren Südpolregion, wenn auch auf der erdzugewandten Mondseite. An Bord soll ein sechsrädriger Rover sein, der sich die Oberfläche genauer ansehen und dabei unter anderem nach Mineralien und Wassereis Ausschau halten soll. Und auch Israel könnte in diesem Jahr zu einer der Nationen werden, die auf dem Mond gelandet sind, denn SpaceIL, ein nichtstaatliches Unternehmen, das eigentlich am Google Lunar X Prize teilgenommen hat, wird inzwischen von einem Millionär unterstützt und hat seinen Rover inzwischen fertig und könnte noch im Januar mit einer Falcon 9 in die Umlaufbahn gebracht werden. Von dort aus soll sich das Gefährt aus eigenem Antrieb auf zum Mond machen. Für die Reise werden zwei Monate veranschlagt; ob alles geklappt hat, erfahren wir also bestenfalls im März 2019. Sollte SpaceIL dieses Kunststück gelingen, wäre das die erste Landung eines privaten Unternehmens auf dem Mond.

Etwas weiter von der Erde entfernt kreist die japanische Raumsonde Hayabusa-2 um den Asteroiden Ryugu, wo sie im letzten Jahr den Lander MASCOT sowie zwei kleine „Rover“ ausgesetzt hat. In der ersten Jahreshälfte, vielleicht schon Ende Januar, soll die Sonde – als erste ihrer Art – eine erste Bodenprobe entnehmen. Hayabusa-2 hat zudem einen „Impactor“ an Bord, mit dem sie in der Lage ist, einen rund zwei Meter großen Krater in den Asterioden zu schießen. Während des Vorgangs, der voraussichtlich in der zweiten Jahreshälfte stattfinden soll, wird sich Hayabusa hinter Ryugu verstecken, um nicht von herausgeschleudertem Gestein getroffen zu werden. Zwei Wochen nach dem Beschuss wird die Sonde dann wieder um den Asteroiden herumfliegen und eine Probe aus dem Krater entnehmen, sodass die Wissenschaftler die Möglichkeit haben, Gestein zu untersuchen, das unter der Oberfläche lag und daher der „Weltraumwitterung“ nicht ausgesetzt war. Derzeit ist die Suche nach einer geeigneten Entnahmestelle noch in vollem Gange. Leider herrscht auf dem zerklüfteten und überraschend eckigen Asteroiden ein akuter Mangel an flachem, ebenem Gelände, sodass sich die Suche noch etwas hinziehen kann. Hayabusa-2 soll noch bis Ende des Jahres um Ryugu kreisen und dann zu uns zurückkehren – mit allen gesammelten Proben an Bord!


Ein Asteroid mit Ecken und Kanten: Ryugu, gesehen durch die Hayabusa-Kamera

Im April 2019 endet der Vertrag zwischen der NASA und ROSKOSMOS über die Beförderung von Menschen und Ausrüstung zur Internationalen Raumstation, und die privaten Weltraumunternehmen stehen in den Startlöchern, um diese Aufgabe zu übernehmen. Allen voran SpaceX, die am 17. Januar als letzten Test eine unbemannte Dragon-Raumkapsel zur ISS schicken werden. Wenn dabei alles gut geht, werden im Juni die beiden NASA-Astronauten Doug Hurley und Bob Behnken mit einer Dragon ins All fliegen. Im März 2019 will Boeing ihre Transportkapsel, den CST-100 Starliner, mit einer Atlas 5 Rakete zur ISS schicken; der erste bemannte Flug könnte dann Boeing-Astronauten Chris Ferguson und die NASA-Astronauten Eric Boe und Nicole Mann im August zur Raumstation bringen. Jeff Bezozs‘ Blue Origin hat ebenfalls unbemannte wie bemannte Testflüge mit dem New Shepard Orbitalflugzeug geplant; genaue Termine stehen allerdings noch nicht fest. In Sachen bemannter Raumfahrt ist auch die Chinesische Weltraumagentur auf dem Vormarsch; sie will 2019 ihre neue Raumkapsel testen, mit der eines Tages bis zu sechs Taikonauten zu einer chinesischen Raumstation geflogen werden sollen. Wann es soweit ist, ist bisher nicht bekannt.


Das erste Selfie von InSight auf dem Mars

227 Millionen Kilometer von der ISS entfernt spielt sich seit letztem Jahr ein Drama ab, das 2019 zu einem Ende kommen wird: Der Marsrover Opportunity ist nach einem Staubsturm am 10. Juni 2018 in den Winterschlaf-Modus gegangen und seitdem nicht mehr aufgewacht. Bei der NASA will man weiterhin versuchen, „Oppy“ zu erreichen, aber sollte sich der Rover 2019 nicht melden, muss die Mission nach 15 Jahren als beendet angesehen werden. Opportunitys Kollegen sind allerdings weiterhin aktiv, allen voran Curiosity. Der Neuzugang der Mars-Lander-Familie ist InSight, der im November 2018 in Elysium Planitia gelandet ist und wie geplant seinen Dienst aufgenommen hat. Die Mission soll mehr über den inneren Aufbau des roten Planeten enthüllen, und so wird InSight Ende Januar oder Anfang Februar damit beginnen, Löcher von bis zu fünf Metern Tiefe zu bohren, um die Wärmeströme im Marsinneren zu messen. Bisher hat InSight ein Seismometer auf der Marsoberfläche ausgesetzt, mit dem es in der Lage war, das Vibrieren der Solarzellen im Marswind aufzufangen. Die allererste Audio-Aufzeichnung des Windes auf einem anderen Planeten finden Sie hier.

Jenseits des Asteroidengürtels umkreist die Raumsonde Juno nach wie vor den Gasriesen Jupiter auf ihrer komplizierten polaren Umlaufbahn, die vor allem dazu dient, das extrem starke Magnetfeld zu vermeiden. Die nächste Annäherung an den Jupiter findet am 17. Februar statt, die übernächste dann am 6. April 2019. Neben jeder Menge Daten dürfen wir uns also demnächst wieder an den atemberaubenden Bildern von Jupiters Wolken freuen!


Jupiters Wolken, aufgenommen von der Raumsonde Juno

Im Oktober/November 2019 will die Europäische Raumfahrtagentur ESA endlich, mit nur vier Jahren Verspätung, ihr Weltraumteleskop CHEOPS ins All bringen. In einer Höhe von 700 Kilometern, auf die es mit einer Soyuz-Kapsel gebracht wird, soll es Ausschau nach Exoplaneten halten, indem es sich andere Sterne ansieht und misst, ob diese sich regelmäßig verdunkeln – etwa, wenn sich ein Planet zwischen Stern und Teleskop schiebt. Auf diese Weise soll CHEOPS Planeten finden, deren Größe zwischen der des Neptuns und der der Erde liegt.

Damit aber noch nicht genug der Highlight für 2019: Dieses Jahr dürfen wir uns auf gleich zwei bedeutende Jubiläen freuen. Zum einen feiern wir am 16. Juli natürlich 50 Jahre Mondlandung durch die Astronauten von Apollo 11 (die Neil-Armstrong-Biografie zum Kinofilm „First Man“ finden Sie in unserem Shop), wozu es weltweit jede Menge Aktivitäten geben wird (und das Ganze auch noch bei Vollmond – passender geht’s kaum!). Doch 2019 steht auch ein Jubiläum an, das wesentlich weniger bekannt sein dürfte: am 29. Mai jährt sich zum 100. Mal die Sonnenfinsternis von 1919 und damit auch die Beobachtungen des britischen Astronomen Arthur Eddington. Er stellte fest, dass das Licht entfernter Sterne offensichtlich von der Gravitation der Sonne abgelenkt wurde – und bewies damit Albert Einsteins allgemeine Relativitätstheorie.

Das Highlight, auf das Sie sich am meisten freuen, war nicht dabei? Schreiben Sie uns doch einen Kommentar!

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Wenn die Erde plötzlich verstummt

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Er ist frisch aus der Druckerei gekommen (oder vom E-Book-Server, wenn Ihnen das lieber ist) – Peter Cawdrons packender Roman „Habitat“ (im Shop) über eine Gruppe von Wissenschaftlern und Astronauten, die in ihrer Forschungseinrichtung auf dem Mars gestrandet sind. Denn die Signale der Erde verstummen plötzlich, und das heißt nichts Gutes …

Peter Cawdron: HabitatBen Bova, einer der großen Autoren von Hard-Science-Fiction und Romanen über die Planeten des Sonnensystems, ist jedenfalls begeistert: „Peter Cawdrons Habitat ist Pflichtlektüre!“ Damit Sie den Marsthriller selbst begutachten können, stellen wir Ihnen hier exklusiv eine umfangreiche Leseprobe daraus zur Verfügung:
 

*
 

1

Teufel

Mir ist schwindlig vom Reiswein.

»Okay, teilt die Karten noch einmal aus«, sagt James und lässt die Hand über dem Tisch kreisen. »Ich habe es verstanden. Ich kann den Gutsherrn austricksen.«

»Es heißt dou di zhu«, erwidert Su-shun. »Gegen den Gutsherrn kämpfen, nicht ›austricksen‹.«

Ich lache, als Jianyu mir ein weiteres winziges Glas einschenkt. »Versuchst du, mich betrunken zu machen?«, frage ich.

Jianyu antwortet, aber im Lärm des Kartenspiels kann ich ihn nicht verstehen. Und James ruft laut: »Eine Trickserei ist ein Kampf, in dem man unsichtbar bleibt, mein Freund. Eine Trickserei ist genauso gut wie ein Kampf, manchmal sogar besser.«

»Das ist es manchmal«, räumt Su-shun ein, während er die Karten rings um den Tisch verteilt.

Jianyu lächelt mich an und wendet sich dann an James. »Du klingst wie Sun Tzu in Die Kunst des Krieges

»Hat er das gesagt?«, fragt James mit Unschuldsmiene.

»Nein«, antwortet Su-Shun, und alle brechen in lautes Gelächter aus.

»Du hast zu viel getrunken«, sage ich zu James, aber ich bin es, die unter dem Einfluss des Alkohols in der leichten Marsgravitation schwankt. Mit einer Hand halte ich mich an der Tischkante fest, weil ich das Gefühl habe, ich könnte davonschweben. Der Rest der chinesischen Besatzung versammelt sich und macht lautstark die Wetteinsätze. Sie sprechen so schnell, dass für mich nur schwer vorstellbar ist, wie irgendjemand den Gesprächen folgen kann. Mir ist nur klar, dass große Aufregung wegen James und seiner höchst unangebrachten Prahlerei herrscht, wobei die Chinesen sowohl auf als auch gegen ihn wetten, aber ich habe den Verdacht, dass sie hauptsächlich auf seine Niederlage setzen.

Wie Rauch in irgendeinem schäbigen Restaurant in Schanghai umweht uns Wasserdampf, der mit selbst gemachtem Weihrauchduft von Verdunstern aufsteigt, die ihn im ganzen chinesischen Modul verteilen. Ich liebe dieses Ambiente. Für ein Mädchen aus dem Mittleren Westen ist das Eintauchen in eine fremde Kultur genauso berauschend wie Alkohol, und ich bin hin- und hergerissen, ob ich bleiben oder gehen soll. Ich habe dreißig Kilo Gesteinsproben, die ich morgen sichten muss – das sind locker acht bis zehn Stunden Arbeit.

»Wir sollten gehen«, sage ich, tippe James auf die Schulter und zeige auf die Digitaluhr an der Wand. Sie zeigt 0:00 Uhr, aber die Sekundenanzeige hat schon weit über die 60 hinausgezählt – sie steht bei 2.344 und läuft weiter. Ich vergesse immer wieder, wie viele Sekunden genau die marsianische Zeitverschiebung beträgt, aber ein Tag auf dem Mars dauert ungefähr vierzig Minuten länger als auf der Erde. Also sind unsere Uhren darauf eingestellt, zwischen 0:00 und 0:01 Uhr für diese Zeitdauer zu pausieren. Theoretisch bedeutet das, wir können jeden Tag etwas mehr als eine halbe Stunde länger schlafen, aber in der Praxis fließt diese Zeit in unsere Arbeit ein. Unsere biologische Uhr ist wie die jener Weltenbummler, die ständig die Zeitzonen wechseln. Der physiologische Effekt ist so, als würde man einmal pro Monat um die Welt herumfahren – was viel verrückter ist, als es scheint, denn etwa zur Hälfte des Monats fühlt sich Mittag allmählich wie Mitternacht an. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich je daran gewöhnen werde.

»Komm schon, Liz! Ich stehe kurz davor, sie auszunehmen.«

»Ja, klar, auf gar keinen Fall«, sage ich und deute auf die Luke, die aus dem Modul herausführt. »Lass uns gehen.«

Su-shun wirft mir einen Blick zu, als wäre er eine Katze, die mit einer Maus namens James spielt und ihm nur so viel Freiheit lässt, dass er im nächsten Moment wieder mit langen, scharfen Krallen zuschlagen kann. Er lächelt mit schmalen Augen. So etwas gefällt ihm.

Ich schaue zu Jianyu und versuche seine Aufmerksamkeit zu bekommen, als er sich hinter James stellt, aber er ist viel zu sehr vom Spiel gefesselt.

Rufe hallen durch das Modul. Es ist erstaunlich laut in der länglichen Röhre. Manchmal fällt es schwer, sich daran zu erinnern, dass wir uns auf einem anderen Planeten befinden, viele Millionen Kilometer von zu Hause entfernt. Dies könnte ein Simulator auf der Erde sein, obwohl es dort nie so ausgelassen zuging. Ohne Ausbilder, die unser Verhalten kritisieren, ist das Leben auf dem Mars viel freier – oder so frei, wie es innerhalb einer Blechbüchse möglich ist.

Jianyu setzt etwas Geld auf James, was mich überrascht – auch wenn »Geld« ein zu starkes Wort ist. Pokerchips dienen als Pseudowährung in der informellen Wirtschaft dieser Kolonie. Die meisten Leute besorgen sich die Dinge, die über die Grundbedürfnisse hinausgehen, mittels Tauschhandel, aber manchmal wird auch mit Chips bezahlt.

Der süße Duft von Gewürzreis hängt in der Luft. Dünne Streifen aus künstlichem Fleisch brutzeln in einem Wok, in dem der Koch immer wieder ein saftiges asiatisches Gericht wendet und alle paar Sekunden mit einer kleinen Kelle Wasser hinzugibt, was Dampfwolken in der übermäßig feuchten Luft aufsteigen lässt. Der Koch redet genauso schnell wie alle anderen, obwohl ich nicht weiß, mit wem – und ich bin mir nicht einmal sicher, ob ihm irgendjemand zuhört. Das Essen riecht zwar köstlich, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Besatzung um fast ein Uhr nachts eine Mahlzeit zu sich nehmen möchte. Andererseits hat die Party für die Chinesen gerade erst begonnen.

Ich mag das chinesische Modul. Von der technischen Ausstattung her ist es ein Spiegelbild unseres eigenen Moduls, aber die Chinesen haben es zu ihrem Zuhause gemacht. Irgendwie haben sie es in eine kleine Gasse in Guangzhou verwandelt – pulsierend und voller Leben. Kleidung hängt an einer Leine, die quer durch den hinteren Bereich des Gemeinschaftsraums gespannt wurde, was Connor im US-Modul niemals erlauben würde. Für mich sind die Kleidungsstücke wie Wimpel, farbenfrohe Fahnen, festliche Dekoration. Ich bezweifle, dass irgendwer hier genauer darüber nachdenkt. Es ist ein Hauch des Lebens auf der Erde, das auf den Mars versetzt wurde.

»Du bist der Gutsherr«, ruft Su-shun und zeigt auf James, als würde er bei einer Gegenüberstellung einen Mörder identifizieren.

»O nein, nein, nein, mein Freund«, sagt James und hebt warnend einen Finger. »Ich sehe, was du vorhast. Du bist der Gutsherr!« Rund um den Tisch ertönt Gelächter.

»Na komm schon, Liz«, sagt Jianyu. »Wirf ein paar Chips in den Pott.« Seine Hand streicht über die Rückseite meines Arms, dann geht er um mich herum, aber er berührt mich gerade lange genug, um Zärtlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Normalerweise ist er diskret, wenn es um unsere Beziehung geht. Ich glaube nicht, dass es ihm peinlich ist, etwas mit einer Ausländerin zu haben, oder dass er mit Absicht ein Geheimnis daraus macht. Er zeigt seine Gefühle einfach nicht in der Öffentlichkeit, was für mich völlig in Ordnung ist. Die ländliche chinesische Bescheidenheit ist kurios für jemanden, der sechs Jahre lang im Zentrum von Chicago gelebt hat. Doch an diesem Abend ist ihm der Reiswein zu Kopf gestiegen, und er gibt mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Du weißt, dass du es willst«, fügt er hinzu.

»Auf gar keinen Fall«, sage ich und lache mehr über seinen ungestümen öffentlichen Kuss als über seine Worte, aber ich lasse mich von der Begeisterung mitreißen. Es geht gar nicht mehr darum, ob ich bleibe oder gehe, sondern ob ich wette oder weiter mit den Chips in meiner Hosentasche spiele. Ich bin müde. An diesem Tag hatte ich einen achtstündigen Oberflächeneinsatz. Mein Körper sehnt sich nach meinem Bett, aber mein Herz liebt die Explosion des Lebens, die um mich herum stattfindet.

»Ah, ha ha«, sagt Su-shun und zeigt nun auf mich. »Sie macht sich Sorgen, dass er verlieren könnte!«

»Sie ist zu clever«, erwidert Jianyu und zwinkert mir zu. Dann werden weitere Pokerchips auf den Haufen mitten auf dem Tisch geworfen. Wie sie den Überblick behalten, wer was auf wen gesetzt hat, ist mir schleierhaft, aber das System scheint zu funktionieren. Allerdings hege ich den Verdacht, dass es im Grunde gar keine Rolle spielt. An Spielabenden wie diesen sind die Chips wie Gold, auch wenn sie letztlich kaum mehr als Flitter sind.

Fünf Spieler sitzen am runden Esstisch, und um sie herum drängen sich zwei Dutzend Zuschauer, die alle einen möglichst guten Blickwinkel haben wollen. Das sind praktisch alle, die im chinesischen Modul wohnen, aber das Gewimmel erweckt den Eindruck, als würden sich Hunderte von Leuten auf einem überfüllten Markt tummeln.

Su-shun hat die Karten ausgeteilt, doch bevor irgendwer sein Blatt aufheben kann, stürmt Wen herbei und schiebt Leute aus dem Weg, damit sie bis zum Tisch durchkommt.

»Raus, raus, raus!«, übertönt sie den Krawall. Dann beugt sie sich vor und wischt zwei Kartenstapel beiseite. »Die Amerikaner müssen gehen.«

»Was?« Su-shuns Gesicht zeigt Fassungslosigkeit.

»Geht, sofort!«, ruft Wen und blickt mir in die Augen. Ich sehe eine Persönlichkeitsveränderung. Da ist keine Neckerei mehr, kein freundlicher Wettstreit. Ich erkenne Wut in ihren Augen.

»James«, sage ich und zerre an seiner Schulter. »Wir müssen gehen.«

»Was? Ich kann nicht. Ich habe Chips im Pott!«

Wen macht sich nicht die Mühe, die übrigen Karten einzusammeln. Es genügt, dass sie sie einfach vom Tisch gefegt hat. Die anderen Spieler sind erzürnt.

»Verschwindet!«, brüllt sie.

Wen begnügt sich nicht mit den Karten. Jetzt schleudert sie die Chips über den Tisch. In der niedrigen Marsgravitation fliegen sie durch die Luft und hüpfen über den Boden des Moduls. Wir waren neun Monate lang auf dem Mars, um die Hauptbasis zu errichten, aber der Anblick von Objekten, die unter den hiesigen Schwerkraftverhältnissen geworfen werden, wird niemals langweilig. Es irritiert, dass Dinge hier anderen Gesetzen gehorchen als in einer Umwelt, in der 1 g herrscht, wie die, in der wir aufgewachsen sind. Es ist, als hätte das Universum uns hintergangen, sodass sich das Leben auf dem Mars niemals ganz richtig anfühlen wird.

»Wen!«, protestiert Jianyu, aber die alte Matriarchin lässt sich nicht besänftigen. Wieder schreit sie uns an, dass wir gehen sollen.

Wen hat ihr langes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Mit vierundsechzig Jahren ist sie die älteste Person auf dem Mars, aber angesichts ihrer Konstitution und Arbeitsleistung würde man nie ihr wahres Alter erraten. Sie ist imposant und schüchtert sogar die Männer ein.

James erhebt sich langsam. Er wankt leicht unter den Auswirkungen des Alkohols und der ungewöhnlichen Schwerkraft. Auch zu den besten Zeiten kann es leicht passieren, dass man auf dem Mars das Gleichgewicht verliert. Und für James sind es keineswegs die besten Zeiten. Ich lege eine Hand an seinen Arm. Wen packt uns beide und führt uns zur zentralen Nabe am Ende des Moduls.

Da hier nur ungefähr ein Drittel der Erdschwerkraft herrscht, ist jeder Marsch eine schwierige Angelegenheit, aber Wen drängt uns vorwärts. Mit jedem Schritt prallen unsere Füße ein wenig vom Boden ab.

Die meisten Kolonisten bemühen sich, für 1 g fit zu bleiben. Es ist einfach, nachlässig zu werden und sich mit weniger zu begnügen, aber das gilt nicht für Wen. Auf der Erde hat sie bei Marathonläufen mitgemacht. Ich glaube, es wäre kein Problem für sie, hier mehrere hintereinander zu laufen. Einer der Chinesen öffnet die Luke, während wir hinausgeführt werden.

»Wir hatten nur ein bisschen Spaß!«, protestiert James, als wir in die große Zentralnabe geschubst werden, die die verschiedenen Module wie Speichen eines riesigen Rades miteinander verbindet. Die Eurasier sind gerade dabei, ihre Außenluke zu schließen. Der Durchgang zum russischen Modul ist bereits dicht. Normalerweise bleiben die inneren Luken geschlossen, um die Luftfeuchtigkeit und die Zirkulation zu kontrollieren, aber die schweren Außenluken werden nur während eines Verschlusstests oder einer Druckabfallübung gesichert. Es ist mitten in der Nacht. Es geht nicht um unser Spiel. Es muss irgendetwas anderes passiert sein, und nicht zu wissen, warum wir so behandelt werden, fühlt sich ein wenig unheimlich an. Mein Kopf ist vom Alkohol getrübt, und dieser Gedanke fliegt wie ein Vogel im Wind vorbei.

»Zhànzhēng fànzi«, brüllt Wen, während sie die Luke schließt. Hinter ihr sehe ich kurz Jianyu. Er wirkt verwirrt. Er versucht, etwas zu sagen, mit den Lippen ein paar Worte auf Englisch zu formen, aber ich verstehe ihn nicht.

Zhànzhēng fànzi. Von Jianyu habe ich ein wenig Chinesisch gelernt. Obwohl ich große Schwierigkeiten mit dieser unglaublich komplexen Sprache habe, konnte er mir ein paar allgemeine Wendungen beibringen. An diese erinnere ich mich, weil sie sich für mein Ohr reimt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es auf Chinesisch »Kriegstreiber« heißt.

Ich fühle mich wie ein gemiedener Aussätziger.

»Was zum Teufel?«, sagt James und lehnt sich gegen das Geländer des Laufstegs in der Nabe.

Sternenlicht sickert von oben herein.

Die vier Module, aus denen die Marskolonie besteht, wurden tief im Boden in Lavaröhren angelegt, um uns vor der kosmischen Strahlung zu schützen. Zwischen uns und der rauen, strahlenversengten Oberfläche des Planeten liegen etwa zehn Meter aus Basalt und Regolith.

Die Module wurden in zwei Lavatunnel hineingebaut, die sich in Form eines X kreuzen. Im Zentrum des X ist die Decke eingestürzt, wahrscheinlich schon vor Jahrmillionen, lange bevor der Homo sapiens als Spezies existierte. Das ist das Verrückte am Mars: Hier ist nichts neu. Es gibt jede Menge erodierten feinen Staub und einen gelegentlichen Meteortreffer, aber die geologischen Landschaften, die wir erkunden, sind mehrere Hundert Millionen Jahre alt – wenn nicht Milliarden. Es scheint, als wäre der Planet in der Zeit erstarrt, um auf Forscher von der Erde zu warten.

Der Einsturz über der Nabe bildet ein natürliches Dachfenster, das knapp 15 Meter durchmisst und aus dem Orbit leicht zu erkennen ist. Es dauerte fast vier Monate, bis unser automatischer Extruder das Fenster mit einer Glaskuppel versehen hatte. Damals waren wir gezwungen, Schutzanzüge zu tragen, wenn wir zwischen den Modulen wechseln wollten. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, aber das Warten hat sich gelohnt. Sobald die Kuppel stand und die Wände mit dickem Plastik versiegelt waren, das hier auf dem Mars hergestellt wurde, verdreifachte die Nabe den nutzbaren Raum in der Kolonie. Das mehrfach beschichtete Bleiglas des Dachfensters ist einen Meter dick, um uns vor der Strahlung zu schützen. Am Rand verzerrt die Kuppel das Licht, das von außen einfällt, aber in einer klaren Nacht wie dieser hat man einen atemberaubenden Blick auf die Sterne genau über uns.

Harrison kommt aus dem US-Modul gestürmt.

»Wo zum Teufel wart ihr beide?«, brüllt er durch die Nabe, in der Weizen und Mais auf Terrassenfeldern unter bläulichen Wachstumslampen gedeihen. Die Nabe ist riesig, aber nicht nur, weil sie eine größere Fläche einnimmt als die Module. Sie ist von Natur aus fast vier Stockwerke tief.

James und ich stehen auf einem erhöhten Laufsteg aus Metall über dem höchsten Feld. Wir sind immer noch etwas von Wens Wutausbruch irritiert, aber gleichzeitig leicht betrunken und angeheitert und vom Mars verzaubert.

Harrison rennt über den Laufsteg zu uns. Er ist nicht für Feinsinnigkeit bekannt. Harrison ist ein Robotikingenieur aus dem landumschlossenen Arizona, aber er flucht wie ein Seemann, der sich mit einem Hammer auf den Daumen geschlagen hat. Ein weitverbreiteter Irrglaube über das Leben auf dem Mars ist, dass hier jeder ein Wissenschaftler ist, aber es werden auch Techniker, Ärzte und Ingenieure benötigt, um die Kolonie am Laufen zu halten.

»Connor hat überall nach euch Arschlöchern gesucht. Ihr müsst mitkommen. Sofort!«

»Immer mit der Ruhe, Cowboy«, erwidert James in schleppendem Tonfall. »Was zum Geier ist los?« James stammt aus Kanada, aber er zieht Harrison gern mit einem nachgeahmten Texas-Akzent auf, obwohl Harrison aus Arizona kommt. Für James ist der amerikanische Südwesten nur ein einziges großes Durcheinander. Vielleicht ist es seine Blasiertheit, mit der er Harrison so leicht auf die Palme bringen kann. Unwillkürlich muss ich lachen.

Ich verschleife meine Worte. »Ja, Cowboy. Mach mal langsam.«

»Connor will, dass ihr ins Modul zurückkehrt«, sagt Harrison nur, ohne den Köder zu schlucken. Er packt James am Handgelenk und zieht ihn mit. James greift nach meiner Hand, und ich laufe hinter den beiden Männern her, während ich über die Verrücktheit lache, auf dem Mars Hektik zu verbreiten. Durch den Reiswein bin ich benommen und ungeschickt wie ein Kind, das von einem sich drehenden Karussell steigt. In der Marsschwerkraft zu rennen fühlt sich völlig widersinnig an. Ich beuge mich in einem Winkel vor, mit dem ich auf der Erde sofort auf die Nase gefallen wäre, aber auf dem Mars wird daraus eine Art Jogginglauf.

Ich sehe Michelle, die an der Luke zum US-Modul steht, bereit, die schwere Metalltür hinter uns zu schließen. Wir sind gleichaltrig, aber ihr dunkle Haut ist makellos, und normalerweise sieht sie viel jünger aus als ich. Nun jedoch wirkt sie erschöpft. Sie ist barfuß und trägt einen Pyjama, ohne BH unter dem Oberteil, das Haar zerzaust. Warum ist sie überhaupt wach?

»Was ist denn plötzlich los?«, frage ich.

»Es gab einen Atomangriff auf Chicago«, sagt Michelle.

 

2

Chicago

Es gab einen Atomangriff auf Chicago. Nach diesen sechs Worten höre ich gar nichts mehr.

Michelle redet schnell, rasselt die Details herunter, aber in meinem Kopf herrscht nur Stumpfsinn. Ich versuche, meine alkoholisierte Lethargie abzuschütteln, aber ich kann nicht mehr geradeaus denken. Der Moment scheint zu verlangen, dass ich nahtlos von einer Geisteshaltung in eine andere umschalte, aber es gelingt mir nicht. Ich bin wie betäubt, und diese sechs Worte hallen in meinem Kopf hin und her.

Es. Jemand muss dafür verantwortlich sein. Wer zum Teufel würde so etwas tun? Und warum?

Gab. Und wann ist es passiert? Jede Nachricht, die wir erhalten, ist mindestens eine halbe Stunde alt, nachdem sie die lange Strecke bis zu uns zurückgelegt hat. Ich habe keine Ahnung, wie spät es in Chicago ist, da die marsianische Zeitverschiebung bedeutet, dass wir ständig mit den verschiedenen Zeitzonen auf der Erde aus dem Takt geraten.

Einen Atomangriff. Das muss ein Irrtum sein. Mein Geist kann nicht erfassen, wie so etwas geschehen kann. Atomwaffen sind etwas aus einem Albtraum.

Auf Chicago. Vier Millionen Menschen leben in Chicago, einschließlich meiner Eltern, die in der Nähe von Joliet wohnen. Viele meiner Freunde haben Apartments in der Innenstadt, nur wenige Hundert Meter vom Michigansee entfernt. Das muss ein Irrtum sein. Bitte, das muss ein Irrtum sein!

Mein Brustkorb hebt sich, als sich tief drinnen ein Knoten bildet. Ein Messer scheint in mein Herz einzudringen und dreht sich, während es weiter hineingetrieben wird.

Atomwaffen sind die Vorboten des gefürchteten Weltuntergangs, aber sie sind auch Relikte des längst vergessenen Kalten Krieges. Vielleicht bin ich naiv, aber in meiner Vorstellung sind nukleare Sprengköpfe heutzutage kaum mehr als symbolische Demonstrationen von Stärke. Sie lassen sich nur zum Säbelrasseln benutzen, nicht zum tatsächlichen Kampfeinsatz und auf gar keinen Fall gegen zivile Ziele. Nicht gegen Chicago.

Ich hyperventiliere, was in der niedrigen Marsschwerkraft leicht passieren kann. Panik überwältigt mich. Ich muss mich beruhigen, aber meine Gedanken rasen. Ich konzentriere mich auf meine Atmung, verlangsame den Rhythmus. Ich versuche, tief durchzuatmen. Ich beobachte, wie sich meine Brust hebt und senkt, und blende alles andere aus, bis auf das Geräusch, wie sich meine Lungen mit Luft füllen und anschließend der Atem durch meine Nase ausströmt.

Atomwaffen. Sie wirken lokal begrenzt, rede ich mir ein, weil ich versuche, mit dem Verstand zu erfassen, was geschehen ist. Emotional ist es viel zu einfach, sich nichts außer völliger Verwüstung vorzustellen, aber rational weiß ich, dass Atomwaffen immer weniger Schaden anrichten, je weiter man sich vom Explosionsort entfernt.

Wenn dieser im Zentrum von Chicago lag – selbst wenn die Bombe in der Luft detoniert ist –, könnten die Bewohner der äußeren Vorstädte überlebt haben. Wie auch immer, mein ehemaliges Wohnviertel wäre verglüht. Sophie, James, Hamid, Jules, Jacinta, die Uni-Crew – sie hätten nichts mehr gespürt, sage ich mir. Gar nichts. Für sie wäre das Leben innerhalb einer Nanosekunde ausgelöscht worden, viel schneller als alles, was der menschliche Geist als Furcht oder Schmerz verarbeiten kann. Ihnen wäre keine Zeit geblieben, den grellen Lichtblitz überhaupt wahrzunehmen. Der Tod wäre so schnell gekommen, dass es ihnen nicht bewusst geworden wäre. Das Leben hätte einfach aufgehört, wie eine durchbrennende Glühbirne, die einen Raum in Finsternis taucht, nur dass meine Freunde nichts von der Dunkelheit bemerkt hätten. Für den Bruchteil einer Sekunde wären in Chicago Temperaturen freigesetzt worden, wie sie im Herzen eines Riesensterns herrschen, als auf der Erde die Hölle ausbrach.

Mir ist schwindlig vom Schock.

Tränen laufen über meine Wangen.

Ich brauche etwas, woran ich mich festhalten kann, während die Zeit weiterläuft. Meine Familie. Da sie weiter draußen wohnen, könnte mit ihnen alles in Ordnung sein. Mit ihnen muss alles in Ordnung sein.

Welchen Nutzen hatte es? Atomwaffen sind trügerisch mächtig. Ein einziger thermonuklearer Sprengkopf von 1,5 Megatonnen – kaum von der Größe eines Motorrads – enthält mehr Schlagkraft als alle Bomben der Alliierten, die während des gesamten Zweiten Weltkriegs auf Deutschland fielen.

Als Jugendliche war ich eine Greenpeace-Aktivistin, die jedes Mal, wenn eine Wirtschaftsdelegation aus Russland oder China in die Stadt kam, auf den Straßen in der City demonstrierte. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit setzten wir uns für Abrüstung ein. Das kommt mir hier auf dem Mars vor, als wäre es ein Lebensalter her, aber es bedeutet, dass mir die Vernichtungskraft dieser Waffen nur allzu gut bewusst ist. Wurde dieser taktische Sprengkopf von einem Marschflugkörper transportiert? Etwas im Kilotonnenbereich? Oder war es eine ballistische Interkontinentalrakete, die eine von mehreren Sprengköpfen absetzte, die sich im Megatonnenbereich bewegen? Es konnte bestimmt keine Zar-Bombe gewesen sein, die Klasse, deren Sprengkraft mehrere zehn Megatonnen erreicht, da sie nur von einem Flugzeug abgeworfen werden kann. Ein solcher Angriff sollte unmöglich sein, hoffe ich.

Ich vermute, dass es die Russen waren. Wer käme sonst infrage? Die Chinesen haben ein Atomwaffenarsenal, aber es rangiert weit hinter den amerikanischen und russischen Vorräten. Trotzdem war Wen wütend, von heftigen Gefühlen erschüttert.

Meine Eltern leben etwa sechzig Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Ich versuche verzweifelt, mich davon zu überzeugen, dass ihnen nichts passiert ist. Ich will nicht über Sprengkraft und Druckwellen, über Windrichtungen und Fallout nachdenken.

»Okay. Hört zu. Sucht euch irgendeinen Sitzplatz!«, ruft Connor. Der Afroamerikaner, der wie ein Linebacker gebaut ist, musste während des Auswahlprozesses feststellen, dass sein größtes Manko nicht seine Testergebnisse oder sein Intellekt waren – wie bei den meisten von uns –, sondern seine körperlichen Ausmaße. Ich erinnere mich an einen Reporter, der mich fragte, warum wir alle während des Fluges in der Touristenklasse und nicht in der Businessklasse reisten. Es ging nicht nur darum, die Kosten niedrig zu halten. Die NASA wollte nicht, dass wir es zu bequem hatten, in Anbetracht der Tatsache, dass unser Cockpit die Touristenklasse von easyJet wie die erste Klasse aussehen ließ. Die Flugsitze, die Raumanzüge und selbst die Schlafkapseln hier auf dem Mars sind alle ungefähr identisch. Für Connor war es immer zu eng gewesen.

Connor steigt auf den Tisch, der genauso wie der aussieht, über den ich mich vor nur wenigen Minuten im chinesischen Modul gebeugt habe, nur dass es hier keine Spielkarten oder Pokerchips gibt … und keinen Ingwerduft in der Luft, keine Dampfwolken, die von einem Wok aufsteigen. Unser Modul ist steril. Leblos.

Connor reibt sich ungefähr genauso über die glatt rasierte Kopfhaut, wie ich es tue, wenn ich mich nachdenklich am Kopf kratze.

James lässt sich auf den Boden fallen und lehnt sich gegen einen Lagerschrank. Ich geselle mich zu ihm, lasse mich hinuntergleiten.

Harrison sitzt über uns. Seine Beine hängen neben meiner Schulter herab. »So eine Scheiße«, murmelt er. »So eine Scheiße.« Auf eine perverse Art ist es nett zu wissen, dass ich nicht die Einzige bin, die unter Schock steht.

»Hört zu!«, brüllt Connor und übertönt den Aufruhr. »Ich werde euch sagen, was ich weiß, aber dazu brauche ich etwas Ruhe!«

Es wird still. Die meisten Besatzungsmitglieder haben trübe Augen und tragen ihre Schlafanzüge. Sie wirken verängstigt. Sie kauern sich in kleinen Gruppen zusammen, die sich eher auf Arbeitsbeziehungen als Freundschaften gründen. In einer Krise rückt unsere Professionalität als Kolonisten und Wissenschaftler an die erste Stelle, was keine Überraschung ist. Wir wurden auf Belastbarkeit trainiert.

»Es gab einen nuklearen Schlagabtausch.«

»Schlagabtausch?«, platzt es aus Harrison heraus. »So ein Blödsinn! Wir reden hier nicht von einem Boxkampf. Das ist ein gottverdammter Atomkrieg!« Und damit bricht unsere kollektive Professionalität zusammen. In einer Lärmexplosion reden plötzlich alle durcheinander.

Connor hebt die Hände und gibt Harrison mit einer Geste zu verstehen, dass er sich zurückhalten soll. »Wir wissen nicht allzu viel. Wir wissen nur, dass Großstädte überall auf der Welt getroffen wurden, einschließlich mehrerer in unserem Land. Bitte! Hört zu! Lasst mich ausreden!«

»Wer hat das getan?«, fragt James mit einem Kopf, der viel klarer ist als meiner.

»Das wissen wir nicht. Wir wissen nicht, wer zuerst geschossen hat, aber sobald die Raketen starteten, scheint es kaum noch Zurückhaltung gegeben zu haben.«

Connor lässt den Kopf hängen. Seine Schultern sind eingesackt, was ein beunruhigendes Zeichen ist. Er ist ein Mann, dessen Körperhaltung ansonsten Würde ausstrahlt. Wenn Connor einen Raum betritt, wird jeder auf ihn aufmerksam. Ich bezweifle, dass Connor jemals bei irgendetwas verloren hat, ob im Sport oder auf anderen Gebieten. Er verströmt Selbstbewusstsein. Nun macht er einen geschlagenen Eindruck.

Connor war Sergeant bei den Marines und führte Bodenangriffstruppen im Nahen Osten an, bevor er zur NASA ging. Das dürfte der unwahrscheinlichste und schwierigste Weg gewesen sein, auf dem jemals irgendwer zum Astronauten wurde. Im Gefechtsunterstand hat er sich in Astrophysik weitergebildet. Jeden freien Moment hat er für sein Onlinestudium genutzt. Er überraschte jeden, als er seine Promotion mit Auszeichnung machte, während er Entwicklungsdienst im Sudan leistete. Er reichte eine Facharbeit ein, die die Aufmerksamkeit des NASA-Administrators Harold Darling weckte: »Frühe europäische Erkundungsmissionen und die Parallelen zur Kolonisierung des Sonnensystems«.

Connor ist zäh wie marsianisches Felsgestein, doch nun hat sogar er Tränen in den Augen. »Wir haben New York, Chicago und Washington, D.C. verloren.«

»Scheiße«, murmelt Harrison, und ausnahmsweise stimme ich seiner lästerlichen Einschätzung zu. Ich sehe, dass seine Fingerknöchel weiß werden. Er packt die Kante der Sitzbank, als wollte er sie auseinanderreißen.

»Was ist mit der Westküste?«, fragt Michelle. Ich hatte sie vorher nicht bemerkt, aber sie sitzt oben gleich neben Harrison. In ihrer Stimme ist ein Zittern, das ihre Befürchtungen verrät. »Haben wir irgendetwas über L.A. gehört? San Diego? Seattle? Die Bay Area?«

»Es gibt vieles, was wir nicht wissen«, sagt Connor. »Die Nachrichtensender, die noch aktiv sind, helfen uns auch nicht weiter. Es gibt viele Gerüchte – zu viele Spekulationen. Im Mittleren Westen kam es zu einem großflächigen Stromausfall. Dort herrscht Winter. Schwere Schneefälle machen alles umso schlimmer. Die Kommunikation mit der Westküste ist abgebrochen.«

»Abgebrochen?«, fragt Michelle in überraschtem Tonfall. »Wie kann sie abgebrochen sein? Irgendwer muss doch irgendwas wissen. Man kann doch nicht eine komplette Region eines Landes von allem abschneiden, oder? Irgendjemand muss etwas wissen.«

»Tut mir leid«, erwidert Connor.

Ich bin fassungslos. Ist das irgendein Witz? So etwas kann nicht real sein. In mir sträubt sich alles. Ich schüttle den Kopf. Träume ich? Ist dies ein Albtraum? Ist die Datumsanzeige auf den ersten April gesprungen, und zieht jemand nur einen bösen, schrecklichen Streich durch?

Harrison stellt eine Frage, die im Nachhinein offensichtlich und von kritischer Bedeutung scheint, aber ich hätte in diesem Moment niemals daran gedacht. »Und außerhalb der USA?«

Connor spricht mit tödlicher Langsamkeit, als er die Liste von seinem Tablet abliest: »London, Paris, Berlin, Rom, Moskau, Sankt Petersburg, Tel Aviv, Karatschi, Neu-Delhi, Beijing, Schanghai, Tokio.«

Niemand sagt etwas. Das einzige Geräusch kommt von der Lüftung, die die Atmosphäre im Modul zirkulieren lässt. Ich bin mir nicht sicher, wie es passiert, aber mein Kopf sinkt in meine Hände. Meine Ellbogen liegen auf meinen Knien, während meine Finger an meinem Haar zerren, die feinen Strähnen mit den Wurzeln auszureißen drohen. Ich erinnere mich nicht, die Arme bewegt zu haben. Die Realität ist ein Dunstschleier. Ich schluchze leise, von den Informationen überwältigt.

»Das sind fünfzehn Städte rund um den Globus«, brummt James. »Und alle auf der Nordhalbkugel. Welche Absicht steckt dahinter? Ich erkenne kein Muster.«

»Das kann nicht sein«, ruft jemand von der anderen Seite des Raums.

»Haben sie aufgehört?«, fragt Harrison. Er steht auf und läuft im Modul hin und her. Er redet fieberhaft, während er weiter auf und ab geht. »Ich meine – bewerfen sie sich immer noch gegenseitig mit Atombomben? Es geht doch nicht etwa weiter, oder? Sicher hat nun die Vernunft die Oberhand gewonnen, und sie drücken nicht weiter auf rote Knöpfe, um gegenseitig die Hölle aufeinander loszulassen.«

Connor macht eine Geste, die besagt, dass er es nicht weiß.

»Das ist Wahnsinn«, sagt Michelle. Sie gleitet vom Tresen und sinkt neben mir zu Boden. »Das ist falsch. Das kann nicht stimmen.«

Michelle und ich wurden gemeinsam für die Kolonie ausgewählt. Wir beide stießen spät zum US-Team hinzu und hielten während der Jahre der Ausbildung zusammen, während unsere Klasse allmählich um mehr als 90 Prozent zusammenschrumpfte. Nur vier von uns schafften es in die Mission, und es waren nur zwei Frauen.

Ich berühre sie am Bein. Unsere Blicke treffen sich. Tränen strömen ihr über die Wangen.

»Das kann nicht real sein«, sagt Michelle leise zu mir, und wir umarmen uns. Berührungen sind die einzige Sinneswahrnehmung, der ich vertraue. Der Körperkontakt mit jemandem stellt eine Verbindung zur Wirklichkeit her, und ich vermute, dass sie es genauso sieht. Sie drückt das Gesicht an meine Schulter. Ich spüre, dass ihr zarter Körper leicht zittert.

»Es tut mir leid«, sagt Connor, als wäre es irgendwie seine Schuld. »Dies wird eine lange Nacht. Ein paar Nachrichtensendungen kommen durch, aber sie sind lückenhaft und unbeständig. Wir befinden uns in der Retrogradation. Von nun an wird sich unsere Kommunikationsverzögerung verschlimmern. Ihr kennt das Prozedere – auf der Bandbreite unserer Sendungen haben Überwachungsinformationen Priorität über Forschungsdaten, dann Daten über Text, Text über Bilder, und Bilder über Video, also seid sparsam mit euren Mitteilungen, damit ihr keine Blockade für alle anderen auslöst. Sucht lieber auf dem Cache-Server nach Nachrichten, statt eure eigenen Anfragen zu starten und auf eine Rückmeldung zu warten, die vielleicht nie kommt. Der primäre Server für Mail-Weiterleitungen ist inaktiv. Ich … ich werde euch über alles informieren, was ich von Houston höre.«

Er steigt vom Tisch auf einen Stuhl und dann langsam auf den Boden. »Versucht ein wenig zu schlafen«, sagt er.

Schlafen? Ich hätte fast gelacht. Nie wieder will ich schlafen. Ich weiß, dass mein Körper mich irgendwann überwältigen wird, aber Schlaf kommt mir jetzt so abartig vor. Millionen Menschen sind gestorben – wurden ermordet. Meine Eltern, meine Freunde – ich will gar nicht darüber nachdenken, was mit ihnen passiert ist. Ich hoffe nur, dass sie irgendwie verschont wurden.

In meiner Kehle bildet sich ein Kloß. Brüder, Onkel, Cousins und Cousinen, Neffen und Nichten – der größte Teil meiner direkten Verwandten und die Familie meines Vaters leben in und um Chicago herum. Meine Mum ist ein Buckeye aus Ohio. Sie hatte sich mit ihrer Sippe verkracht, sodass ich ihre Seite unserer Verwandtschaft nie richtig kennengelernt habe. Meine Sommer habe ich im Haus meines Onkels in der Nähe von South Bend in Indiana verbracht, nicht mehr als eine Stunde von Chicago entfernt, um in den zahllosen kleinen Seen in dieser Region zu schwimmen. Ich habe gute Freunde in Aurora, knapp außerhalb von Chicago.

Wie weit breiten sich die Schäden aus?

Wie groß war die Bombe?

Wann ist sie detoniert?

Ich habe keine Ahnung, welchen Wochentag wir haben. Vermutlich ist es Donnerstag. Ich hoffe, dass Sonntag ist, weil ich möchte, dass die Anzahl der Toten so gering wie möglich ist, aber ich weiß, dass sie allein für Chicago in die Hunderttausende gehen muss. Mit der Zeit wird sie in meiner Heimatstadt auf mehrere Millionen ansteigen.

Wer konnte entkommen?

Ich muss die Ereignisse mit dem Verstand analysieren, den Schmerz aufgliedern – nur so kann ich die Ungewissheit ertragen.

Mein sehnlichster Wunsch ist, dass meine Eltern überlebt haben, aber in welcher Situation hätten sie das? Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, waren es 25 Grad unter null in Chicago, und ein Schneesturm wehte über den See heran. Welche Auswirkung hätte das auf eine nukleare Explosion? Wahrscheinlich gar keine.

Ich versuche mich zu erinnern, was ich über Atombomben weiß. Diese Waffen hinterlassen abgestufte Todeszonen innerhalb eines Gebiets von hoher Dichte. Je nach Detonationswert einer bestimmten Bombe gibt es eine Anfangsexplosion und dann einen Feuerball, der mehrere Häuserblocks völlig atomisiert. Außerhalb dieses Bereichs verwüstet und versengt die Druckwelle alles bis zu einer Entfernung von sechs bis acht Kilometern, vielleicht sogar weiter, doch darüber hinaus sinkt die Gefahr mit zunehmender Entfernung rapide ab. Bei dreißig Kilometern fliegen die Trümmer wie in einem heftigen Sturm herum.

Ich verdränge die Hollywoodbilder eines allumfassenden Weltuntergangs aus meinem Kopf, da ich weiß, dass die Vernichtungskraft einer nuklearen Explosion hauptsächlich auf die Druckwelle zurückzuführen ist, die in der Anfangsphase ungefähr einem Tornado der Klasse F5 entspricht, aber sie kann nicht beliebige Werte annehmen. Sie muss verebben. Sie kann nicht so ungezügelt und destruktiv sein, wie ich es mir vorstelle.

Ich versuche mich davon zu überzeugen, dass man ein solches Desaster, mag es auch noch so schlimm sein, in einiger Entfernung überleben kann. Ich zittere und bemühe mich verzweifelt, meine anfängliche Hysterie abzuschütteln. Solche Dinge vermitteln unweigerlich ein Gefühl des apokalyptischen Weltuntergangs, aber ich will mir den schrecklichen Pessimismus ausreden, der meine Gedanken überflutet.

Was sonst noch? Der Atompilz trägt feinen radioaktiven Staub in die hohen Atmosphärenschichten und verteilt ihn über Hunderte von Kilometern in der Landschaft. Aber wo er genau landet, hängt stark von der Windrichtung ab. Der radioaktive Fallout sieht auf einer Landkarte wie ein länglicher Schmierfleck aus – er verbreitet sich nicht in alle Richtungen. Wahrscheinlich gibt es keine Erhöhung der Strahlung am Wohnort meiner Familie, da die vorherrschenden Winde zu dieser Jahreszeit aus dem Südosten kommen.

Doch bei all diesen Massenvernichtungswaffen stellen sich die schlimmsten Folgen mit der Zeit ein. Die Zerstörungen durch Atombomben sind vielfältig. Von einem Augenblick auf den anderen töten und verstümmeln sie Hunderttausende von Menschen, vielleicht Millionen, aber die Probleme, die sie den vielen Millionen Überlebenden bereiten, halten mehrere Generationen lang an. Und es geht nicht nur um die offensichtlichen Folgen wie drastisch erhöhte Krebsraten, sondern auch um den wirtschaftlichen Zusammenbruch und die Auswirkungen auf die Lebensmittelproduktion, in Kombination mit dem Zusammenbruch der Infrastruktur. All das wird große Teile des Landes über Jahrzehnte lähmen. Dann wären da noch die psychologischen Folgen, wenn eine ganze Nation unter Schock steht – die Massenhysterie, die Angst und das Gefühl der Verwundbarkeit. Die Welt wird nie wieder dieselbe sein.

Ich fühle mich seltsam unbeteiligt, als ich versuche, über die Auswirkungen dessen nachzudenken, was soeben geschehen ist. Sich vom Augenblick zu lösen und objektiv die Folgen zu analysieren ist ein guter Mechanismus, um den Schock zu bewältigen. Es hilft, wenn man sich gesichtslose Menschenmassen vorstellt. Wenn ich an meinen Onkel Herm oder meinen Bruder Joe denke, habe ich die schlimmsten Bilder im Kopf. Und für meine ehemaligen Nachbarn finde ich keinen Trost. Für sie muss das Leben mit einem grellen Lichtblitz erloschen sein.

Dad ist ein Überlebender, rede ich mir ein, weil ich mich an die Hoffnung klammern will. Er ist dabei, die Nachbarn zusammenzutrommeln, um anderen in der Seniorensiedlung zu helfen. Ich sehe ihn, wie er dem Hausmeister assistiert, einen Heizkessel repariert oder einen Motor auseinandernimmt, um ihn wieder zum Laufen zu bringen. Er muss am Leben sein. Er muss es einfach.

Die NASA hat uns auf jede mögliche Notfallsituation auf dem Mars vorbereitet – aber wir wurden nie auf das vorbereitet, was auf der Erde passieren könnte.

»So ein Blödsinn!«, sagt Harrison, tritt gegen einen Schrank auf der anderen Seite des Moduls und reißt mich aus meinen Gedanken. Connor geht hinüber, um ihn zu beruhigen, aber ich glaube, jeder von uns muss auf seine eigene Weise damit klarkommen.

Die meisten anderen Besatzungsmitglieder sind wie betäubt. Sie wandern umher wie Zombies. Michelle bricht zusammen. Sie weint immer noch, schluchzt in meine Schulter. Sie hat die Arme um mich geschlungen. Ich bin mir nicht sicher, warum, aber es gibt mir Kraft, sie zu trösten. Vielleicht ist es eine Art Rollenspiel, aber ich komme besser mit meinem Kummer zurecht, wenn ich sie halte, obwohl sich nichts verändert hat. Ungewissheit, Zweifel, Schmerz, Furcht, Besorgnis – all diese Emotionen nagen an meinem Herzen, aber sie überwältigen mich nicht, weil meine größte Sorge meiner lieben Freundin gilt. Vermutlich brauche ich Michelle genauso sehr wie sie mich.

Eine Hand legt sich behutsam auf meine Schulter.

James geht neben uns in die Hocke. »He«, sagt er leise.

Michelle schaut nicht auf.

James und ich schauen uns an. Wir beide haben Tränen in den Augen. Er muss erkennen, dass es keine Worte gibt, die den Kummer lindern könnten, den wir alle empfinden. Er sackt vor uns im Schneidersitz zusammen. Er senkt den Kopf, stützt die Arme auf den Knien ab. Es muss unbequem sein, so auf dem Boden zu hocken, aber Bequemlichkeit spielt im Moment keine Rolle.

Jemand dimmt die Beleuchtung.

Mehrere Leute halten ihre Tablets in den Händen. Sie sehen sich Videoclips von der Erde an. Eine Echtzeitkommunikation ist nicht möglich.

Gespräche mit geliebten Menschen auf der Erde sind selbst unter günstigsten Umständen ausgeschlossen. Auch ohne all die Emotionen, die uns erschüttern, ist es nicht einfach, in eine Kamera zu sprechen. Diese winzige dunkle Linse ist zu unpersönlich. Ich stelle immer wieder fest, dass ich nach etwa dreißig Sekunden nicht mehr weiß, was ich noch sagen soll, was idiotisch ist, weil hier so viel passiert, aber es liegt am fehlenden Feedback durch einen anderen lebenden Menschen, was es so schwierig macht. In einem Gespräch von Angesicht zu Angesicht lässt sich so viel mehr sagen, als Worte allein übermitteln können. Aber wir haben nicht mehr als einen schwarzen Punkt in der glatten Oberfläche unserer farbenfrohen Tablets.

Ich sehe, wie Marie vom Wartungsteam ein Video an die Erde schickt. Sie gehörte zur ersten Gruppe, die man für die Mission auswählte, und wurde fast ein Jahr vor meiner Klasse zum Besatzungsmitglied ernannt. Bei so viel Netzwerkverkehr könnte es Tage dauern, bis ihre Nachricht komplett übertragen und auf der Erde wieder zusammengefügt wird. Es wäre besser, wenn sie eine Textnachricht senden würde. Außerdem bringt sie unter Tränen ohnehin kaum ein Wort heraus. Ich hoffe, es gibt dort jemanden, der ihre Nachricht empfängt und beantwortet. Ich habe nicht die emotionale Kraft, es zu versuchen, denn ich befürchte, dass niemand antworten wird. Wenn niemand antwortet, werde ich zerbrechen.

Ich lehne mich gegen den Lagerschrank, während sich Michelle immer noch an mich klammert. Sie ist eins fünfundsechzig groß, während ich fast einen Meter achtzig erreiche, also fühlt es sich fast so an, als würde ich ein Kind trösten.

Jemand hat eine Nachrichtensendung auf den Wandbildschirm gelegt. James dreht sich um, damit er zuschauen kann. Er lehnt sich neben uns gegen den Schrank und wirkt, als wäre er in Trance. Es ist schwer zu glauben, dass wir noch vor wenigen Augenblicken gelacht und gejohlt, Karten gespielt und Reiswein getrunken haben. Michelle kann nicht hinschauen. Ich spüre, wie sie zusammenzuckt, als die Tonaufzeichnung startet. Meine Hand liegt sanft auf ihrem Hinterkopf und streichelt ihr weiches Haar. Sie weiß, dass wir es uns ansehen, aber sie hat entschieden, es nicht zu tun. Ich bin mir sicher, dass sie aufmerksam zuhört.

Ein Reporter steht auf einem Balkon im dritten oder vierten Stock und blickt auf eine schneebedeckte Stadt hinaus. Genau hinter ihm leuchtet der Himmel rot, fast wie ein Sonnenuntergang, nur dass die Sonne auf der Seite steht und lange Schatten durch die scheinbar toten Winterbäume wirft. Die Wolken sind nicht mehr als ein grauer Brei.

»Wir sind achtzig Kilometer von dem entfernt, was vom Kapitol übrig geblieben ist«, sagt der Reporter. »Hinter mir können Sie die Sirenen hören. Irgendwo über uns ist ein Hubschrauber, und wie es klingt, ein militärischer Jet, der uns vor irgendwem oder irgendwas beschützt, ich weiß es nicht. Hier ist niemand, den man verfolgen könnte. Was kann ein Kampfflugzeug schon gegen eine ballistische Rakete ausrichten? Nichts. Aber alle tun irgendwas. Es ist ein einziges Chaos. Niemand weiß, was los ist. Das ganze Land ist wie gelähmt. Es gab keine offizielle Nachricht über das Schicksal des Präsidenten, des Vizepräsidenten oder des Kongresses.

Wir wissen nur, dass dies vor dem Angriff ein ganz normaler Tag in Washington, D.C. war. Der Kongress hatte eine Sitzung. Präsident Carver führte im Weißen Haus bilaterale Gespräche mit dem indonesischen Präsidenten Yionoto.

Falls es eine Vorwarnung gab, erreichte sie nie die Medien. Das Erste, was wir sahen, war ein Blitz, der durch die dunklen Wolken drang, die über dem Capitol hingen. Für einen Moment kam die Sonne auf die Erde herab. Eine pilzförmige Wolke drängte den Sturm zurück, aber auch sie hat sich inzwischen aufgelöst.

Es schneit. Der Schnee schmilzt, also ist es keine Asche, aber niemand weiß, ob er radioaktiv ist oder nicht. Die gesamte Nation wurde von Angst erfasst.

Die Straßen sind voll mit Menschen, die die Stadt verlassen, aber der Schaden ist bereits angerichtet. Es gibt keinen Grund zu fliehen. Die Polizei rät den Menschen dringend an, in ihren Häusern zu bleiben und nur nach draußen zu gehen, wenn es unbedingt notwendig ist. Wenn die Ausfallstraßen verstopft sind, während ein Schneesturm über das Land fegt, wird es alles nur schlimmer machen.

Die Rettungsdienste haben die Grenze ihrer Belastbarkeit erreicht. Wenn Sie Hilfe benötigen und beim Notruf nicht durchkommen, sollten Sie sich auf den Weg zur nächsten Polizeistation oder zum nächsten Krankenhaus machen, aber bereiten Sie sich auf eine lange Wartezeit vor.

Damit gebe ich zurück zu Olivia.«

Das Bild wechselt zu einer Nachrichtensprecherin an einem Schreibtisch. Sie sitzt nicht in einem Studio, sondern am Ende eines Großraumbüros einer Nachrichtenredaktion. Hinter ihr starren Reporter angestrengt auf Computerbildschirme. Sie tippen. Sie reden. Sie trinken Kaffee. Im Ticker am unteren Bildrand heißt es: DRITTER WELTKRIEG … VERMUTLICH 1,8 MILLIONEN TOTE … MINDESTENS 5 MILLIONEN VERLETZTE … AMERIKA IM KRIEGSZUSTAND …

»Krieg gegen wen?«, fragt James.

»Die Feindseligkeiten sind auf der koreanischen Halbinsel ausgebrochen«, sagt die Sprecherin, deren Miene nichts vom Entsetzen verrät, das sie zweifellos empfindet. »Wir haben Meldungen erhalten, dass US-amerikanische Truppen mobilisiert wurden, um die nordkoreanische Armee kurz vor Seoul zu stoppen, aber es wird erwartet, dass die Stadt noch vor dem Wochenende fallen wird.

Japanische Verteidigungskräfte haben eine chinesische Seeblockade der koreanischen Halbinsel gemeldet. Laut unbestätigten Berichten haben die Chinesen den internationalen Flughafen in Inchon eingenommen und Seoul damit praktisch vom Westen abgeschnitten.«

»Sie sind unzurechnungsfähig«, flüstert James. »Wahnsinnig. Verrückt.« Aber ich will, dass er still ist. Ich will kein einziges Wort verpassen.

»Im Nahen Osten wird über einen massiven Gegenangriff durch die Israelis spekuliert, die sowohl konventionelle als auch nukleare Waffen gegen Syrien, den Irak und Iran einsetzen. Jegliche Beteiligung von US-Streitkräften auf dem Kriegsschauplatz ist zu diesem Zeitpunkt reine Mutmaßung, aber man geht davon aus, dass Centcom die Aktion unterstützen wird. Die wenigen militärischen Sprecher, die wir erreichen konnten, wollen sich nicht dazu äußern. Wir haben hier den Eindruck, dass sie es einfach nicht wissen.«

Die Sprecherin legt einen Finger ans Ohr, um im Lärm des Redaktionsbüros einen Kommentar über Ohrhörer zu verfolgen.

»Wir versuchen, Sie zu unserem Korrespondenten in der Nähe von Yonkers in New York durchzustellen. Einen Moment … Okay, wir schalten jetzt um – live in den Norden dessen, was einst New York City war.«

Das Bild ändert sich nicht. Die Nachrichtensprecherin ist eine hübsche Brünette in den Zwanzigern. Sie ist zierlich gebaut und hat makellose Haut. Sie greift unter den Tisch und holt eine Plastikwasserflasche hervor, schraubt den Deckel ab und nimmt einen Schluck. Sie spricht mit jemandem außerhalb des Kamerabildes, aber ihr Knopflochmikrofon ist abgeschaltet. Vage kann ich ihre Stimme inmitten der Hintergrundgeräusche ausmachen, die vom Kameramikro aufgenommen werden, aber es ist nicht zu verstehen, was sie sagt.

Ein junger Mann kommt zu ihr und reicht ihr ein paar Blatt Papier. Sie überfliegt sie und nimmt einen weiteren Schluck Wasser. Wie es scheint, ahnen weder sie noch ihr Team, dass sie weiterhin auf Sendung sind. Die Umschaltung hat nicht funktioniert, aber sie glauben, dass jetzt aus New York gesendet wird.

Plötzlich wackelt das Bild und wird dann schwarz. Die gedämpfte Tonspur läuft weiter. Es klingt, als würde man sich in einem Schrank verstecken, während im Wohnzimmer eine Party im Gange ist. Ein kleines Testbild erscheint in einer Ecke des Bildschirms, neben dem Logo des Senders. Im Modul spricht niemand. Wir alle beobachten das Testbild und wollen, dass die Nachrichtensendung weitergeht, aber das geschieht nicht. Widerstrebend schaltet jemand den Wandbildschirm aus, und wir fühlen uns auf den Roten Planeten zurückgeworfen.

Der Zeitablauf ist verwischt.

Eben noch halte ich Michelles Kopf in meinem Schoß, während sie langsam einschläft, und streichle sanft ihr Haar, und im nächsten Moment wache ich vom Geruch synthetischen Kaffees auf.

Statt oben in meiner Schlafkapsel zu liegen, finde ich mich auf dem Boden des Gemeinschaftsraums gleich neben der Luftschleuse wieder. Jemand hat mir ein Kissen unter den Kopf geschoben und mich in eine Decke gehüllt. Auf der Erde wäre es äußerst unbequem, auf dem harten Boden zu schlafen. Meine Hüften würden gegen die unnachgiebigen Kacheln drücken, aber auf dem Mars bedeutet die geringe Schwerkraft, dass ich fast schwebe, den Boden nur ganz leicht berühre.

Harrison steigt vorsichtig über jemanden, der neben mir schläft. Ich brauche einen Moment, um zu erkennen, dass es Michelle ist. James schnarcht, genauso wie ein paar andere Leute.

Ein mattes Licht über der Kochnische offenbart dunkle Silhouetten, die sich durch das Modul bewegen. Ich setze mich auf, fahre mir mit der Hand durchs Haar. Die Natur ruft. Es gibt eine Toilette im Korridor, der zu den Laboren im hinteren Bereich des Moduls führt. Ich mache mich auf den Weg dorthin, steige über mehrere schlafende Kolonisten hinweg. Wie es aussieht, ist niemand zu Bett gegangen. Ein paar Leute sind wach. Connor und Harrison sitzen an einem Tisch und unterhalten sich flüsternd.

Lebensraum ist kostbar auf dem Mars, also sind unsere WCs wie die in einem Flugzeug. Der einzige Unterschied ist, dass sich der Toilettensitz hochklappen lässt, um Platz für eine Dusche zu schaffen, die kaum groß genug ist, um sich darin umzudrehen. Ich erleichtere mich und starre in den Spiegel. Ich sehe blutunterlaufene Augen und wirres Haar. Ich versuche mich frisch zu machen, aber dann kehren die Schrecken der Nacht zurück und lassen meine Hände zittern.

Als ich wieder in den Gemeinschaftsraum trete, setze ich mich zu Connor und Harrison.

»Kaffee?«, fragt Harrison und deutet auf einen leeren Becher, der mitten auf dem Tisch steht.

»Danke«, sage ich, worauf er mir aus einer Isolierkanne einschenkt.

Der Kaffee ist schwarz und ungesüßt, aber der bittere, verbrannte Geschmack erscheint mir irgendwie angemessen. Also trinke ich davon, ohne künstliche Sahne oder Saccharosetabletten hinzuzugeben.

»Wie spät ist es?«

»Etwa halb fünf«, antwortet Harrison. »Oben müsste jetzt die Dämmerung anbrechen.«

»Habt ihr noch irgendwas von der Erde gehört?«, frage ich und sehe Connor an, der ungewöhnlich still ist. Er sieht aus, als hätte er überhaupt nicht geschlafen. Er schüttelt den Kopf.

»Erinnerst du dich an dieses Video?«, fragt Harrison.

»Ja.«

Harrison schaltet sein Tablet ein und ruft ein dunkles Bild auf, das vertraut wirkt, obwohl es das nicht sein sollte. Ein Testbild flackert in der unteren rechten Ecke.

»Und?«, frage ich.

»Wart’s ab.«

Der Bildschirm flackert, dann ist ein Reporter zu sehen, der auf einem verschneiten Balkon steht. »Wir sind achtzig Kilometer von dem entfernt, was vom Kapitol übrig geblieben ist …«

Harrison schaltet das Video stumm, während es auf seinem Tablet weiterläuft.

»Ich verstehe nicht. Ich meine, das ist die gleiche Sendung.«

»Das ist alles, was wir empfangen«, sagt Connor und sieht mich mit müden Augen an. »Sie wird als Endlosschleife ausgestrahlt.«

Verwirrt schaue ich ihn an. Immer wieder das gleiche Video zum Mars zu senden ergibt keinen Sinn, weil es kostbare Bandbreite blockiert. Ein zweiminütiges persönliches Video von mir an meine Familie braucht ein paar Stunden oder manchmal mehrere Tage, bis es die Erde erreicht, je nachdem, wie es gesplittet wird und welche Priorität die anderen Daten haben. Das gleiche Video unablässig zu wiederholen ist einfach nur verrückt.

»Aber warum?«, frage ich.

»Vielleicht ist das alles, was sie senden können«, sagt Connor.

»Vielleicht ist das alles, was sie senden wollen«, gibt Harrison zu bedenken. Er war noch nie ein ausgesprochen optimistischer Kerl, und er neigt dazu, in Menschen und Situationen das Schlimmste zu erkennen. Aber er täuscht sich wieder einmal – zumindest bin ich davon überzeugt. Für Paranoia ist mir meine Zeit zu kostbar.

»Unsere Bodenstation hat sechs Allzweck-Komkanäle«, sagt Connor. »Dies ist der einzige, auf dem etwas empfangen wird. Alle anderen sind tot.«

»Der Datenlink ist aktiv, aber er wird mit Zeichensalat geflutet«, sagt Harrison. »Es sieht wie verschlüsselt aus, aber wahrscheinlich ist es nur Unsinn.«

Auf der Erde mag man die Vorzüge eines lichtschnellen Breitband-Internets rund um den Globus genießen, aber selbst wenn man die Latenz zwischen Erde und Mars ignoriert, ist unser Internetzugang mit einem Einwählvorgang in den Neunzigern zu vergleichen. Unsere Proxy-Server sind ständig damit beschäftigt, Webseiten zu stutzen, Videos herauszuschneiden oder sowohl die Bildfrequenz als auch die Bildqualität zu verringern. Fotos werden automatisch auf ein Minimum konvertiert, weswegen vieles wie etwas aus einem Comic aussieht. Es ist, als würde man Windows 95 benutzen. Die meisten Webseiten sind kaum mehr als Text mit ein paar Extras, aber wenigstens haben wir Zugang.

»Warum sollte man uns abschotten?«, frage ich und versuche, möglichst leise zu sprechen, da sich die Frau, die neben mir auf dem Boden liegt, bereits gerührt hat.

»Ich glaube nicht, dass es Absicht ist«, sagt Connor. »Nicht insofern, als man uns hier auf dem Mars nicht mehr erzählen will. Ich vermute, man will allen nicht mehr erzählen.«

»Aber das ergibt keinen Sinn«, sage ich und nippe an meinem Kaffee.

»In einem Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer«, sagt Harrison.

»Es ist Krieg. Amerika wurde angegriffen«, sagt Connor. »Meine Vermutung ist, dass man nichts verraten will. Dieses Video enthält gerade genug Informationen, um ein Gefühl für die Größenordnung des Konflikts zu bekommen. Hoffentlich ist es genug, um die Bevölkerung zu beruhigen – damit die Menschen glauben, dass man aktiv auf den Angriff reagiert –, aber nicht genug, um dem Feind irgendwelche Einblicke zu verschaffen.«

»Wer ist der Feind?«

Connor zuckt mit den Schultern.

»Sie haben China erwähnt«, sagt Harrison.

»Aber das war im Zusammenhang mit Korea«, sagt Connor. »Wir haben keine Ahnung, was das für Amerika bedeutet. Das alles ergibt überhaupt keinen Sinn. Wenn es eine Sache zwischen China und den USA ist, warum wurde dann Karatschi bombardiert? Warum Moskau? Paris? Nein, ich glaube nicht, dass an diesem Video irgendetwas willkürlich oder zufällig ist. Ich glaube, es wurde inszeniert.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Nicht der Angriff«, stellt Connor seine Bemerkung klar, »aber unsere Reaktion – dieses Video. Es ist genauso eine Botschaft an das amerikanische Volk wie an unsere Gegner.«

»Propaganda«, fügt Harrison hinzu. »Desinformation.«

Connor nickt. Diese Art von Paranoia hatte ich von Harrison erwartet, aber nicht von Connor. Ich bin überrascht, dass er sich seiner Meinung anschließt. Es behagt mir nicht, dass sie ohne konkrete Beweise voreilig so radikale Schlüsse ziehen. Ihre Reaktion auf das Video beunruhigt mich. Es mag noch so schockierend sein, von dieser Katastrophe zu hören, aber jetzt sind kühle Köpfe gefragt. Jetzt ist nicht die Zeit für Verschwörungstheorien.

Ein leises Klingeln ertönt. Eine Nachricht blinkt auf Connors Tablet. Er schaltet den Bildschirm ein, entsperrt ihn mit seinem Fingerabdruck. Obwohl der Bildschirm für mich auf dem Kopf steht, erkenne ich den Schriftzug »NASA«, bevor Connor das Gerät hebt und mir damit den Blick verwehrt. Seine Augen zucken hin und her, während er eine Nachricht liest. Das Format deutet auf ein automatisches Transkript als Ergänzung zu einem Video hin, falls die Übertragungsdichte reduziert ist. Ich weiß nicht, wie es Harrison geht, aber ich halte den Atem an. Ich rechne damit, dass Connor aufsteht, um den Inhalt an einem ungestörten Ort zu verarbeiten.

»Also«, sagt Connor, als er zu Ende gelesen hat, »das betrifft uns alle. Ihr werdet es früher oder später sowieso sehen, also kann ich es euch auch jetzt schon zeigen.«

Ein paar andere Wissenschaftler sind ebenfalls wach. Wir sammeln uns um Connor, als er das Tablett aufrecht gegen die Kanne stellt. In der schwachen Beleuchtung ist der Bildschirm blendend hell. Connor reguliert die Helligkeit und die Lautstärke, als das Video abgespielt wird. Er versucht, eine Einstellung zu finden, bei der wir alles hören können, ohne die anderen zu wecken.

Die Videoqualität ist schlecht. Auf dem Bildschirm sitzt der Missionsleiter John Davies an einem Schreibtisch. Sein Haar ist zerzaust, und er hat dunkle Augenringe. Seine Haut ist blass, und Bartstoppeln überziehen seine Oberlippe, das Kinn und die Wangen, was untypisch für diesen normalerweise tadellos gepflegten Mann ist. Wir sind es gewohnt, ihn in Hemd und Krawatte zu sehen, manchmal mit einer Sportjacke, aber in diesem Video trägt er ein zerrissenes T-Shirt mit dunklen Flecken am Kragen. Ich würde mir gern einreden, dass es Dreck ist, aber ich vermute, dass es sich um Blut handelt. Ich bin mir nicht sicher, von wo er sendet, aber es ist nicht das Kontrollzentrum. Die Beleuchtung ist matt und wirft sanfte Schatten auf sein Gesicht, was ihn wie einen Zombie aussehen lässt.

»Oh, Mann, jetzt haben wir es wirklich vermasselt«, beginnt er, stützt sich auf die Ellbogen und fährt sich mit den Fingern durchs Haar. Für ein paar Sekunden kann er sich nicht dazu überwinden, in die Kamera zu blicken, sondern starrt nur auf die Tischplatte, während er mit den Händen seinen Kopf hält. »Hier unten herrscht Chaos. Ich … ich weiß nicht, was ihr gehört habt. Nach der letzten Zählung kam es zu zweiundzwanzig Detonationen rund um den Globus, aber es gibt kein Muster. Alle sind verrückt geworden. Jameson sagte, er hätte euch eine Nachricht geschickt, bevor die Kommunikation eingestellt wurde. Wir wissen immer noch nicht, was passiert ist oder warum, nur dass wir schwer getroffen wurden – Chicago, Manhattan und Washington, D.C. Seitdem herrscht eine totale Medienfunkstille, Panik auf den Straßen. Selbst Twitter ist verstummt. Irgendwer hat das Internet abgeschaltet, das gottverdammte, angeblich kugelsichere Internet. Alles ist ausgefallen – die nationalen Fernsehsender, Kabel, regionale Radiostationen. Alles Mögliche. Sporadisch bekommen wir Sendungen über lokale Stationen, aber niemand weiß irgendwas.

Ich habe keine Ahnung, ob diese Nachricht euch erreicht. Wir haben den Notsender hochgefahren, aber hier tobt ein schwerer Cyberkrieg im Gefolge dieser nuklearen Schläge. Ich bin mir nicht sicher, wie lange wir Informationen an euch streamen können, aber wir tun unser Bestes, um euch auf dem Laufenden zu halten.

Prospect 28 beginnt mit der Atmosphärenbremsung, wenn sie den Orbit erreicht hat, und die Landung ist für morgen geplant. Ich … ich wünschte, ich könnte … sie ist vollautomatisch, also bekommt ihr mit etwas Glück euren Nachschub, ungeachtet dessen, was hier auf der Erde los ist.«

Im Video hebt Davies die Hände und ringt sie nervös. »Wir haben euch nicht vergessen.«

»Blödsinn!«, platzt es aus Harrison heraus. »Er lügt. Schaut ihn euch an. Er weiß Bescheid.«

»Sie werden uns nicht im Stich lassen«, sagt Michelle, die nun hinter Harrison steht.

Connor drückt auf Pause, um das Video anzuhalten. Er dreht sich zu Harrison um und bittet die anderen mit einer Geste, still zu sein. »Lasst den Mann einfach ausreden.«

»Glaubt mir«, sagt Harrison, ohne auf Connor einzugehen. »Sie haben uns längst vergessen. Schaut euch seine Körpersprache an. Wie er die Hände ringt. Davies kämpft für uns, aber die Leute, die über ihm stehen, haben sich von uns abgewandt. Davies sagt uns nicht die Wahrheit. Er sagt uns nicht alles, was er weiß. Er sagt uns nur, was wir hören wollen.«

»Das kannst du nicht wissen«, entgegnet Connor und fordert mit einer weiteren Geste Ruhe.

Harrison ignoriert ihn. »Die Welt hat viel größere Probleme als einen Haufen Wissenschaftler, die auf einem viele Millionen Kilometer entfernten Felsbrocken festsitzen!«

Connor lässt das Video weiterlaufen.

»Prospect 29 war startbereit, das Fahrzeug stand schon auf der Rampe, als die Hurrikane Louisa und Miles einen Aufschub nötig machten. Wie ihr wisst, haben wir das Fenster für einen Hoffman-Transfer verpasst, aber selbst vor Kriegsausbruch standen wir unter Druck, 29 für das Team auf Cruithne umzurüsten. Diese Entscheidung wurde auf Eis gelegt. Wir werden sehen, was sich hier tut, sobald sich der Staub gelegt hat, aber ich … ich dränge auf eine Hilfsmission zum Mars.«

»Seht ihr?«, ruft Harrison. »Ich habe es euch gesagt! Verdammte Scheiße!«

»Wir haben euch nicht vergessen«, fährt Davies fort, wiederholt seine Worte, aber sein Tonfall klingt nicht allzu überzeugend.

»Verdammter Lügner!«, übertönt Harrison den Missionsleiter. Er zittert unkontrolliert, zerbricht unter dem Druck, den wir alle spüren. Connor hält das Video an, während Harrison Dampf ablässt. »Zwei Jahre! Sie wollen, dass wir zwei weitere verdammte Jahre warten, bis der Mars wieder in Opposition steht, bevor sie uns die nächste komplette Versorgungslieferung schicken? Was ist mit dem angeblichen Notfallplan? Ersatzraketen, die bereitgehalten werden? Kürzere Flüge mit Hochleistungstriebwerken und der ganze sonstige Quatsch?«

Connor spielt weiter das Video ab. Andernfalls würde Harrison einfach weiterschimpfen.

»Ihr müsst jetzt ein bisschen sparsamer mit allem umgehen«, sagt Davies. »Seid genügsam. Wir werden uns etwas ausdenken, wir müssen uns nur über die Prioritäten klar werden.«

Harrison meldet sich wieder zu Wort. »Welche anderen beschissenen Prioritäten hat die NASA?«

»Sie haben eine Billion Dollar ausgegeben, um uns hierher zu bringen. Sie werden uns jetzt nicht einfach sterben lassen.«

»Anscheinend doch«, erwidert Harrison und schlägt mit der Hand auf den Tisch.

»Harrison«, sagt Connor, der sich über die ständigen Unterbrechungen ärgert.

Endlich gibt Harrison Ruhe.

Nach dem Gebrüll sind inzwischen fast alle aufgewacht. Sie setzen sich verwirrt auf und bemühen sich immer noch, mit der neuen Realität des Lebens auf dem Mars zurechtzukommen.

»Tut mir leid«, sagt Davies aus über achtzig Millionen Kilometer Entfernung und mit einer Verzögerung von mindestens fünf Minuten, die wiederholten Übertragungsversuche nicht mitgerechnet. »Ich wünschte, ich könnte euch Genaueres sagen. Ich wünschte, ich könnte mehr für euch tun. Ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis sich alles wieder normalisiert hat, also habt Geduld. Vorläufig seid ihr auf euch allein gestellt.«

»Seht ihr? Ich habe es euch gesagt!«, ruft Harrison und zeigt auf den Bildschirm.

Davies beugt sich vor und schaltet die Kamera aus, ohne sich um irgendeinen Abschiedsgruß zu bemühen. Es gibt keine Vorwarnung, nur die Bewegung seiner Finger, dann wird der Bildschirm schwarz.

»Scheiße«, murmelt Harrison, aber ich glaube, wir alle stimmen mit seiner Einschätzung überein. Das Chaos auf der Erde musste uns in irgendeiner Weise betreffen, aber ich denke, keiner hat damit gerechnet, dass es so bald und auf so direkte Weise passieren würde.
 

*
 

Peter Cawdron: Habitat∙ Originaltitel: Retrograde ∙ Aus dem Englischen von Bernhard Kempen ∙ Wilhelm Heyne Verlag ∙ 352 Seiten ∙ E-Book: 9,99 Euro (im Shop)

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Ein kämpfender Engel in neuen Gewändern

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Wie aufmerksame Leser unserer Seite schon mitbekommen haben, wird nun nach etlichen Verschiebungen die Sci-Fi-Verfilmung „ALITA: Battle Angel“ von Robert Rodriguez und James Cameron am 14. Februar in die deutschen Kinos kommen. Der Realfilm mit der animierten CGI-Protagonistin nahm bereits viele Jahre Platz in Camerons Kopf ein und sollte ursprünglich bereits in den frühen 2000ern in die Kinos kommen.

Was jedoch vielen Zuschauern entfallen könnte, ist, dass der kommende Film eine Adaption des SF-Manga-Klassikers „Battle Angel Alita“ von Yukito Kishiro ist. Die von James Cameron und Charles H. Eglee erschaffene Serie „Dark Angel“ (2000), welche Schauspielerin Jessica Alba ihren großen Durchbruch verschaffen sollte, war in klarer Anlehnung an den ursprünglichen Manga geschaffen und zeigte bereits James Camerons Liebe zum Material. In ihrer ersten Iteration war „Dark Angel“ sogar eine direkte „Alita“-Adaption, die nur verfiel, weil James Cameron sich die Rechte dafür nicht sichern konnte. Selbst die Idee eines morphenden und schmelzenden T-1000 aus „Terminator 2“ entnahm Cameron eigenen Aussagen nach einem Manga. Dass eine Realverfilmung seines Herzensprojektes ausstand, war also nur eine Frage der Zeit.

Nach etlichen Skriptversionen und dem unerwartet immensen Erfolg von „Avatar“ und seinen kommenden drei Fortsetzungen musste James Cameron nun aber den Regiestuhl schweren Herzens an seinen Kollegen und Freund Robert Rodriguez abgeben. Cameron gab in einem Interview 2003 zu Protokoll, dass die kommende „Battle Angel Alita“-Verfilmung in zwei Teilen folgen und sich primär an den ersten vier Bänden des Originalmangas orientieren sollte, mit besonderem Augenmerk auf dem im Manga geschilderten „Motorball“-Sports, der eine Mischung aus Gladiatorenkampf, Rollerblading und einem Wettrennen ist. Von diesem bekommt man auch im aktuellsten Trailer einen ganz kurzen, schnellen Eindruck. Die Pläne für die Verfilmung sollten die ganze Welt des Mangas umspannen und eventuellen Fortsetzungen Tür und Tor öffnen, ohne die dem Manga inhärente episodische Qualität zu verlieren. Wie weit diese Pläne nun aber noch gültig sind, ist bis zum deutschen Kinostart am 14. Februar 2019 noch unbekannt. Auch Robert Rodriguez gab vor einiger Zeit bekannt, dass der stellenweise brachiale Ton des Mangas trotz eines angepeilten PG-13-Ratings nicht eingeschränkt werden soll. So erläuterte Rodriguez auf der Comic-Con Experience in Brasilien, dass SF-Verfilmungen häufig deutlich mehr Freiraum gelassen wird, als ihren „realistischen“ Pendants.

Und wie aufs Stichwort hat der Carlsen-Verlag vor einiger Zeit eine Neuausgabe des Manga-Klassikers um das Cyborg-Mädchen mit dem großen Herzen veröffentlicht. Der ursprünglich 1990 erschienene Manga wurde bereits 1996 in Deutschland im Albenformat samt angepasster Leserichtung veröffentlicht und 2003 dann die ungespiegelten Mangas im gewohnten Taschenbuchformat. Nachdem die neunbändige Serie bereits seit etlichen Jahren vergriffen ist, und sogar zwei weitere Spinoff-Serien und Fortsetzungen bei Carlsen erscheinen, wurde es nun Zeit für eine sogenannte „Perfect Edition“. Diese umfasst über den doppelten Umfang, ein größeres Format und hübsche, vereinzelte Farbseiten wie im Original. Die vier Bände der Perfect Edition von „Battle Angel Alita“ sind bereits alle in jedem gut sortierten Fachhandel zum Preis von €19,99 erhältlich. Darüber hinaus gibt es auch eine Sammleredition im Komplettschuber, der neben der vierbändigen Reihe auch noch ein kleines Extra beinhaltet. Ebenso erhältlich bei Carlsen ist auch die Alita-What-If/Sequel-Serie „Battle Angel Alita: Last Order“ als Perfect Edition. Die erscheint seit November 2018, bisher sind zwei von geplanten zwölf Doppelbänden erschienen, die auch erstmals einen unveröffentlichten Kurzmanga von Yukito Kishiro enthalten werden.

Eine kleine Leseprobe findet ihr auf der Carlsen-Homepage unter der Coverabbildung.

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Ein Schlaglicht in der Dunkelheit

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Seit Anbeginn der Zeit treibt eine kleine Welt um unsere Sonne, ganz weiß draußen, wo das Licht sie fast nicht mehr erreichen kann. Ihr wenig poetischer Name lautet 2014 MU69, und im Gegensatz zu all den anderen Gesteinsbrocken in der äußersten Region unseres Sonnensystems ist sie berühmt, denn sie bekam Besuch von uns. Am 1. Januar ist die NASA-Sonde New Horizons mit unglaublichen 50.700 Kilometern pro Stunde an ihr vorbeigezogen und hat dabei eine Reihe von Daten gesammelt, die im Laufe der nächsten 20 Monate zur Erde gesendet werden. Während Ultima Thule, wie MU69 inoffiziell getauft wurde, schon längst wieder im Dunkel des Weltraums liegt, werfen wir erste Blicke darauf.


Drei Mal Ultima Thule: das erste Farbbild entstand aus einer Entfernung von 137.000 Kilometern und zeigt die rötliche Oberfläche, während das mittlere Bild mit dem Long-Range Reconnaissance Imager (LORRI) aufgenommen wurde und mehr Tiefenschärfe aufweist. Das Bild ganz rechts ist eine Kombination dieser beiden Bilder und zeigt, dass die beiden einzelnen Körper eine sehr ähnliche Farbe aufweisen. © NASA/Johns Hopkins University Applied Physics Laboratory/Southwest Research Institute

Die Bilder, die wir bisher erhalten haben, sind noch nicht die besten (die werden bis Ende Februar erwartet), aber sie verraten uns doch schon einiges über Ultima Thule: so sehen höchstwahrscheinlich Kometen aus, ehe sie zu Kometen werden. Es handelt sich um ein Binärsystem, also um zwei Himmelskörper, die einander umkreisen, mit einer Länge von 33 Kilometern und einer Breite von 16 Kilometern. Binärsysteme sind gängig im Kuiper-Gürtel; das prominenteste Beispiel hierfür sind Pluto und Charon. In Ultima Thules Fall berühren sich die beiden einzelnen Gesteinsbrocken sogar, und das schon seit Milliarden von Jahren; ebenfalls nichts Ungewöhnliches bei KBOs – Kuiper Belt Objects, also Objekte im Kuiper-Gürtel. Der erste Komet, den wir je so genau gesehen haben, 1P/Halley, sah so aus; und selbst der Komet, den wir bisher am genauesten unter die Lupe genommen haben, 67P/Churyumov-Gerasimenko, hat diese Form. Es könnte gut sein, dass Ultima Thule und 67P auf eine ganz ähnliche Art und Weise in etwa zur selben Zeit entstanden sind. Bei beiden handelt es sich um zwei Körper, von denen einer etwa halb so viel Masse aufweist wie der andere. Vermutlich haben sie einander zunächst umkreist, bis ihr Orbit durch etwas – beispielsweise einen Einschlag – gestört wurde, sodass sie sich immer weiter angenähert haben. Das kann unter bestimmten Umständen sehr, sehr langsam erfolgen, mit Geschwindigkeiten von weniger als einem Meter pro Sekunde, sodass die beiden Körper an den Kontaktstellen aneinander „kleben bleiben“ und ein „contact binary system“ formen, anstatt komplett miteinander zu verschmelzen und einen großen Himmelskörper zu bilden (mehr Informationen zu diesem Thema finden Sie in dem englischsprachigen Artikel von David Nesvorný, Joel Parker und David Vokrouhlický im Astronomical Journal). 67P und MU69 scheinen also verwandt zu sein.

Im Gegensatz zu 67P, der auf seiner elliptischen Bahn bis ins innere Sonnensystem vordringt, umkreist Ultima Thule unsere Sonne auf einer Bahn, die fast kreisförmig ist und sich vermutlich seit der Entstehung des Sonnensystems nicht groß verändert hat. Die meisten Kurzperiodischen Kometen (also solche mit Umlaufzeiten von weniger als 200 Jahren, wie beispielsweise der Halleysche Komet oder 67P) stammen vermutlich aus dem Kuiper-Gürtel (während langperiodische Kometen wie Hale-Bopp aus der Oortschen Wolke stammen), wo ihre Umlaufbahnen durch Ereignisse wie Kollisionen so verändert werden, dass sie Richtung Sonne getrieben werden. Ultima Thule ist das offenbar nicht passiert. Die stetig besser werdenden Bilder von New Horizons ermöglichen uns gewissermaßen einen Blick in die Kometen-Kinderstube.


Das bis dato schärfste Bild von Ultima Thule, aufgenommen mit der Weitwinkel-Farbkamera aus einer Entfernung von 6.700 Kilometern nur sieben Minuten vor der größten Annäherung von New Horizon an das KBO. © NASA/Johns Hopkins University Applied Physics Laboratory/Southwest Research Institute 

Das neuste Bild, das vor wenigen Tagen von der NASA veröffentlicht wurde, entstand aus einer Entfernung von 6.700 Kilometern und zeigt entsprechend mehr Details von der Oberfläche. Bei den ersten Fotos vom 2. Januar stand die Sonne zudem direkt hinter der Raumsonde, sodass auf dem KBO keine Schatten – und damit auch keine Andeutungen zu Hügeln oder Senken – sichtbar waren. Bei den neueren Bildern trifft das Licht etwas mehr seitlich auf Ultima Thule. Die Oberfläche des KBOs, das sich in rund 15 Stunden einmal um sich selbst dreht, ist rot und sehr, sehr dunkel (sie reflektiert nur 6-13% des einfallenden Sonnenlichts). Beide Objekte haben in etwa dieselbe Dichte wie Wassereis, und bisher konnte keine Atmosphäre entdeckt werden. Auch scheint Ultima Thule keine Monde zu besitzen. Auf dem kleineren der beiden Objekte kann man eine große, kreisförmige Vertiefung mit einem Durchmesser von rund sieben Kilometern erkennen, die aber nicht zwangsläufig ein Einschlagkrater sein muss. Es könnte ebenso gut sein, dass sie beim Kollaps von Strukturen unter der Oberfläche entstanden ist, wir es also mit einer Art Doline zu tun haben. In dieser Senke sind mehrere vergleichsweise helle Flecken zu sehen, und an der Tag-und-Nacht-Grenze auf beiden Objekten sehen wir kleinere Einschlagkrater mit Durchmessern bis zu 700 Metern. An ihnen können die Forscher unter anderem abschätzen, wie viele kleinere Asteroiden, die von der Erde aus nicht sichtbar sind, in dieser Region des Sonnensystems vorhanden sind. Besonders bemerkenswert ist der „Nacken“, also die Verbindungsstelle der beiden Gesteinsbrocken, die die NASA „Ultima“ und „Thule“ getauft hat, die als weißer „Kragen“ erscheint. Wie und warum diese Flecken entstanden sind, wissen wir noch nicht, und das New-Horizons-Team muss auf weitere Daten und Bilder warten, ehe es versuchen kann, eine Antwort auf diese Fragen zu finden (derzeit dauert es über sechs Stunden, ehe die Signale der Sonde die Erde erreichen). Wir dürfen also gespannt sein, was da noch kommt.


NASA/Johns Hopkins University Applied Physics Laboratory/Southwest Research Institute

Mehr Informationen rund um die New-Horizons-Mission finden Sie auf pluto.jhuapl.edu. Die unbearbeiteten Bilder von der Raumsonde können Sie hier einsehen.

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Der Kampf um die Galaxis geht weiter

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„So muss eine Science-Fiction-Saga sein: episch und actiongeladen!“, sagte George R.R. Martin über James Coreys Weltraumepos „The Expanse“ (im Shop), und eine größere Auszeichnung als ein Lob vom Großmeister der Fantastik persönlich kann es für einen Science-Fiction-Autor eigentlich kaum geben. Umso schöner, dass der internationale Erfolg der Reihe George Martin auch noch recht gibt. Nun erscheint am 11. Februar 2019 mit „Persepolis erhebt sich“ (im Shop) der siebte Band der groß angelegten Weltraumsaga, und es geht wieder ordentlich rund im Universum von James Holden und seiner Crew. Episch und actiongeladen eben. Für alle, die vorab schon einmal in den Text reinschnuppern möchten, haben wir hier eine erste Leseprobe.

 

Prolog

CORTAZÁR

Fast drei Jahrzehnte waren vergangen, seit sich Paolo Cortazár und die abtrünnige Flotte durch das Laconia-Tor abgesetzt hatten. Zeit genug, um eine kleine Zivilisation, eine Stadt und eine Kultur aufzubauen. Zeit genug für ihn, um festzustellen, dass die außerirdischen Ingenieure das Protomolekül als Brückenbauer entworfen hatten. Sie hatten es wie Samenkörner zu den Sternen geschleudert, damit es das organische Leben okkupierte, das es dort vorfand, und die Ringtore erschuf, die als Bindeglieder zwischen den Welten ein eigenes kleines Universum bildeten. Bis zu ihrem Untergang hatten die langsame Zone und die Ringe das Zentrum eines Reichs dargestellt, das dem menschlichen Verständnis trotzte. Jetzt würde es neu entstehen. Ein kleiner, Brücken bauender Mechanismus, der die Beschränkungen des Raums überwand, hatte für die Menschheit alles verändert.

Nicht dass Paolo sich groß um die Menschheit scherte. Für ihn zählten ausschließlich das Protomolekül und die Technologien, die es offenbaren konnte. Es veränderte nicht nur das Wesen des Universums, in dem er sich befand, sondern auch sein privates und berufliches Leben. Jahrzehntelang war dies seine einzige Leidenschaft gewesen. In dem Streit, mit dem seine letzte Beziehung zerbrochen war, hatte er sich von seinem Freund sogar den Vorwurf anhören müssen, er liebte das Protomolekül.

Paolo hatte es nicht einmal abstreiten können. Es war lange her, dass er für einen anderen Menschen etwas empfunden hatte, das man Liebe nennen konnte. Inzwischen hatte er fast vergessen, wie es sich anfühlte. Keine Frage, die Untersuchung des Protomoleküls und die unzähligen wissenschaftlichen Erkenntnisse in so vielen verschiedenen Bereichen, die es mit sich brachte, nahmen den größten Teil seiner Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch. Herauszufinden, auf welche Weise es mit den anderen außerirdischen Artefakten und Technologien zusammenwirkte, war eine Lebensaufgabe für mehr als einen Menschen. Er sah keinen Grund, sich für seine Leidenschaft zu rechtfertigen. Das winzige, wundervolle Körnchen, das so viele Informationen barg, war wie eine Rosen- knospe, die nie verwelkte. Es war auf eine Weise schön, wie es niemals etwas anderes sein konnte. Sein Geliebter hatte dies nicht hinnehmen können, und so war im Rückblick das Ende ihrer Beziehung unausweichlich gewesen. Paolo vermisste ihn durchaus, wenngleich auf eine eher abstrakte Art und Weise. So ähnlich, wie er ein Paar besonders bequeme Schuhe vermisst hätte.

Es gab so viele andere wundervolle Dinge, die seine Zeit ausfüllten.

Auf dem Bildschirm wuchs ein Kohlenstoffgitter heran und bildete komplexe, verflochtene Strukturen. Unter den optimalen Umweltbedingungen und im richtigen Nährmedium neigte das Protomolekül dazu, solche Gitter zu bilden. Das dabei entstehende Material war leichter als gewöhnliche Kohlenstofffasern und hatte eine größere Zugfestigkeit als Graphen. Der Technische Direktor des laconischen Militärrates hatte ihn gebeten, seine Verwendungsfähigkeit für Infanterierüstungen zu prüfen. Die Neigung des Gitters, sich dauerhaft mit der menschlichen Haut zu verbinden, machte dies vom Standpunkt des Ingenieurs aus schwierig, doch es war wunderschön.

Paolo stellte die Empfindlichkeit des Elektronenstrahls nach und beugte sich zum Monitor vor, während das Protomolekül die freien Kohlenstoffatome aufnahm und in das Gitter einflocht wie ein Kind, das selbstvergessen spielte.

»Doktor Cortazár«, sagte jemand.

Paolo antwortete mit einem Grunzen und einer universellen, unmissverständlichen Handbewegung: Gehen Sie weg, ich bin beschäftigt.

»Doktor Cortazár«, drängte die Stimme beharrlich.

Paolo riss sich vom Bildschirm los und drehte sich um. Eine hellhäutige Person von undefinierbarem Geschlecht stand im Labormantel da und hielt ein großes Handterminal hoch. Paolo war fast sicher, dass die Person Caton hieß. Oder Canton? Cantor? So ähnlich. Einer der unzähligen Labortechniker. Kompetent, soweit Paolo sich erinnerte. Aber jetzt unterbrach ihn diese Person, also würde es Konsequenzen geben. Catons / Cantors / Cantons Miene verriet, dass er oder sie sich dieser Tatsache durchaus bewusst war. Ehe Paolo etwas sagen konnte, fuhr die Technikperson fort: »Der Direktor hat mich gebeten, Sie an Ihre Verabredung zu erinnern. Bei …« Jetzt flüsterte die Person beinahe. »Bei ihm.«

Damit war nicht der Direktor gemeint. Es gab nur einen, von dem man so sprach.

Paolo schaltete den Bildschirm ab und vergewisserte sich, dass die Systeme alles aufzeichneten, ehe er aufstand.

»Ja, natürlich«, antwortete er. Und dann, weil er sich Mühe geben wollte: »Vielen Dank. Cantor?«

»Caton«, antwortete die Technikperson sichtlich erleichtert.

»Bitte sagen Sie dem Direktor Bescheid, dass ich unterwegs bin.«

»Doktor, ich soll Sie begleiten.« Caton tippte auf das Handterminal, als wäre der Auftrag auf einer Liste notiert.

»Natürlich.« Paolo nahm die Jacke vom Haken an der Tür und ging hinaus.

Das Labor für Biotechnologie und Nanoinformatik der Universität von Laconia war das größte Forschungslabor auf dem ganzen Planeten. Möglicherweise sogar das größte im ganzen von Menschen besiedelten Raum. Die Universität beanspruchte am Rand der laconischen Hauptstadt beinahe vierzig Hektar Land. Wie alles auf Laconia war sie um ein Vielfaches größer, als es die momentane Zahl von Benutzern erfordert hätte. Sie war für die Zukunft gebaut. Für alle, die noch kommen würden.

Paolo marschierte rasch über den Kiesweg und überprüfte im Gehen den Monitor am Ärmel. Caton trabte hinterdrein.

»Doktor.« Der Labortechniker deutete in die andere Richtung.

»Ich habe einen Wagen mitgebracht. Er steht auf Parkplatz C.«

»Fahren Sie zum Pferch. Ich habe dort noch etwas zu erledigen.«

Caton war unschlüssig, weil er einen direkten Befehl erhalten hatte, der seiner Rolle als Aufpasser widersprach.

»Ja, Doktor.« Caton entfernte sich eilig in die andere Richtung. Unterwegs sah Paolo seine Aufgabenliste für den Tag durch, um sich zu vergewissern, dass er nicht noch mehr vergessen hatte, zupfte den Ärmel über den Monitor und blickte zum Himmel hinauf. Es war ein schöner Tag. Laconia hatte einen wundervollen blauen Himmel, auf dem ein paar Wolken wie Baumwollflocken trieben. Die riesige Konstruktionsplattform, die den Planeten auf einer Umlaufbahn umkreiste, war schwach zu erkennen. Lange Ausleger und dazwischen leerer Raum wie ein gewaltiges, im Weltraum schwebendes Oligonukleotid.

Der sanfte Wind trug den leichten Geruch von verbranntem Plastik herbei. Die Schwaden stammten von einem einheimischen Pseudopilz, der gerade das freisetzte, was hier als Sporen galt. Die Brise ließ die langen Wedel der Hundepfeifen über dem Weg nicken. Die Knarzen – sie besetzten in etwa die gleiche ökologische Nische wie die Grillen und besaßen sogar einige morphologische Ähnlichkeiten –, die an den Pflanzen hingen, fauchten ihn an, sobald er ihnen zu nahe kam. Er hatte keine Ahnung, warum man die Pflanzen Hundepfeifen genannt hatte. Ihn erinnerten sie eher an Weidenkätzchen. Warum man ein Pseudoinsekt, das einer Grille mit vier Gliedmaßen ähnelte, als Knarze bezeichnet hatte, begriff er erst recht nicht. Anscheinend gab es keine wissenschaftliche Systematik für die Benennung der einheimischen Flora und Fauna. Die Menschen benutzten einfach irgendwelche Namen, bis ein Konsens entstand. Das ging ihm gegen den Strich.

Der Pferch unterschied sich von den anderen Laborgebäuden. Die Wände bestanden aus durchgehenden, verstärkten Platten, die jeweils rechtwinklig luftdicht zusammengeschweißt waren, sodass ein dunkler Metallkasten von fünfundzwanzig Metern Seitenlänge entstanden war. Vor dem einzigen Eingang des Gebäudes hielten vier Soldaten mit leichten Rüstungen und Sturmgewehren Wache.

»Doktor Cortazár«, sagte einer der vier und hob die Hand. Es war eine universelle Geste: Durchgang verboten.

Paolo zog das Band mit dem Ausweis unter dem Hemd hervor und zeigte ihn dem Wächter, der ihn in ein Lesegerät schob. Dann hielt er das Lesegerät auf Paolos Handgelenk.

»Ein schöner Tag«, sagte der Wächter freundlich lächelnd, als die Maschine Paolos Ausweis mit den physikalischen Messungen verglich und seine Proteine identifizierte.

»Wirklich schön«, stimmte Paolo zu.

Die Maschine bestätigte mit einem »Ping«, dass er tatsächlich Paolo Cortazár war, der Präsident der Universität von Laconia und Leiter des exobiologischen Forschungslabors. Natürlich kannten die Wächter ihn vom Sehen, aber das Ritual war aus mehr als einem Grund wichtig. Die Tür glitt auf, und die vier Wächter machten ihm Platz.

»Einen schönen Tag noch, Doktor.«

»Ebenso.« Paolo betrat die gesicherte Luftschleuse. Eine Wand zischte, als versteckte Düsen ihn anbliesen. In der gegenüberliegenden Wand befanden sich Sensoren, die nach Sprengstoff und infektiösem Material suchten. Möglicherweise sogar nach üblen Absichten.

Nach einem Moment hörte das Zischen auf, und die innere Schleusentür ging auf. Erst da hörte Paolo das Stöhnen.

Der Pferch, wie ihn alle nannten, obwohl das Gebäude in keiner offiziellen Dokumentation namentlich erwähnt wurde, war aus gutem Grund in ganz Laconia das Gebäude mit der zweithöchsten Sicherheitsstufe. Dort hielt Paolo seine Milchkühe.

Der Name war schon früh bei einem Streit mit seinem Exfreund entstanden. Es sollte eine Beleidigung sein, war aber eine treffende Analogie. Im Pferch verbrachten Menschen und Tiere, die man absichtlich mit dem Protomolekül infiziert hatte, ihre restlichen Lebenstage. Sobald die außerirdische Nanotechnologie die Steuerung der Zellen übernommen hatte und sich selbst reproduzierte, konnten Paolos Mitarbeiter die Körperflüssigkeiten abzapfen und aus dem Gewebe die entscheidenden Partikel herausfiltern. Wenn die Körper erschöpft waren, konnte man die verbliebenen Flüssigkeiten einäschern, ohne Gefahr zu laufen, irgendetwas Wertvolles zu verlieren. Es gab vierundzwanzig Boxen, von denen im Augenblick nur siebzehn belegt waren. Irgendwann, wenn die Bevölkerung gewachsen war, würden ihm reichlich Versuchspersonen zur Verfügung stehen. Die großen Werke auf Laconia hingen von der Kommunikationstechnologie ab, die nach dem Untergang der außerirdischen Zivilisation zurückgeblieben war. Das Protomolekül war nicht als universelle Steuerschnittstelle entworfen worden, doch da die außerirdische Technologie modular aufgebaut war, konnte man es häufig auf diese Weise einsetzen und die Arbeit voranbringen. Das war eine seiner Aufgaben.

Auf dem Weg zu seinem Büro im hinteren Teil des Gebäudes blieb er auf einem Laufsteg über einer Box stehen. In dem engen, von Metallwänden begrenzten Raum liefen ein halbes Dutzend Menschen im Frühstadium der Infektion umher. Sie befanden sich noch in der pseudo-hämorrhagischen Phase, in der die Techniker sie als »Kotzer« bezeichneten. Sie konnten nur noch schlurfen und mussten sich immer wieder heftig übergeben. Auf diese Weise sorgte das Protomolekül dafür, dass sich die Infektion rasch ausbreitete. Sobald die Körper entnommen waren, wurde jeder Zentimeter der Metallwände und des Bodens mit Flammenwerfern behandelt, bis keinerlei biologische Rückstände mehr existierten.

In der Geschichte des Labors hatte es bisher nur eine einzige versehentliche Infektion gegeben, und Paolo war fest entschlossen, es dabei zu belassen.

Dr. Ochida, der Leiter des Pferchs und sein Stellvertreter, stand auf der anderen Seite der Boxen. Als er den Vorgesetzten bemerkte, eilte er sofort herbei.

»Paolo.« Ochida klopfte ihm freundlich auf die Schulter. »Sie kommen gerade rechtzeitig. Vor einer Stunde haben wir die Stammzellenkulturen gezogen, und jetzt sind die Injektionen bereit.«

»Den da kenne ich.« Paolo deutete auf einen behaarten muskulösen Mann im Pferch.

»Hm? Oh, ja, ich glaube, er war einer unserer Wachleute. In seinem Aufnahmeformular stand ›Pflichtvergessenheit‹. Vielleicht hat man ihn während der Wache beim Schlafen erwischt.«

»Haben Sie die Tests durchgeführt?« Der behaarte Mann im Pferch war Paolo ziemlich egal, und Ochidas Antwort hatte seine Neugierde befriedigt.

Ochida brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass sie zum ursprünglichen Thema zurückgekehrt waren. »Oh, gewiss. Ich habe die Reinheit der Proben persönlich dreimal überprüft.«

»Ich fahre jetzt gleich weiter zum Staatshaus«, erklärte Paolo, drehte sich um und suchte Ochidas Blick.

Der Assistent wusste, was der Vorgesetzte wollte. »Verstehe. Die Injektionen entsprechen exakt Ihren Vorgaben.«

Wenn etwas schiefging, wären sie die Nächsten, die im Pferch landeten. Sie waren wertvoll, aber nicht unersetzlich. Das war niemand. So lief es eben auf Laconia.

»Ausgezeichnet.« Paolo schenkte Ochida ein freundliches Lächeln, das nicht von Herzen kam. »Ich nehme sie gleich mit.«

Ochida winkte jemandem in einer Ecke des Raumes, worauf eine Technikerin herbeitrabte. Sie brachte eine silbrig schimmernde Aktentasche mit, übergab sie Paolo und zog sich zurück.

»Gibt es sonst noch etwas?«, fragte Ochida.

»Ich sehe da bereits etwas Wachstum.« Paolo deutete auf einen Knochen, der aus dem Rückgrat des behaarten Mannes spross.

»Ja«, stimmte Ochida zu. »Sie sind fast so weit.«

 

Seit er mit Winston Duarte zusammenarbeitete, hatte Paolo vieles entdeckt, was er an dem Mann bewunderte. Der Hochkonsul war intelligent, legte bei komplizierten Sachverhalten erstaunliche Verständnissprünge an den Tag und war bei seinen Entscheidungen dennoch maßvoll und bedachtsam. Duarte schätzte den Rat anderer Menschen, zeigte sich aber entschlossen und standhaft, sobald genügend Informationen vorlagen. Er konnte charismatisch und warm sein, ohne jemals falsch und unaufrichtig zu wirken.

Mehr als alles andere schätzte Paolo jedoch den völligen Mangel an Selbstherrlichkeit. Viele schwächere Menschen hätten sich in der Position des absolutistischen Militärdiktators eines ganzen Planeten mit Pomp umgeben und einen glitzernden Palast gebaut. Duarte hatte das Staatshaus von Laconia errichtet. Ein massiver Steinbau, der den Rest der Hauptstadt überragte und dennoch eher beruhigend als einschüchternd wirkte. Als sollte er mit seinen massiven Wänden und seiner Größe einfach nur einen Platz bieten, wo wichtige Arbeiten verrichtet und schwierige Probleme gelöst wurden. Diejenigen, die sich darin aufhielten, sollten nicht erhöht werden.

Caton lenkte Paolos kleinen Wagen die breite Straße zum Haupteingang des Gebäudes hinauf. Weit und breit waren keine anderen Fahrzeuge zu sehen. Die Straße endete vor einer hohen Steinwand mit einem kleinen Tor, das mit einem Kontrollposten gesichert war. Paolo stieg aus und nahm die Aktentasche mit.

»Sie brauchen nicht auf mich zu warten«, sagte Paolo zu Caton. Der Techniker hatte kein Wort gesagt, nachdem er ihn vor dem Pferch abgeholt hatte, und schien sogar erleichtert, dass er jetzt entlassen wurde. »Ja, Doktor. Rufen Sie mich, wenn Sie …« Paolo entfernte sich bereits. Hinter sich hörte er das Summen des Elektromotors, als der Wagen wegfuhr.

Das schmale Tor ging auf, als er sich näherte, und zwei Soldaten verließen den Posten und begleiteten ihn wortlos. Diese hier waren nicht mit den leicht gerüsteten Wächtern der Universität vergleichbar. Sie trugen motorverstärkte Anzüge aus vorgeformten Verbundstoffplatten, in denen verschiedene Waffen fest montiert waren. Die Anzüge waren dunkelblau wie die laconische Flagge und mit zwei stilisierten Flügeln verziert. Ein Phönix, dachte er. Vielleicht aber auch irgendein Raubvogel. Die angenehme Farbe ließ fast vergessen, dass es sich um tödliche Kriegsmaschinen handelte. Die Schritte der Soldaten auf dem Stein im Hof und das leise Summen der Anzugmotoren waren die einzigen Geräusche, die ihn auf dem Weg zum Eingang des Staatshauses begleiteten.

An der Tür hielten ihn die Wächter auf und stellten sich links und rechts neben ihn. Paolo glaubte, das Kribbeln der Röntgenstrahlen und Millimeterwellen zu spüren, die ihn von Kopf bis Fuß abtasteten. Nach einer Weile sagte einer der beiden: »Der Hochkonsul erwartet Sie im medizinischen Flügel.« Die beiden machten kehrt und entfernten sich.

 

»Ja, im Grunde könnte man sagen, dass die Träume aufgehört haben«, erklärte Duarte, als Paolo die Kanüle in die Vene stach und mit Klebeband sicherte. Aus Erfahrung wusste er, dass Duarte sich selbst ablenkte und es vermied, den Blick zu senken und zu sehen, wie die Nadel in die Haut eindrang. Es war verblüffend, dass der mächtigste Mann des Universums ein wenig zimperlich wurde, wenn er eine Nadel sah.

»Wirklich?«, antwortete Paolo. Es war keine beiläufige Frage. Die Nebenwirkungen der höchst experimentellen Behandlung, die Duarte bekam, mussten genauestens überwacht werden. »Seit wann genau?«

Duarte seufzte und schloss die Augen. Entweder er entspannte sich, weil das zuvor verabreichte Beruhigungsmittel bereits wirkte, oder er versuchte, sich an das genaue Datum zu erinnern. Vielleicht traf auch beides zu. »Den letzten hatte ich vor elf Tagen.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja«, erwiderte Duarte lächelnd und ohne die Augen zu öffnen.

»Ich bin sicher. Vor elf Tagen habe ich das letzte Mal geschlafen.«

Paolo hätte beinahe den Infusionsschlauch fallen gelassen, den er mit der Nadel verbunden hatte. »Sie haben elf Tage nicht mehr geschlafen?«

Endlich schlug Duarte die Augen wieder auf. »Ich bin überhaupt nicht müde. Ganz im Gegenteil. Ich fühle mich mit jedem Tag kräftiger und gesünder. Ich bin sicher, es handelt sich um eine Nebenwirkung der Behandlung.«

Paolo nickte nur, auch wenn er keineswegs mit dieser Entwicklung gerechnet hatte. Sein Magen verkrampfte sich ein wenig vor Sorge. Worauf mussten sie sich noch gefasst machen, falls es eine so extreme Nebenwirkung gab? Er hatte Duarte gebeten zu warten, bis sie noch mehr Daten hatten, aber der Mann hatte verlangt, dass sie weitermachten, und wie hätte er da widersprechen können?

»Ich kenne diesen Gesichtsausdruck, alter Freund.« Duartes Lächeln wurde sogar noch breiter. »Sie können ganz unbesorgt sein. Ich habe mich selbst überwacht. Wenn irgendetwas aus dem Gleichgewicht geraten wäre, hätte ich Sie schon vor einer Woche gerufen. Aber ich fühle mich fantastisch, ich baue keine Ermüdungsgifte auf, und das Blutbild sagt mir, dass ich nicht psychotisch werde. Jetzt habe ich jeden Tag acht zusätzliche Stunden, die ich arbeiten kann. Ich könnte nicht glücklicher sein.«

»Selbstverständlich«, antwortete Paolo. Er betrachtete den Infusionsbeutel, aus dem die vom Protomolekül veränderten menschlichen Stammzellen durch den Schlauch strömten. Duarte keuchte leicht, als die kühle Flüssigkeit in die Vene eindrang. »Aber bitte vergessen Sie nicht, mir alle Details mitzuteilen, auch wenn sie unproblematisch erscheinen. Tierversuche sind nie perfekt, und Sie sind der erste Mensch, der diese Behandlung bekommt. Es ist äußerst wichtig, alle Wirkungen und Nebenwirkungen genau zu …«

»Das werde ich tun«, fiel Duarte ihm ins Wort. »Ich habe das größte Vertrauen, dass Ihr Labor alles so einrichtet, wie es sein soll. Aber ich werde dafür sorgen, dass mein Leibarzt Ihnen seine täglichen Notizen schickt.«

»Danke, Hochkonsul«, sagte Paolo. »Ich nehme lieber noch eine Blutprobe und lasse sie von meinen Leuten untersuchen. Einfach nur, um ganz sicherzugehen.«

»Wie Sie wollen«, entgegnete Duarte. »Aber solange wir unter uns sind, nennen Sie mich bitte nicht ›Hochkonsul‹. ›Winston‹ reicht völlig aus.« Duarte nuschelte ein wenig, weil das Beruhigungsmittel wirkte. »Ich möchte, dass wir alle gut zusammenarbeiten.«

»Wir arbeiten ja zusammen, aber ein Körper braucht ein Gehirn. Einen Anführer, ja?«, gab Paolo zurück. Er wartete, bis der Infusionsbeutel leer war, benutzte die Kanüle, um eine kleine Blutprobe zu entnehmen, und verstaute die Probe in der metallenen Aktentasche. Dann führte er leise einen kompletten Körperscan durch. Die Behandlung hatte das Wachstum einer kleinen Zahl neuer Organe in Duartes Körper ausgelöst. Die besten experimentellen Physiologen des Planeten hatten sie entworfen und dabei die Lektionen angewendet, die sie dank der ewigen Blüte des Protomoleküls gelernt hatten. Bedauerlicherweise gab es immer noch so viele Dinge, die schiefgehen konnten, und es war Paolos wichtigste Aufgabe, die Veränderungen in Duartes Körper genau zu verfolgen. Trotz seiner Wärme und der echten Freundschaft, die er zeigte, würde man Paolo, wenn dem laconischen Herrscher irgendetwas zustieß, im Handumdrehen hinrichten. Indem er Paolos Sicherheit mit der eigenen verknüpfte, stellte Duarte sicher, dass sich der Wissenschaftler jede nur erdenkliche Mühe gab. Das wussten sie beide, und es war keineswegs böser Wille im Spiel. Paolos Tod wäre genau genommen nicht einmal eine Strafe. Die unausgesprochene Drohung war einfach nur eine Ermahnung, den Patienten keinesfalls sterben zu lassen.

Vermutlich war dies die aufrichtigste Beziehung, die Paolo je gehabt hatte.

»Wissen Sie, Winston, es wird ein sehr langwieriger Prozess. Es könnte ein kleines Ungleichgewicht geben, das über Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg gar nicht auffällt.«

»Jahrhunderte«, entgegnete der Mann nickend. »Ich weiß, es ist unvollkommen. Aber wir tun, was wir tun müssen. Und nein, alter Freund, ich habe es mir nicht anders überlegt.«

Paolo fragte sich, ob auch die Fähigkeit, Gedanken zu lesen, eine unerwartete Nebenwirkung der Behandlung darstellte. Wenn dem so war … dann wurde es interessant. »Ich wollte keineswegs andeuten, dass …«

»… Sie sich ebenfalls der Behandlung unterziehen möchten?«, fragte Duarte. »Aber natürlich wollen Sie das. Und Sie sollten es auch vorschlagen. Tragen Sie die besten Argumente vor, die Ihnen einfallen. Ich glaube nicht, dass Sie mich umstimmen können, aber es würde mir sehr gefallen, wenn es Ihnen gelänge.«

Paolo starrte seine Hände an und wich Duartes Blick aus. Massiver Widerstand wäre einfacher gewesen. Die Melancholie in der Stimme des Mannes war beunruhigend und schwer zu verstehen.

»Es ist doch wirklich ironisch«, fuhr Duarte fort. »Ich habe mich immer gegen die Idee gesträubt, es müsse absolutistische Herrscher geben. Gegen den Glauben, die Geschichte der Menschheit sei von einzelnen Individuen statt von breiten sozialen Kräften geformt worden. Romantisch mag es sein, aber …« Er wedelte unbestimmt mit einer Hand, als wollte er Nebelschwaden vertreiben.

»Demografische Trends, wirtschaftliche Zyklen, technologischer Fortschritt. All das sind doch viel wichtigere Faktoren als ein einzelner Mensch. Und hier sitze ich nun. Ich würde Sie mitnehmen, wenn ich könnte. Das wissen Sie. Aber die Entscheidung liegt nicht bei mir, sondern die Geschichte gibt sie mir vor.«

»Die Geschichte sollte es sich noch einmal anders überlegen«, meinte Paolo.

Duarte kicherte. »Der Unterschied zwischen null und eins ist ein Wunder. Aber noch wundervoller kann er nicht werden. Nehmen Sie zwei oder drei oder einhundert. Dann wird es einfach nur eine Oligarchie. Eine dauerhafte Maschine der Ungleichheit, die die Kriege produziert, denen wir ein Ende setzen wollen.«

Paolo gab einen kleinen Laut von sich, den man beinahe mit Zustimmung verwechseln konnte.

»Die besten Regierungen in der Geschichte waren die von Königen und Kaisern«, fuhr Duarte fort. »Auch die schlimmsten. Ein Philosophenkönig kann zu Lebzeiten große Dinge schaffen, und seine Enkelkinder können alles zerstören.«

Duarte grunzte, als Paolo die Infusionsnadel aus dem Arm zog. Er brauchte keinen Verband, das Loch schloss sich, bevor auch nur ein Tropfen Blut hervorgequollen war. Es gab nicht einmal einen Schorf.

»Wenn Sie eine dauerhafte und stabile Gesellschaftsordnung einrichten wollen«, erklärte Duarte, »dann darf es nur eine Person geben, die unsterblich ist.«

 

James Corey: „Persepolis erhebt sich“∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Jürgen Langowski ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ∙ 640 Seiten ∙ Preis des E-Books € 11,99 (im Shop)

 

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Aufbruch zu den Sternen

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Als der junge Wissenschaftler Reginald Straifer ein geheimnisvolles Objekt außerhalb unseres Sonnensystems entdeckt, gleicht das einer Sensation. Handelt es sich dabei um einen neuen Stern? Einen unbekannten Planeten? Oder gar um ein von außerirdischer Hand gefertigtes Artefakt? Ein Konvoi von neun Raumschiffen bricht auf, um Reggies Entdeckung genauer zu untersuchen. Es ist der Beginn einer Reise, die die Menschheit für immer verändern wird …

Für ihren Debütroman „Die Reise“ (im Shop) über die Generationen überdauernde Expedition der Menschheit zu den Sternen wurde Marina Lostetter mit dem Writers of the Future Award ausgezeichnet und begeisterte in den USA Fans und Kritiker gleichermaßen. „Die Reise“ ist seit dem 11. Februar 2019 auch auf Deutsch erhältlich, und für alle, die gerne in den Roman hineinschnuppern möchten, gibt es hier eine erste Leseprobe.

 

1

Reggie: Ein König

von unermesslichem Gebiete

 

14. April 2088 AZ (Allgemeine Zeitrechnung) T minus 37 Jahre vor Starttag (ST)

 

Das Konsortium Vereinter Planet wurde geschaffen, um im Interesse der ganzen Erde Projekte im interstellaren Raum zu verfolgen. Jede Mission des Konsortiums ist darauf angelegt, wissenschaftliche Erkenntnisse für die gesamte Menschheit zu gewinnen, deren Aktionsradius über den Heimatplaneten hinausauszuweiten und eine nachhaltige planetenweite Kooperation sicherzustellen …

 

Die Hitze der Scheinwerfer trieb Reggie dicke Schweißperlen auf die Stirn. Er konnte die Professorin aus Berkeley kaum hören. Obwohl sie nur drei Plätze von ihm entfernt war, hätte sie auch von der Marsoberfläche senden können.

Der Mars – wäre das nicht eine schöne Alternative zu seinem jetzigen Aufenthaltsort? Auf dem Mars herrschte Stille. Es war menschenleer. Keine Kameras, keine Horden von Wissenschaftlern, Reportern und Politikern, die an seinen

Lippen hingen und jedes Wort aufsaugten.

»Es ist Ihre Entdeckung, deshalb werden Sie sie auch präsentieren«, hatte Professor McCloud in seinem Büro gesagt. Er hatte hinter seinem Schreibtisch gesessen und Reggie angefunkelt wie ein tollwütiger Hund, der zubeißen würde, wenn er seinen Willen nicht bekam.

Von allen Professoren der Welt musste Reggie ausgerechnet den einzigen erwischen, der nicht scharf darauf war, seinen Namen auf sämtliche Forschungsarbeiten seiner Doktoranden verewigt zu sehen. »Sir, meine Doktorarbeit zu verteidigen ist eine Sache, aber das … ich weiß nicht, ob ich das kann.«

»Natürlich können Sie das.« McCloud hustete so kräftig in sein Taschentuch, dass sein dichter weißer Backenbart zusammen mit dem Unterkiefer auf und ab hüpfte. »Es sind doch nur Menschen, Herrgott noch mal! Wenn Sie es ertragen, dass ein Haufen verknöcherter alter Intellektueller über jedes Äh, aber und Ich denke aus Ihrem Mund ein Urteil fällt, dann halten Sie auch ein paar Kollegen und Digitalrekorder aus.«

»Aber …«

»Außerdem wurde die Entdeckung bereits verifiziert. Also wird man Sie nicht auslachen. Die Leute sind nicht einmal Ihretwegen hier. Sie wollen sich die Idee anhören und das Konzept bestaunen. Wenn alles vorbei ist, wird man sich an Sie nicht einmal mehr erinnern. Was zählt, ist die Information, Straifer, nicht Ihr vernuschelter, verhuschter Vortrag.« Er beugte sich weiter vor, sein Doppelkinn wabbelte. »Wenn Sie für diesen rätselhaften stroboskopischen Stern wirklich eine brennende Leidenschaft entwickelt haben, wäre es ein Verbrechen, einen verfressenen Greis wie mich zu zwingen, den Vortrag für Sie zu halten.«

»Das ist ein stichhaltiges Argument«, meldete sich eine elektronische Stimme aus Reggies Tasche. Er zog sein Telefon heraus. Das Icon des Intelligenten Persönlichen Assistenten blinkte – er hatte den Zwischenrufmodus eingestellt. »In den letzten fünfundzwanzig Jahren wiesen Projekte, für die vor der Finanzierung ein vergleichbares Screening-Verfahren erforderlich war, eine um achtundsiebzig Prozent höhere Erfolgswahrscheinlichkeit auf, wenn diejenigen Personen, die die Forschungsarbeit ursprünglich geleistet hatten, ihre Erkenntnisse auch selbst vortrugen. Die Einbeziehung von Dritten …«

»Danke, C.« Reggie schaltete das Telefon ab und starrte den Professor trotzig an.

Zehn Minuten später hatte er widerwillig zugestimmt.

Jetzt stand er vor dieser Menschenmenge und wünschte sich nichts mehr, als dass er Dr. McCloud und dem Computer geraten hätte, sich ihre Ratschläge sonst wohin zu stecken. Der Professor saß in der dritten Reihe und nickte bei jeder zweiten Silbe, die aus dem Mund der Vortragenden kam. Sein Blick wechselte kurz zu Reggie, und sein Grinsen sagte: Schlag los!

Reggie wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Vortrag zu. Hatte er richtig gehört? Wollte die Professorin aus Berkeley allen Ernstes empfehlen, die Langstreckenforschung ausschließlich auf Regionen mit hoher Dichte von dunkler Materie zu konzentrieren? Was konnten zwölf Untersuchungen von dunkler Materie ergeben, was man nicht mit einer allein in Erfahrung bringen konnte?

Aber dunkel war sexy. Alles, was das Etikett ›dunkel‹ trug: Materie, Energie, Kräfte, etc. Was war an seiner Entdeckung sexy?

Es ist, als wäre der Stern von einer Kruste umgeben, sagte er sich im Geiste immer wieder vor. Er musste die richtigen Worte finden. Die Wortwahl war ausschlaggebend. Sie würde seinen Stern interessant, bemerkenswert machen. Er konnte nur hoffen, dass sie überzeugend genug wäre, um ein Team zugewiesen zu bekommen.

Der variable Stern mit der Bezeichnung LQ Pyxidis war einmalig. Er musste den Leuten hier begreiflich machen, dass er etwas Besonderes an sich hatte. Schließlich wusste er, dass eine große Entdeckung darauf wartete, durch eine Visite vollends enthüllt zu werden.

Er musste die Zuhörer lediglich dazu bringen, das auch so zu sehen.

Wir verlassen diese Welt, dachte Reggie aufgeregt. Wir fliegen in den interstellaren Raum. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte wollten die Menschen eine Reise zu den Wundern des Universums wagen. Reggie wollte auf irgendeine Weise daran teilhaben. Wichtiger noch, er war sicher, dass LQ Pyx Teil des Unternehmens sein musste. Er konnte es spüren. Dieser variable Stern war von Bedeutung. Reggie schaltete sein Tablet ein und scrollte durch die Notizen. Wie immer ließ ihn das schlichte Schwarz-Weiß- Bild von seinem Stern, aufgenommen vom JWST 3, innehalten. Man sah ganz deutlich, dass LQ Pyx asymmetrisch war; auf einer Seite spritzte die Energie nur so heraus, der Ausstoß war um mehrere Größenordnungen höher als auf der entgegengesetzten Hemisphäre. Und die Werte schwankten andauernd. Entweder rotierte der Stern ungewöhnlich langsam für einen derart dramatischen solaren Jet … oder etwas umkreiste ihn und überdeckte die normalen Emissionen.

Es ist, als wäre er von einer Kruste umgeben. Einem Mantel.

Dr. Berkeley – wie hieß sie doch noch mal? Er konnte sich den Namen nicht merken; er hatte das Gefühl, als laufe ihm das Gehirn zu den Ohren heraus. Jedenfalls war sie mit den Zuschauerfragen schon fast durch.

Reggie zog ein Papiertuch aus der Tasche und tupfte sich die Stirn ab. Das Tuch zerriss, und ein paar Teile des feuchten Zellstoffs klebten ihm am Gesicht fest. Er streifte sie hastig ab. Hoffentlich hatte er alle erwischt.

Gleich war er an der Reihe. Er schaute von einem der Vortragenden am Tisch zum anderen. Eine lange Reihe von Veteranen der Forschung. Drei hatten Lehrbücher geschrieben, die er im Studium verwendet hatte. Zwei hatten Bücher verfasst, aus denen er in seiner eigenen Doktorarbeit zitiert hatte. Er könnte jeden Einzelnen davon lobend erwähnen – falls er nicht vor lauter Nervosität ihre Namen vergaß. Alle waren sie bewährte, geachtete Wissenschaftler – selbst diejenigen, deren Theorien umstritten waren; sie profitierten von der Aufregung über die öffentlichen Auseinandersetzungen. Und einer moderierte eine mit viel Beifall bedachte Fernsehserie, Der Kosmos und Du. Alle hatten sie sich einen Namen gemacht, alle standen sie auf dem Gipfel einer fantastischen Karriere.

Alle außer Reggie.

Der Telefonchip vor seinem Trommelfell surrte, und der hinter seiner Iris implantierte Bildschirm erwachte zum Leben. »Sind Sie bereit? Haben Sie alle Notizen? Keine letzten Wünsche? Gleich ist es so weit.«

»Ja«, murmelte er. »Ich bin bereit.«

»Okay, dann stehen Sie jetzt auf. Sie sind in fünf, vier …« Der Countdown wurde nur visuell fortgesetzt. Mit jeder violetten Zahl, die vor seinen Augen erlosch, stolperte sein Herz.

»Vielen Dank, Dr. Countmen«, sagte der Moderator. So heißt sie also. »Als Nächsten möchte ich Ihnen Mr. Reginald Straifer vorstellen.«

Reggie hätte schwören können, unter dem obligatorischen Begrüßungsapplaus ein Kichern zu hören. Hätte ihm der Ausschuss die Doktorwürde nicht vor der Konferenz verleihen können? War denn ein gesichtswahrender Doktortitel zu viel verlangt?

Er zitterte über seine ganzen ein Meter siebzig. Aber es war nur eine leichte Irritation – er hatte alle Muskeln angespannt, um still sitzen zu können. Wie er dastand, schlaksig, mit seinem mausbraunen Wuschelkopf, der breiten Nase und dem schüchternen Blick, gab er nicht gerade ein Bild der Selbstsicherheit ab.

Entspann dich.Tu wenigstens so. Sie sind nicht deinetwegen hier, sondern wegen deiner Arbeit.

»V-v-vielen Dank. Ich … ich möchte hiermit empfehlen, dass einer der Konvois ausdrücklich zu dem Zweck gebaut wird, den variablen Stern LQ Pyxidis aufzusuchen. Licpix, wie ich ihn gerne nenne.« Schweigen. Reggie zerrte an seinem Kragen.

»Tief durchatmen, Sir«, ließ sich C aus Reggies Tasche vernehmen.

Damit erntete er ein leises Glucksen aus der ersten Reihe.

»Ruhemodus bitte«, sagte er, um dann dem Rat der KI zu folgen. »Äh, könnten wir bitte die Animation auf den Schirm bekommen?«

Das Licht wurde gedämpft, und auf den Implantaten aller Anwesenden erschien eine farbige Reproduktion von LQ Pyx. Reggie ermahnte sich, nicht ins Fachchinesisch zu verfallen – die Reporter sendeten in alle Welt –, und stürzte sich in seine Präsentation.

Während er den seltsamen Energiejet beschrieb, der möglicherweise gar kein Jet war, fand er allmählich in seinen Rhythmus. Er zeigte auf, inwiefern das Taumeln des Sterns ein Hinweis auf einen ausnehmend massereichen Partner sein könnte, der auf diese Entfernung nicht zu erkennen war. Und er formulierte seine Hypothese darüber, wo sich dieser unsichtbare Trabant befinden könnte – dass er den Stern höchstwahrscheinlich umgab.

»Licpix ist krustig … äh, überkrustet. Als hätte ein Kind im Werkunterricht mit einer Glühbirne gearbeitet. Vielleicht denkt das Kind, mit etwas Farbe und Plastiksteinchen sähe die Birne besser aus. Also kleistert es die Oberfläche mit Flitter zu – nur eine Stelle hat es vergessen. Wenn diese Glühbirne nun brennt, was würden wir sehen? Auch wenn sich die Grundleistung nicht verändert, käme das meiste Licht durch diesen kleinen Bereich an der Oberfläche. Bis auf einen einzigen hellen Punkt wäre alles matt – ganz ähnlich wie bei diesem Stern.

Sein Licht wird einfach verdeckt. Ein unbekanntes Objekt blockiert es, und wir müssen zu LQ Pyx fliegen, um herauszufinden, was für ein Objekt das ist.«

Damit war er zu Ende. Er holte tief Luft und setzte sich. Dann ließ er den Blick über die Zuhörer schweifen und wappnete sich für den Ansturm von kleinlichen, nörgeligen Fragen.

Eine zittrige Hand ging in die Höhe. Ein älterer Herr in Tweedjackett und Fliege stand auf. »Was haben Sie für einen Verdacht, junger Mann?« Reggie konnte seinen Akzent nicht einordnen. »Wenn wir dorthin fliegen, was werden wir vorfinden?«

Reggie ließ sich von einer Hilfskraft ein Glas Wasser reichen und nahm einen tiefen Schluck. Dann antwortete er: »Nun ja, ich, äh … wenn ich das wüsste, könnten wir uns die Reise ja sparen. Eine extrem kleine und dichte Version der Oort’schen Wolke vielleicht. Möglicherweise eine Asteroidenkugel anstelle eines Gürtels. Wäre es nicht wunderbar, neue Möglichkeiten der Orbitalprojektion zu entdecken? Es könnte auch der Anfang eines neuen Systems sein – womöglich ein Stadium, das wir noch nie beobachten konnten. Das könnte unsere Theorien zur Entstehung von Planeten verändern. Ich … ich weiß es wirklich nicht.«

Der Alte nickte, und seine buschigen weißen Augenbrauen zogen sich zusammen. »Und was ist mit Dyson?«

Reggie war überrascht. »Meinen Sie damit, ob es ein künstliches Objekt sein könnte?« Er überlegte kurz, dann zuckte er mit den Achseln. »Klar, warum nicht?«

Die Zuhörer begannen aufgeregt mit ihren Nachbarn zu tuscheln. Im ganzen Auditorium brodelte es von Spekulationen. In Professor McClouds Augen trat ein hintergründiges Funkeln.

»Ja, warum nicht?«, rief der alte Mann mit der Fliege Reggie zu, und seine faltigen Wangen verzogen sich zu einem Lächeln.

 

»Dieser alte Mann hat mich wie einen Schwachkopf aussehen lassen«, klagte Reggie. Er hob sein Glas und kippte den Rest des goldgelben Biers hinunter. Das Zeug roch wie alte T-Shirts. »Ich habe dagestanden wie ein amerikanischer Hinterwäldler, der sich schleunigst wieder in seinem Dorf im Mittelwesten verkriechen sollte.«

Nach der Präsentation hatte ihn Professor McCloud in einen nahe gelegenen Pub eingeladen. Die Auswahl an Kneipen in Oxford war groß, dennoch waren sie in diesem Loch gelandet. Es war dunkel – nicht wegen der Atmosphäre, sondern weil nur die Hälfte der Deckenleuchten brannten. Alles stank nach Zigarrenrauch, auch die Vinylpolsterung in ihrer Nische. Die Einrichtung erinnerte Reggie an eine Spielhölle aus den 1970ern, jedoch ohne deren Charme.

Alle anderen Gäste waren wie McCloud mindestens sechzig Jahre alt. Reggie hatte den Verdacht, dass es sich um ein Stammlokal von Dozenten mit Festanstellung handelte.

Über diesen Status brauche ich mir von nun an den Kopf nicht mehr zu zerbrechen, dachte er.

»Der Alte hat Sie wie ein Genie aussehen lassen«, konterte McCloud und nahm einen Schluck von seinem Jack Daniels. Dann gab er der Bedienung ein Zeichen, für Reggie ein neues Glas zu bringen. »Warum haben Sie es nicht selbst angesprochen? Sie haben doch schon darüber spekuliert, ob es im Umkreis von Licpix künstliche Konstrukte geben könnte?«

Reggie neigte sein Glas, um die Prägung auf dem Boden sehen zu können. Er hätte sie lieber durch mehr Bier betrachtet. »Weil es albern ist.«

»Die Begründung?«

»Nein, die Idee

McCloud lachte spöttisch und nahm Reggie das Glas aus der Hand. »Wenn etwas im Bereich des Möglichen liegt, ist es nicht albern.«

»Ein Konstrukt, das größer – und vielleicht massiver – ist als ein Stern?«, fragte Reggie. »Wer sollte so etwas bauen? Die Milliarden von Lebensformen, die wir da draußen ausfindig gemacht haben?« Sein Sarkasmus war dick aufgetragen, fast schon arrogant, und er wünschte sich noch im Sprechen, sich etwas mehr zurückgehalten zu haben.

»Dass man etwas nicht sehen kann, heißt noch lange nicht, dass es nicht da ist.«

»War das nicht das Argument von Dr. Countmen?«

»Was wollen Sie denn?«, fragte der Professor. »Immerhin hat er Sie ins Gespräch gebracht, nicht wahr?«

»Ihr Antrag ist der einzige, der die Möglichkeit einer Begegnung mit intelligentem Leben oder das Auffinden entsprechender Beweise postuliert«, mischte C sich ein. Reggies Telefon stand zwischen den beiden Männern auf dem Tisch.

»Diese Einzigartigkeit könnte rein statistisch seine Attraktivität steigern.«

Er hatte sich ja Aufsehen, Sexappeal gewünscht. Und was wäre wohl sexier: ein Haufen Felsen oder eine riesige Alien-Maschine?

»Aber es ist so unwahrscheinlich«, nörgelte Reggie. »So unwahrscheinlich, dass …«

»Dass was?«, fragte McCloud.

»Dass es sich wie eine Lüge anfühlt.«

Die Bedienung schlenderte heran und tauschte sein leeres Glas schnell gegen ein volles aus. Sie schenkte den beiden ein strahlendes Lächeln, und Reggie versuchte es zu erwidern. Aber er war überzeugt, dass es nicht dankbar wirkte, sondern eher so kläglich, als hätte er Magenbeschwerden.

McCloud setzte zum Sprechen an, hielt dann inne und hustete in sein Taschentuch. Nachdem er sich Mund und Nase abgewischt hatte, steckte er das Tuch wieder ein. »Wenn ich Ihnen sage, dass Ihnen Ihre Forschungen am Ende entweder eine Dozentenstelle oder den Nobelpreis für Physik eintragen könnten, wäre das gelogen?«

Reggie seufzte und nahm einen Schluck. »Ich werde sicher keinen Nobelpreis gewinnen.«

»Aber es ist eine Möglichkeit – zugegeben eine entfernte. Wenn ich sage, es könnte geschehen, so unwahrscheinlich es auch sein mag, ist das keine Lüge. Anders wäre es, wenn ich sagen würde: Ich glaube, dass es geschieht, ohne wirklich daran zu glauben.«

Reggie zog eine Schnute. »Sie glauben also nicht, dass meine Forschungen den Nobelpreis verdienen?« Er fand sich lächerlich kindisch und nahm noch einen Schluck, um seine Verlegenheit zu kaschieren.

»Habe ich das gesagt?« McCloud knuffte Reggie in die Schulter, und beide lachten. Dann trank der Professor seinen Whisky aus. »Also, wenn Sie nicht an eine Alien-Maschine glauben, wofür halten Sie es denn?«

»Ich weiß es nicht. Deshalb möchte ich ja, dass jemand hinfliegt und es herausfindet … die Wahrheit feststellt.«

»Wollen Sie, dass jemand hinfliegt, oder wollen Sie selbst

hinfliegen?«

Reggie erschauerte innerlich. McCloud hatte einen Punkt berührt, an den Reggie bisher noch nicht einmal zu denken gewagt hatte – einen heimlichen Wunsch, den er für unerfüllbar hielt. Er schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich. Zeitverschwendung, sich damit zu beschäftigen.«

»Haben wir nicht gerade über möglich und unmöglich gesprochen? Sie könnten mitfliegen. Niemand hat bisher das Gegenteil behauptet. Man hat über die Schiffsbesatzungen noch nicht entschieden. Noch weiß man nicht, was für Leute man für den Warp-Antrieb braucht oder wie er heißt.«

»SD-Antrieb«, verbesserte Reggie. »Wir sprechen von sub- dimensionalem Flug. Subdimensionen, ha! Was für ein verstümmelter Begriff! Fast so schlimm, wie etwas ›dunkel‹ zu nennen, was einfach nur unbekannt war.

Es gab viele Gründe, die Missionen zu diesem Zeitpunkt auf den Weg zu bringen. Die interstellare Raumfahrt war endlich Realität geworden, das weltpolitische Klima entwickelte sich zunehmend positiv, die Zahl der bewaffneten Konflikte war beispiellos niedrig. Ressourcen waren nicht nur in Hülle und Fülle vorhanden, sondern auch so gleichmäßig verteilt wie nie zuvor, und die Weltbevölkerung hatte sich bei neun Milliarden eingependelt (einige Wissenschaftler prophezeiten sogar einen möglichen Rückgang in den nächsten fünfzig Jahren). Nun gedachte die Menschheit in großem Stil die ersten Schritte über das eigene Sonnensystem hinaus zu unternehmen.

Die Menschen wollten endlich wissen, ob sie da draußen, fernab der Wärme und Geborgenheit ihres kleinen Sterns vom Typ G überleben konnten.

»Ich würde es nicht erleben«, sagte Reggie. »Es ist zu weit. Sie wissen doch, wie lange es dauern würde, LQ Pyx zu erreichen. Generationen.«

»Das heißt doch nicht, dass Sie nicht mitfliegen könnten. Um das Unternehmen von Anfang an in die richtigen Bahnen zu lenken.«

»Aber es heißt, dass ich es nie erfahren werde.« Reggie schob das Bier von sich weg. »Ob ich mitfliege oder nicht, ich werde nie erfahren, warum LQ Pyx so ist, wie er sich uns darstellt.«

»Sie sind also einer, für den das Glas immer halb leer ist?« McCloud klopfte mit den Fingerspitzen gegen das Bierglas.

Reggie zuckte mit den Achseln. »Mag schon sein.«

»Ich glaube, es gibt etwas, was die Leute mit dem halb leeren Glas immer übersehen.« Er hielt inne.

Reggie kräuselte die Lippen und zog fragend eine Augenbraue hoch. »Nämlich?«

Mit einer schnellen Bewegung aus dem Handgelenk griff McCloud nach dem Glas. Im nächsten Augenblick schüttete er Reggie das Bier über die Brust.

»Mann!« Reggie fuhr hoch und wollte hochspringen, doch er war bereits bis auf die Haut durchnässt. »Verdammt, was soll das?«

McCloud lachte. »Was leer ist, hinterlässt keine Spuren, nicht wahr?« Er reichte Reggie sein Taschentuch, doch der lehnte ab – er hatte gesehen, wie es benutzt worden war. Stattdessen zog er das Hemd von der Brust weg und sah sich Hilfe suchend um, aber niemand erbarmte sich. McCloud fuhr fort: »Im Leben geht es nicht um verpasste Gelegenheiten, Mr. Straifer. Es geht um die Augenblicke, in denen wir bis auf die Haut durchnässt werden und vor Erfahrung triefen.« Er deutete auf den hinteren Bereich des Pubs. »Ich glaube, zu den Toiletten geht es dahin.«

»In diesem Stadtviertel gibt es drei chemische Reinigungen«, meldete sich C.

 

McCloud war verrückt.

Das hieß allerdings nicht, dass er unrecht hatte. Nachdem Reggie und der Professor in die Staaten zurückgekehrt waren, folgten Monate des Wartens, in denen Reggie lange darüber nachdachte, ob man biernasse Dockers als Metapher für das Leben sehen konnte. Aber er war Wissenschaftler, kein Dichter. Sein Ding war die Mathematik – mit Metaphern hatte er noch nie viel anfangen können.

Den Sinn hatte er immerhin verstanden.

Reggie stand auf einem bedenklich schwankenden Schemel und wollte gerade sein frisch gerahmtes Doktordiplom aufhängen, als sein Telefon klingelte. Er meldete sich über seine Implantate. Als er hörte, wer der Anrufer war und worum es ging, ließ er das Diplom fallen. Das Glas zerbrach. Die Scherben verteilten sich kreisförmig über seinen Laminatboden.

»Man hat was genehmigt? Meinen Antrag … mein Projekt? Sind Sie sicher? Kein Irrtum möglich? Ja, ja, das bin ich. O mein Gott. Ich kann nicht … ich meine … danke. Vielen Dank!«

Nach vierundzwanzig Wochen hatte das Gremium – Tausende Experten aus knapp einhundert Nationen – endlich abgestimmt. Nach einer weiteren Woche waren die Stimmen ausgezählt. Die zwölf Anträge mit den meisten Stimmen – zwölf Anträge für zwölf Konvois – wurden ausgewählt.

Und sein Antrag war dabei gewesen. Man wollte zu seinem

Stern fliegen.

Man wollte zu LQ Pyx.

Ohne die Scherben aufzulesen, stürzte er zum Kleiderschrank und riss seine Jacke heraus. Mit zwei weiteren Schritten war er an der Wohnungstür, und noch bevor sie hinter ihm ins Schloss gefallen war, hing er bereits am Telefon.

Das verlangte nach einer Party. Einer Party, wie er sie seit Studententagen nicht mehr geschmissen hatte.

»C, schick eine Nachricht an die Truppe: Wir gehen rein!« Auch Promovierte wissen, wie man sich ordentlich betrinkt.

 

Marina Lostetter: „Die Reise“∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Irene Holicki ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ∙ 560 Seiten ∙ Preis des E-Books € 9,99 (im Shop)

 

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10 Cyborg-Filme, die man gesehen haben muss!

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Heute startet die lang erwartete Verfilmung von Yukito Kishiros Manga-Klassiker „Alita: Battle Angel“ im Kino, in der sich alles um das Cyborgmädchen Alita dreht, das nicht nur reihenweise Bösewichte einen Kopf kürzer macht, sondern auch dem Geheimnis ihrer Identität auf die Spur kommen will. Wer nach dem Genuss des Films Lust auf mehr Cyborg-lastige Unterhaltung hat, kann sich die folgende Liste vorknöpfen: 10 Cyborg-Filme, die der Mensch gesehen haben muss! Wichtig ist: Die Betonung liegt auf „Cyborg“: Das heißt, Filme, in denen technisch veränderte, biologische Lebensformen eine Rolle spielen. Der naheliegende Terminator im gleichnamigen Klassiker von 1984 zum Beispiel ist streng genommen, auch wenn er im Film so bezeichnet wird, kein Cyborg, sondern ein Androide, also ein Roboter, der menschenähnlich aussieht und sich entsprechend verhält. 

 

Universal Soldier: Regeneration (2009)

2009 hallte ein Donnerschlag durch die Videotheken und Verkaufsregale dieser Welt: John Hyams – Sohn der Regie-Legende Peter Hyams („2010: Das Jahr, in dem wir Kontakt aufnehmen“, 1984) – schaffte das Wunder mit dem fünften (!) Beitrag zum von Roland Emmerich gestarteten Franchise alle vorangegangenen Teile zu überflügeln. Natürlich ist auch hier der Plot papierdünn, wird aber von Hyams durch fast schon ins Nihilistische schwappende Düsternis, eine grandiose Inszenierung (Highlight für die Action-Geschichtsbücher: Jean-Claude Van Damme räumt im Finale in einem Fabrikgebäude unter bösen Buben auf, was zum Teil in einer einzigen, langen Plansequenz eingefangen ist!) und zwei glänzend aufspielende Altstars (außerdem: Dolph Lundgren, der hier einen der großen Abgänge der jüngeren Filmgeschichte hat) regelrecht transzendiert.    

***

Universal Soldier: Day of Reckoning (2012)

War schon „Regeneration“ hammerharte und nicht für jedermann leicht zu konsumierende Kost, überschlug sich Hyams mit „Day of Reckoning“ regelrecht und setzte sich zwischen alle Stühle. Nicht nur, dass die viehische Brutalität selbst dem ein oder anderen eingefleischten Genre-Fan zu viel des Guten war, die Gradlinigkeit des Vorgängers wurde zu Gunsten eines labyrinthischen Plots mit „Apokalypse Now“-Anleihen aufgegeben, was sich angesichts der Tatsache, dass mit Scott Adkins, Jean-Claude Van Damme und Dolph Lundgren gleich drei Aushängeschilder der schnellen, simplen Action-Unterhaltung zu sehen sind, fast schon wie eine Provokation anfühlt. Man kann den sechsten, erneut immens eindrucksvoll, oftmals regelrecht psychedelisch inszenierten Teil des „Universal Soldier“-Franchise sicherlich für überambitionierten Murks halten, man kann aber auch anerkennen, dass sich hier mal jemand getraut hat, weit über den Tellerrand hinauszuschauen. So oder so: Vergessen wird man „Day of Reckoning“ nicht so schnell.

***

Cyborg Cop (1993)

Hach ja, Direct-To-Video-Futter aus den frühen Neunzigern. Muss man mögen. Ich mag’s. Weil: Die (etwas zu wenige) Action ist von Sam Firstenberg (unter anderem für den 80er-Jahre-Pausenhof-Renner „American Fighter“ verantwortlich) gut in Szene gesetzt, David Bradley, der selbst mit Filmen dieser Kategorie mimisch überfordert ist, glänzt immerhin durch gewisse Klopp-Fähigkeiten und wird zudem durch einen herrlich überdrehten John Rhys-Davies (Gimli aus dem „Herr der Ringe“-Dreierpack) abgefedert und ja, zwischendrin wird’s gelegentlich ein bisschen fad, aber behämmerte Dialogzeilen wie „Ich frage mich, ist das Voodoo oder kaltblütiger Mord?“ hieven das günstig hergestellte Teil dann doch noch über die Ziellinie. Selbst die beiden 1994 und 1995 veröffentlichten Fortsetzungen sind noch guckbar. Irgendwie.

***

Ghost in the Shell (1995)

Absoluter Überklassiker von Mamoru Oshii. Superhit. Trug maßgeblich zur weltweiten Popularisierung von Animes bei. Hat mit seiner audiovisuell betörend eingefangenen  Mischung aus philosophischer Nachdenklichkeit und knallharter Action bis heute nicht an Faszination eingebüßt. Startschuss eines Franchise, das nach wie vor wild wuchert, aber sich wundersamerweise immer noch keinen Ausfall geleistet hat. Ach, halt, doch, einen Schandfleck gibt’s: Seit 2008 ist mit „Ghost in the Shell 2.0“ eine „geupdatete“ Version des Originalfilms verfügbar, in der unter anderem ursprünglich gezeichnete Sequenzen planlos durch CGI-animierte Momente mit aalglatter Spielzeug-Ästhetik ersetzt wurden. Warum? Man weiß es nicht. Vermutlich Midlife-Crisis des Regisseurs. Vielleicht auch ganz harte Ehekrise oder komplett falsche Drogen. Jedenfalls so überflüssig wie ein Eiterpickel am Hoden. Please avoid at all costs.  

***

Robocop (1987)

Klassiker vom super-smarten, niederländischen Regie-Titan Paul Verhoeven, der sich ein paar Jahre lang in Amerika mit großen Budgets austoben durfte und dabei eine Reihe doppelbödige Spaßbomben hinterließ, die in dieser Form im heutigen Hollywood unmöglich wären (wer’s nicht glaubt, vergleicht bitte mit dem Remake von 2014). Was „RoboCop“ nach wie vor so toll macht: Der hervorragend gedrehte Film funktioniert einerseits als zwar hyperhyperhyperbrutales, aber auch hyperhyperhyperunterhaltsames Sci-Fi-Actionbrett, anderseits aber ebenso als herrlich gallige Gesellschafts- und Mediensatire. Der Erfolg war groß, das natürlich obligatorische Franchise doofte den Stoff von Teil zu Teil weiter runter. Den hier aber muss man einfach gesehen haben. Und nicht nur einmal.

***

Tetsuo: The Iron Man (1989)

Jaja, klar, stimmt schon, ist eine 1000-fach genutzte, längst völlig durchgenudelte Phrase, trifft allerdings nur selten so zu wie hier: Kann man nicht beschreiben, muss man gesehen haben! Ein schwarzweißer, furios inszenierter, mit ikonischen Bildern vollgepackter, dröhnender Alptraum über einen Mann, der sich langsam, aber sicher in ein Maschinenwesen verwandelt; ein Film wie Listerine fürs Hirn, spült durch, hinterlässt ein befreiendes Gefühl. Shinya Tsukamotos Debüt hievte den japanischen Independent-Film aufs internationale Parket, gewann prominente Fans wie Quentin Tarantino, wurde 1992 und 2009 auf sehenswerte Weise fortgesetzt und ist mittlerweile ein absoluter Klassiker!

***

Cyborg (1989)  

Kein Text über Cyborgs ohne Albert Pyun – der Mann hat den Mensch-Maschine-Verschmelzungen schließlich einen großen Teil seiner Karriere gewidmet, man kann von einem regelrechten Cyborg-Fetisch sprechen. Pyun ist aber natürlich auch ein Regisseur, der im Laufe seiner rund 35-jährigen Karriere aufgrund seiner oft… sagen wir mal „eigensinnigen“ Werke für viel Spott gesorgt hat. Alles Quatsch! An Pyun ist sicherlich kein zweiter Tarkowski verloren gegangen, klar, aber wer sich mal näher mit dem sympathischen Albert befasst, wird feststellen, dass der gute Mann häufig mit fiesen Produzenten zu kämpfen hatte, die in seinen Werken rumwurschtelten (klar, eine gerne genutzte Ausrede, allerdings konnte der Hawaiianer mit der Veröffentlichung diverser Originalfassungen Land gut machen) und dass Pyun darüber hinaus handwerklich versiert ist und originäre Vorstellungen hat; man kann den Regisseur auf eine gewisse, verquere Art und Weise durchaus als Autorenfilmer bezeichnen. Und hey, letztendlich ist doch selbst ein auf interessante Art und Weise gescheitertes B-Filmchen immer noch besser, als die zahllosen technisch perfekten, aber ideen- wie seelenlosen Blockbuster-Blendgranaten, die aus Hollywood jedes Jahr auf uns niederprasseln.

Bei „Cyborg“ handelt es sich um eine seiner bekanntesten – selbst die gute alte „Bravo“ berichtete damals – und finanziell erfolgreichsten Arbeiten, die dank herrlich dreckiger Endzeit-Atmosphäre, stimmungsvollem Soundtrack und knackig-brutaler Action noch heute überzeugt (und das sogar trotz Eingriffe seitens Produzenten und Zensurbehörde).

***

Nemesis (1992)

… und gleich noch mal Pyun: Ein weiteres Highlight aus dem Köchelverzeichnis des Meisters: Der Plot ist zwar bei „Die Klapperschlange“ (1981), „Blade Runner“ (1982) und weiteren Klassenbesten zusammengemopst, aber die einfallsreiche Bildgestaltung, die guten Trickeffekte und die erneut dichte Atmosphäre brachte dem Film sogar Lob von den notorischen Nörglern vom „Lexikon des Internationalen Films“ ein. Nur die drei Sequels… die sind ausschließlich für fortgeschrittene Jünger des erratischen Regie-Exzentrikers gedacht. 

***

T-Force (1994)

Die im Jahr 2000 leider dichtgemachte Produktionsfirma PM Entertainment hielt in den 1990er-Jahre nahezu im Alleingang das Actiongenre am Laufen und wäre in einer guten, gerechten Welt längst mit zahlreichen Werkschauen und Vorträgen gewürdigt worden, denn die Firma hatte – ähnlich wie kurz davor „Cannon Films“ – einen ganz eigenen Stil. PM Entertainment bedeutete: Eine Flut an Autos, die formschön durch die Luft wirbeln und krachend auf dem Boden der Tatsachen landen, fette, FETTE Explosionen, blutige Schießereien, knochensplitternde Kloppereien, abgehalfterte Altstars, freigelegte Brüste, alles in klinisch-steril wirkenden Glasbauten und Industrielandschaften, meist abgeschmeckt mit einem Augenzwinkern. Die Studio-Chefs und Regisseure Joseph Merhi (vormals Besitzer diverser Pizzerien!) und Richard Pepin machten nicht den geringste Hehl aus ihren Absichten: Man wollte schwer schuftenden Redakteuren unkomplizierte Feierabend-Unterhaltung kredenzen und dieses Unterfangen wurde so gut und charmant über die Bühne gebracht, dass der Autor dieser Zeilen sich die entstandenen Entertainment-Bomben noch heute gerne mit einem breiten Grinsen reinzieht. „T-Force“ fährt alles auf, was das Studio so beliebt machte und noch viel mehr: Wer schon immer mal eine Szene sehen wollte, in der zwei Cyborgs Sex haben, während ein dritter mittels Pornoheft überprüft, ob alles seine Ordnung hat: Das ist dein Film!

***

964 Pinocchio (1991)

Regisseur Shozin Fukui, ehemaliges Crew-Mitglied von Shinya Tsukamoto, schraubte sich mit gerade mal zwei Filmen in die Science-Fiction-Historie. Einer davon ist diese nicht unbedingt leicht nachvollziehbare Geschichte um einen Sex-Cyborg, der von seiner Besitzerin auf die Straße geworfen wurde, da die Erektion ausblieb …

Der Film gilt als einer der wichtigsten Beiträge zum japanischen Cyberpunk ist aber aufgrund des ultra-exaltierten Spiels der Darsteller und der zwischen knallig-effektiv und gewollt-aber-nicht-so-richtig-gekonnt pendelnden Machart eine gewisse Herausforderung. Die sich allein aufgrund diverse visueller Eindrücke allerdings durchaus lohnt.

***

Großes Bild ganz oben: „Alita: Battle Angel“/20th Century Fox

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Wie jedes Jahr begeben wir uns an dieser Stelle auf Genrefilme, die auf einem der hehren Filmkunst verschriebenen Festival wie der Berlinale bekanntermaßen schwer zu finden sind. In diesem Jahr, dem letzten unter der Ägide des langjährigen Festivaldirektors Dieter Kosslick, schaffte es tatsächlich ein waschechter Horrorfilm in den Wettbewerb: Fatih Akins „Der goldene Handschuh“, der in ungeschönter Manier Leben und Taten eines Frauenmörders zeigt. Nicht ganz das Genre also, das uns hier interessiert.


„Light of my Life“, BBL LOML

Blicken wir stattdessen zur Panorama Sektion, die mit Casey Afflecks minimalistischem Endzeitfilm „Light of my Life“ eröffnete. Einen klassischen Ansatz wählt Affleck in seiner zweiten Regiearbeit, den er jedoch auf originelle Weise variiert. Einmal mehr hat ein Virus weite Teile der Menschheit erfasst, der Clou: Nur Frauen sind gestorben und somit in der postapokalyptischen Welt ein ebenso rares wie begehrtes Gut. Aus diesem Grund hat ein Vater (gespielt von Affleck selbst) mit seiner Tochter Rag (Anna Pniowsky), die wie nur wenige andere Frauen immun gegen das Virus ist, die Zivilisation hinter sich gelassen. Im Wald lebt das Duo, stets bemüht, sich von Fremden fern zu halten. Bislang ist das geglückt, doch die elfjährige Rag, die mit ihren kurzen Haaren und langen Hosen bislang leicht als Junge durchging, wird langsam erwachsen und so wird das Versteckspiel immer schwieriger.

Jede Begegnung mit fremden Männern ist eine potentielle Gefahr, die der Vater zu verhindern sucht, doch Rag stellt zunehmend Fragen, vermisst den Umgang mit anderen Menschen immer mehr, ohne noch zu ahnen, welche Gefahren ihr drohen. Eine geschickte Metapher für den Umgang der Geschlechter ist das, eine ausgesprochen zeitgemäße Reflektion der #metoo-Welt, aber auch ein anrührendes Porträt der Ängste eines Vaters, der langsam akzeptieren muss, dass seine Tochter erwachsen wird und er sie nicht ewig vor den Gefahren der Welt beschützen kann.


„Louis & Luca – Auf zum Mond“, Maipo Films

Gehen wir weiter in die Sektion Generation, in der Filme für Kinder und Jugendliche gezeigt werden. Darunter auch der dritte Teil der auch in Deutschland sehr erfolgreichen norwegischen Animationsreihe „Louis & Luca“, diesmal mit dem Titel „Auf zum Mond.“ (Trailer) Das tierische Duo – Louis ist eine Elster, Louis ein Igel – begibt sich diesmal also auf eine Reise zum Mond, denn 50 Jahre nach der ersten Mondlandung sind die amerikanischen Besitzansprüche erloschen, so dass ein neues Rennen zum Mond beginnt. Und diesmal will auch das kleine Norwegen teilnehmen und das in Gestalt von Louis & Luca, die zusammen mit dem Erfinder Alfie eine ziemlich handgemacht wirkende Mondrakete bauen. Schon der Start macht Probleme, doch dann ist das Duo auf dem Weg zum Mond, doch sie ahnen nicht, das ein blinder Passagier mit an Bord ist.

Das besondere an der „Louis & Luca“-Reihe, die von Rasmus A. Sivertsen inszeniert wird, ist die Verwendung der traditionellen Stop Motion-Technik. Ein wenig wird sie hier zwar durch den Einsatz von Computertechnik unterstützt, doch der altmodische Charme der sich leicht ruckelig bewegenden Figuren ist nicht zu übersehen. Der auch ideal zu den in den 60er Jahre veröffentlichten Kinderbüchern von Kjell Aukrust passt, die schon damals wie aus der Zeit gefallen gewirkt haben müssen. Eine nostalgische Welt entsteht so, voller skurriler Einfälle und charmantem Humor.


„2040“, Hugh Miller

Schließlich sei noch auf den essayistischen Dokumentarfilm „2040“ hingewiesen, in dem der australischen Regisseur Damon Gameau einen Blick in die Zukunft wirft. Genauer gesagt in eine Zukunft, wie sie vielleicht einmal existieren wird, wenn die Menschheit all die Methoden zum Umweltschutz, zur Abwendung der Klimakatastrophe, zur nachhaltigem Landwirtschaft, die heute schon existieren, anwenden würden. Die Geburt seiner Tochter war Anlass für den Beginn von Gameaus Recherche, das Wissen, dass diese Tochter viel länger leben wird als er selbst, viel mehr an den Folgen bisheriger Versäumnisse leiden wird. Pessimistisch könnte dieser Blick in die Zukunft sein, doch Gameau macht das Gegenteil und schürt die Hoffnung, dass die Menschheit doch bald Vernunft annimmt.

***

Großes Bild ganz oben: „Louis & Luca – Auf zum Mond“, Maipo Films

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Mehr Gummimonster braucht die Welt!

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Das Problem bei einem Text über alte Filme, in denen Stuntmen in Gummikostümen Miniaturstädte kaputt hauen ist, dass man sich vom ersten Buchstaben an ausmalen kann, welche Reaktionen das Geschriebene garantiert einfährt. Die Fans gehen mit den getätigten Beobachtungen mehr oder weniger d’accord und der ganze, große Rest wird spätestens beim Anblick der unten verlinkten Trailer zum Schluss kommen, dass die mühsam fabrizierten Sätze wohl in einem Anfall totaler geistiger Umnachtung entstanden sein müssen, wobei die Ablehnung vor allem aus einem eingeschlagenen ästhetischen Irrweg resultiert, der hier kurz erläutert werden soll, vielleicht lässt sich der ein oder andere ja doch noch bekehren.

Es steht dabei weniger die ewige Frage im Raum, was besser ist, handgemachte Effektarbeit oder computergenerierte. Es ist vielmehr die Wucht, mit der das Blockbuster-Kino in den letzten Jahrzehnten nicht nur das pulsierende New Hollywood verschlungen, sondern spätestens mit der zunehmenden Nutzung von „Computer Generated Imagery“ (CGI) der kommerziellen Filmproduktion eine allgegenwärtige Einheitsästhetik oktroyiert hat, die das sinnliche Empfinden hintergeht. Oder, um zum eigentlichen Thema zu kommen: Der aus dem Rechner stammende Godzilla in Gareth Edwards „Godzilla“-Update von 2014 vermittelt, wenn man mal ehrlich ist, keineswegs eine perfektere Illusion als der Monster-Darsteller im Original von 1954; bei Letzterem ist sofort die Verkleidung ersichtlich, bei Ersterem aber eben die Herkunft aus dem Rechner, lediglich die ästhetische Repräsentation ist zeitgemäßer. Und die wird mit ihrem Anspruch – paradoxerweise von jeglicher Haptik befreiten – „Realismus“ abzubilden, einen Anspruch, den die japanischen Varianten nie hatten, meist als „besser“ empfunden, dabei handelt es sich lediglich um eine alternative Herangehensweise.

Und wer das verinnerlicht, wird die Vorzüge älterer Produktionen ebenso zu schätzen wissen, gerade bei den Godzilla-Filmen, welche mit ihren Gummikostümen und ihren Miniaturstädten auf oftmals sehr verspielte Weise eine eigene kleine Welt (die sich zudem jederzeit so anfühlt, als ob man sie tatsächlich anfassen könnte!) auffächern, die zwar ganz klar kein Stück weit realistisch ist, aber es eben auch nicht sein will. Wie hieß es bei Nicolas Mahlers neulich erschienener Hommage „Das Ritual“ so schön aus dem Mund des effektebastelnden Protagonisten: „Um Realismus hab ich mich nie gekümmert. Warum sollte man die Dinge so darstellen, wie sie sind?“ – zumal die Frage nach der Realität gerade in dieser Ecke des cineastischen Universums eh obsolet ist: Es handelt sich schließlich um pure Fantasie, warum dürfen die Filme also nicht auch bunt, verträumt, verrückt, fantastisch sein?

Womit wir bei den Neu- beziehungsweise Wiederveröffentlichungen von Anolis wären, die drei Filmen aus ihrem umfangreichen Kaijū-Programm erstmals HD-Abtastungen spendiert haben, was den herrlich bunten Ungeheuer-Abenteuern natürlich besonders zu Gute kommt. Etwas schade ist, dass die zahlreichen Extras wohl den jeweiligen Pendants aus der auf DVD erhältlichen „Kaijū Classics“-Serie vorbehalten bleiben werden, außer Trailer findet sich in der Bonus-Abteilung schlichtweg nichts, dafür aber sind die Blu-rays zu einem weitaus humaneren Preis erhältlich.


„Frankensteins Höllenbrut“

Um ein Stirnrunzeln zu vermeiden: Das die im Folgenden genannten Filme allesamt den Namen „Frankenstein“ im Titel tragen, ist lediglich eine dieser so typischen Entscheidungen deutscher Verleiher der damaligen Zeit. Da „Frankenstein – Der Schrecken mit dem Affengesicht“ von „Godzilla“-Schöpfer Ishirō Honda 1965 hierzulande die Kinokassen zum rattern brachte, wurde kurzerhand beschlossen auf allerlei Godzilla-, Gamera- oder King-Kong-Filme ein Frankenstein-Etikett draufzukleben.

Um mit den schwächsten Kandidaten anzufangen: In „Frankensteins Höllenbrut“ dreht sich alles um außerirdische Käfer, die sich menschlicher Körper bemächtigt haben um unter einem etwas eigenwilligen Vorwand („Meine Mitarbeiter und ich wollen den Menschen begreiflich machen, was Frieden ist. Und wer das sabotiert ist unser Feind!“) die Erde zu übernehmen. Zu diesem Zweck schlagen sie Quartier im Gebäude eines Vergnügungsparks auf und rufen die Weltraumonster Gigan und King Ghidorah zur Unterstützung herbei. Da kann Godzilla natürlich nicht tatenlos zusehen und macht sich mit Kumpel Anguirus auf in die Schlacht. Der schlicht gestrickte Comiczeichner Gengo und seine kampfsportgestählte Freundin Tomoko geraten zwischen die Fronten …


„Frankenstein und die Ungeheuer aus dem Meer“

Der Film des fünfmaligen Godzilla-Regisseurs Jun Fukuda entstand zu einer Zeit als das Franchise am taumeln war, was ein deutlich reduziertes Budget und damit auch recyclte Szenen und Musik zur Folge hatte – natürlich nicht gerade schön! Ein weiterer, in Kritiken häufig zu Recht bemängelter Stolperstein ist, dass die Monsterkeilerei im Finale unverhältnismäßig lange ausgedehnt wird. Dass sich der 12. Beitrag zur „Godzilla“-Reihe doch noch über die Runden rettet, kann man dem ordentlichen Drehbuch zuschreiben, das mit seinem Helden, der in eine groß angelegte Verschwörung stolpert, deren sinistre Drahtzieher sich hinter einem Wirtschaftsunternehmen verbergen, durchaus ein wenig an die Paranoia-Thriller der 1970er-Jahre erinnert. Dazu gönnt die Geschichte ihrer Hauptfigur überraschend viel Exposition und wartet mit einer nicht nur für die Serie, sondern auch generell für das Kino der 1970er-Jahre eher ungewöhnlichen Frauenfigur auf: So entpuppt sich Gengos Freundin Tomoko weder als weiblicher Anhang noch als der typische Kleine-Jungen-Traum einer sexy Kampfamazone, sondern als eigenständiger Charakter mit deutlich mehr Bodenhaftung als ihr männliches Gegenüber. Ebenso fein: Obwohl sich der Film einen Ausflug in Richtung sonderbarer Albernheit (Godzilla und Anguirus unterhaltsam sich via Sprechblasen!) leistet, bleibt der Grundton verhältnismäßig düster: Keine Kinderdarsteller, kein infantiler Humor und wenn die Viecher aufeinander losgehen, spritzt sogar Blut!


„Frankensteins Kampf gegen die Teufelsmonster“

„Frankensteins Höllenbrut“ mag in seiner Gesamtheit vielleicht gescheitert sein, aber er ist auf interessante Art und Weise gescheitert. Trotz deutlicher Defizite jedenfalls sehenswert! (Höchst erfreulich übrigens die deutsche Synchronisation, die hinter dem Mikro alles versammelt, was damals Rang und Namen hatte, egal ob Thomas Danneberg oder Gerd Martienzen, es wimmelt nur so vor bekannten Stimmen!)

„Höllenbrut“-Regisseur Jun Fukuda war sechs Jahre zuvor für „Frankenstein und die Ungeheuer aus dem Meer“ verantwortlich, einer von zwei Godzilla-Filmen, die sich in der malerischen Szenerie einer Pazifik-Insel abspielen. Das heißt, ursprünglich war das Projekt als King-Kong-Abenteuer geplant, wurde dann aber wegen lizenzrechtlichen Problemen umgemodelt. Der Plot, der munter genre hopping betreibt (von Science-Fiction- und Katastrophen- zum Abenteuer- und Fantasyfilm), lässt sich als Zusammenfassung kaum adäquat vermitteln, deswegen sei nur gesagt, dass neben Godzilla die mindestens ebenso kultigen, toll designeten Kreaturen Mothra und Ebirah auftauchen und außerdem eine Geheimorganisation mit Namen „Roter Bambus“ eine größere Rolle spielt, die sich Ebirah mit selbstproduzierten gelben Saft vom Leib hält, der ins Meer gespritzt wird. Der siebte Film um den Monster-Superstar darf getrost zu den Highlights gezählt werden: Eine farbenprächtige, superunterhaltsame Genre-Mixtur, in der es viel zu sehen und noch mehr zu staunen gibt, womit nicht unbedingt nur die großen Kloppereien gemeint sind, in einer der schönsten Szenen lässt sich Godzilla in grauer Felskulisse zu einem Nickerchen nieder! Ein wirklich zauberhaftes Werk, das ganz viel Liebe verdient!


„Frankensteins Kampf gegen die Teufelsmonster“

Bei „Frankensteins Kampf gegen die Teufelsmonster“ kann man getrost von einem der kontroversesten Godzilla-Filme aller Zeiten sprechen. Das herrlich irre Werk wird von Leuten wie Amerikas einstigem Kritikerpapst Roger Ebert geliebt, anderseits aber selbst vom eigenen Produzenten, Tomoyuki Tanaka (der bis Mitte der 1990er alle Godzilla-Filme betreute), gehasst! Inhaltlich dreht sich’s um ein durch Industrieabfälle entstandenes Monster mit dem Namen „Hedorah“, das mit ätzendem Schlamm und toxischen Gasen die Menschheit bedroht. Der kleine Ken und sein Vater Dr. Yano erkennen die Gefahr rechtzeitig, Yano findet heraus, dass das Monster mittels Elektrizität besiegt werden könnte, dennoch ist der Kampf eine Nummer zu groß für die Menschlein, weswegen Godzilla zur Hilfe eilt …

Film Nummer elf entstand zu einer Zeit, in der das Produktionsstudio Toho nach einem neuen Thema für sein Aushängeschild suchte, um konkurrenzfähig zu bleiben. Auf dem Regiestuhl nahm Yoshimitsu Bano, der vormals unter anderem als Regieassistent bei Akira Kurosawa tätig war, Platz und konnte sich über eine freie Bahn freuen, da Tanaka zu dieser Zeit im Krankenhaus lag. Bano inszenierte den wohl ungewöhnlichsten Beitrag überhaupt, der im Kern zwar erneut von Monstern handelt, die sich gegenseitig platt machen, bei eingefleischten Fans allerdings mit exzentrischen Einfällen wie Trick-Sequenzen, pseudowissenschaftlichen Exkursen, einem fliegenden Godzilla (!) und einem experimentellen Soundtrack, der zwischen Psychedelic Rock und Avantgarde Jazz pendelt, für ordentlich Verwirrung gesorgt hat und Banos gerade angefangene Regie-Karriere auf einen Schlag wieder beendete. Ein schräges Kleinod, dem man allein schon wegen seiner Eigensinnigkeit nicht ernsthaft böse sein kann, das es aber ebenso schwer macht, emotional anzudocken, da keine echten Sympathieträger angeboten werden, weil die menschlichen Figuren hier in einer beobachtenden Position am Rande des Geschehens stehen.

Frankensteins Höllenbrut(Japan 1972) • Regie: Jun Fukuda • Darsteller: Hiroshi Ishikawa, Yuriko Hishimi, Minoru Takashima, Toshiaki Nishizawa, Zan Fushita, Kunio Murai, Gen Shimizu

Frankenstein und die Ungeheuer aus dem Meer (Japan 1966) • Regie: Jun Fukuda • Darsteller: Akira Takarada, Kumi Mizuno, Chôtarô Tôgin, Hideo Sunazuka, Tôru Ibuki, Akihiko Hirata, Jun Tazaki, Tôru Watanabe, Ikio Sawamura

Frankensteins Kampf gegen die Teufelsmonster (Japan 1971) • Regie: Yoshimitsu Banno • Darsteller: Akira Yamauchi, Toshie Kimura, Hiroyuki Kawase, Toshio Shiba, Keiko Mari, Yoshio Yoshida, Haruo Suzuki, Yoshio Katsube

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Mörderjagd in der Zukunft

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Es ist der wohl schwierigste Fall in der Karriere von Sonderermittlerin Shannon Moss. Als die Familie eines Ex-Navy-SEALs ermordet wird, der mit einem streng geheimen Raumfahrtprogramm in Verbindung stand, ist Shannon sofort klar, dass sie es nicht mit einer gewöhnlichen Mordermittlung zu tun hat. Doch noch hat sie keine Ahnung, welche Ausmaße dieser Fall wirklich annehmen wird, denn der Mörder selbst scheint in die Zukunft verschwunden zu sein …

In „Am Ende der Zeit“ (im Shop) entwirft Thomas Carl Sweterlitsch eine atemberaubende Zukunftsvision und verbindet diese mit einer hochspannenden Thrillerhandlung. Hier finden Sie eine erste Leseprobe des Romans, der am 04.03.2019 auf Deutsch erscheint.

 

 

PROLOG

2199

Man hatte sie gewarnt, dass sie Dinge sehen würde, die ihr Verstand nicht begreifen konnte. Ein toter Wald im Winter – ein niemals endender Winter, die Bäume geschwärzt von altem Feuer und überzogen mit Eis, viele Stämme umgestürzt, ein Gitter aus verkohlten Stangen. Stundenlang schlug sie sich bereits durch das Geflecht aus toten Kiefern, trotzdem hielt ihr Raumanzug sie warm, ein Flachprofilmodell, das ihr genügend Bewegungsspielraum ließ. Der Anzug war orange, die Farbe für Trainees: Dies war ihr erster Ausflug in eine ferne Zukunft der Erde. In allen Richtungen sah sie nichts als den frostbleichen Himmel und den schneebedeckten, mit umgekippten Bäumen schraffierten Boden. Es gab zwei Sonnen: die fahle Scheibe des ihr vertrauten Gestirns und das grellweiße Leuchten der Erscheinung, die ihr Ausbilder als Weißes Loch bezeichnet hatte. Hier hatte einmal West Virginia gelegen.

Sie hatte sich weit vom Basislager entfernt und machte sich allmählich Sorgen, ob sie noch rechtzeitig für den Abtransport zum Quadlander zurückfinden würde. Ein Dosimeter maß ihre Strahlenbelastung, und im Lauf der letzten Stunden hatte sich das Hellgrün der Anzeige zum olivfarbenen Ton eines Tümpels verdunkelt. Dieser Ort hatte sie infiziert, Luft und Boden waren verschmutzt mit einem Dunst aus Metallpartikeln, die so klein waren, dass sie durch den Anzug in ihren Körper eindrangen. QTNs, so hatte ihr Ausbilder sie genannt: quantentunnelnde Nanopartikel. Sie hatte ihn gefragt, ob QTNs wie ein Schwarm von Robotern waren, und er hatte geantwortet, sie sollte es sich eher wie Krebs vorstellen. Die Partikel nisteten sich in den Mikrotubuli der Zellen ein, und sobald sich eine ausreichende Zahl in ihr festgesetzt hatte, war sie verloren. Damit meinte er nicht den Tod, erläuterte er, nicht genau zumindest. Er stellte ihr in Aussicht, dass sie mit eigenen Augen würde beobachten können, wie QTNs auf menschliche Körper wirkten, auch wenn sich ihre Intuition vielleicht dagegen sträuben mochte; und vermutlich würde sie Widerwillen und ein starkes Bedürfnis empfinden, das Gesehene ungesehen zumachen.

Als sie sich an einem der noch stehenden Bäume vorbeischob, einer kahlen Kiefer in einer weißen Aschehaut, verwandelte sich auf einmal die Landschaft um sie herum. Noch immer herrschte Winter, und sie durchstreifte einen Wald, doch die Bäume waren nicht mehr verbrannt und umgestürzt. Die

Kiefern waren jetzt von saftigem Grün, wenn auch bedeckt mit Schnee. Wie bin ich hierhergekommen? Sie schaute sich um: keine Spuren, nicht einmal ihre eigenen. Ich habe mich verirrt. Mit einiger Mühe hob sie die Füße aus den Verwehungen undschob sich voran durch Zweige und Nadeln. Dann auf einmalpassierte sie wieder einen weiß verbrannten Baum, der aussah wie der von vorhin: tot, mit skelettartigen, aschfahlen Ästen. Oder war es derselbe? Ich muss mich im Kreis gedreht haben. Sie kletterte über Wurzeln und Steine, rutschte durch Schnee, suchte nach etwas Vertrautem, nach irgendeinem wiedererkennbaren Landschaftsmerkmal. Schließlich drängte sie sich durch eine Lücke zwischen den Kiefern und gelangte auf eine Lichtung, zum Ufer eines schwarzen Flusses. Im nächsten Moment entdeckte sie die hängende Frau und schrie.

Sie schwebte mit dem Kopf nach unten über dem schwarzen Wasser, mitten in der Luft, wie umgekehrt gekreuzigt, auch wenn es kein Kreuz gab. An ihren Hand- und Fußgelenken flackerte Feuer. Der Brustkorb stach seltsam aufgebläht von dem dünnen, völlig ausgemergelten Körper ab, über die Beine zogen sich schwarze Wundbrandstriemen. Das Gesicht war bläulich dunkel vom Blutstau, und das blassblonde Haar hing bis zur Oberfläche des Wassers hinunter. Dann erkannte sie sich selbst in der Gekreuzigten wieder und sank am Ufer des schwarzen Flusses auf die Knie.

Das muss eine Täuschung der QTNs sein, dachte sie. Ein abstoßender, unsinniger Anblick. Sie sind in mir und bringen mich dazu, dass ich so was sehe …

Bei der Vorstellung, dass sich die QTNs in ihren Zellen, in ihrem Gehirn ansammelten, durchzuckten sie Blitze aus Panik. Trotzdem begriff sie, dass das keine Halluzination war, sondern dass die Gekreuzigte real war, so real wie sie, real wie der Fluss und das Eis und die Bäume. Sie überlegte, ob sie die Tote abschneiden sollte, doch ihr graute davor, sie zu berühren.

Dann ging ihre Strahlungsanzeige von Grün zu Senfgelb über, und sie rannte los. Sie schaltete ihre Notleuchte ein und versuchte krampfhaft, sich an den Ort des Basislagers zu erinnern. Der Wald um sie herum war ihr völlig fremd, und sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Durchgerüttelt vom eisigen Wind, mühte sie sich rutschend zurück durch den Schnee. Erneut kam sie an einem weißen Baum vorbei, der den anderen glich – o nein, das ist bestimmt derselbe. Eine verbrannte Kiefer, die Rinde ein Panzer aus Asche. Das Gelb ihrer Anzeige hatte sich zu rötlichem Beige verdunkelt. Nein, nein, nein! Wieder lief sie los und tauchte unter einem Büschel Zweige hindurch. Die Anzeige glomm hellrot. Übelkeit durchzuckte sie, und die Schwere in ihrem Blut ließ ihre Knie einknicken. Durch eine Lücke zwischen den Bäumen kroch sie weiter und stellte fest, dass sie wieder bei der Lichtung am Ufer des schwarzen Flusses war, am Ort ihrer Kreuzigung. Doch nun waren es zahllose Kreuzigungen, Tausende von Körpern, die entlang des Flusses mit dem Kopf nach unten hingen, nackte Männer und Frauen, die im Schein zweier Sonnen schrien.

»Was passiert da?« Ihre Worte verhallten ungehört.

Ihr Blick trübte sich, sie rang keuchend nach Luft. Als sie am Himmel Blitze wahrnahm, glaubte sie schon, das Bewusstsein zu verlieren, doch es waren die Lichter des Quadlanders Theseus. Die Notleuchte, dachte sie. Ich bin gerettet. Schwankend setzte das Landemodul im Eis der Lichtung auf und kam zum Stillstand.

»Hier.« Ihre Stimme war schwach. Sie versuchte zu rufen. »Hier drüben.«

Zwei Männer in den schmalen olivfarbenen Raumanzügen der Navy kletterten aus der Luke und steuerten auf den Fluss zu. »Hier bin ich.« Die beiden konnten sie nicht hören, sie waren zu weit weg. Mühsam robbte sie auf den Waldsaum zu, wollte aufstehen und zu ihnen hinüberlaufen, aber sie war viel zu schwach dafür. Sie sah, wie die Männer bis zur Hüfte in den Fluss wateten und die Gekreuzigte zu sich herunterzogen. Behutsam wickelten sie sie in schwere Decken.

»Nein, hier bin ich, ich bin hier.« Hilflos beobachtete sie, wie die Frau, diese andere Version ihrer selbst, an Bord des Landers getragen wurde.

»Ich bin hier«, krächzte sie. »Bitte.« Ihre Anzeige verdunkelte sich zu schlammigem Braun. In Erwartung des tödlichen Schwarz schloss sie die Augen.

 

Wie der Tritt eines Maultiers riss der einsetzende Schub sie aus der Bewusstlosigkeit, und sie begriff schlagartig, wo sie sich befand – in einer Kabine des Quadlanders, Hände und Füße an die Pritsche geschnallt, Kopf und Hals in einem gepolsterten Block gesichert. Alles war taub, sie zitterte, Decken waren um sie her befestigt, hüllten sie ein. Soeben flaute die g-Kraft des Starts ab, und sie fühlte Schwerelosigkeit.

»Bitte kehrt um«, murmelte sie. »Ich bin da unten. Bitte kehrt um, lasst mich nicht …«

»Schon gut, Sie sind in Sicherheit.« Ihr Ausbilder schwebte durch die Kabine zu ihrer Pritsche. Er war viel älter als sie, mit silbrigem Haar, nur seine Augen wirkten jung. Mit ledrig weichen Händen prüfte er ihren Puls. »Sie haben bestimmt starke Schmerzen an den Hand- und Fußgelenken. Wie Sie gefesselt waren, weiß ich nicht, jedenfalls haben Sie Verbrennungen erlitten. Außerdem haben Sie ausgedehnte Erfrierungen von der Kälte.«

»Ich bin die Falsche.« Sie erinnerte sich, dass sie sich in ihrem orangefarbenen Trainee-Raumanzug kriechend am Waldsaum gesehen hatte. »Sie müssen mir glauben, bitte. Ich bin noch immer da unten. Bitte lasst mich nicht …«

»Nein, Sie sind wieder auf der Theseus«, entgegnete ihr Ausbilder. »Wir haben Sie im Wald gefunden.« Er trug eine kurze blaue Sporthose und weiße Kniestrümpfe, dazu ein graues NCIS-T-Shirt. »Sie sind bloß durcheinander. Die QTNs haben Sie verwirrt. Die sind in Ihrem Blut. Sie haben eine gefährlich hohe Dosis abbekommen.«

»Das versteh ich nicht.« Sie versuchte sich zu erinnern, doch ihr Kopf war träge. »Was ist in meinem Blut? Ich weiß nicht, was QTNs sind.« Ihre Zähne klapperten, ihr Körper schlotterte. Unerträgliche Schmerzen harkten durch ihre Glieder wie blitzartig wuchernde Schösslinge, nur die Finger und Zehen schienen abgestorben. Sie erinnerte sich jetzt: Wie sie am Fluss aus ihrem Raumanzug gestiegen war und ihre Kleider abgestreift hatte. An die brennenden Blasen vom Eis an den Schultern. An das Feuer an Hand- und Fußgelenken. Dass sie mit dem Kopf nach unten über dem rauschenden schwarzen Wasser gehangen hatte, stundenlang, vielleicht sogar mehrere Tage. Sie hatte schon um ihren Tod gefleht, als sie bemerkte, wie sie zwischen den Kiefern auftauchte. »Ich versteh das nicht.« Sie weinte gegen den Schmerz an.

»Unsere Hauptsorge im Moment sind die Unterkühlung und die Erfrierungen.« Ihr Ausbilder schwebte näher heran und zog eine Ecke der Decke weg. »Ach, Shannon …«

Sie hob den Kopf und erkannte, dass ihre Füße dunkelviolett und geschwollen waren, die umgebende Haut schuppig und gelblich. »Nein, o Gott. O Gott, nein, nein.« In ihrem Schockzustand hatte sie beinahe das Gefühl, dass diese Füße einer anderen gehörten, irgendjemandem, bloß nicht ihr. Man hatte ihr Wattekügelchen zwischen die Zehen gesteckt. An ihrem linken Bein zogen sich rotblaue Linien hinauf. Der Ausbilder rieb ihr mit einem feuchten Waschlappen die Füße ein, und sie spürte das Wasser nicht, obwohl es vom Tuch über ihre Zehen tropfte und wie Glasperlen durch die Luft davonwirbelte.

»Ihr Bewusstsein ist getrübt, vielleicht hat sich die Unterkühlung auf Ihr Gedächtnis ausgewirkt«, sagte er. »First Lieutenant Stillwell und Petty Officer Alexis haben Sie geborgen und hier stabilisiert. Sie sind in Sicherheit.«

»Die kenne ich nicht.« Die Namen waren ihr fremd. Den Quadlander hatte doch First Lieutenant Ruddiker zusammen mit Petty Officer Lee gesteuert. Stillwell und Alexis sagten ihr nichts. Das Eckfenster umrahmte einen Blick auf die ferne, von Dunst und Eis marmorierte Erde. Ihre Gedanken weilten bei ihrem Körper im Raumanzug, der dort unten in der Wildnis starb, dabei konnte sie sehen, dass der Raumanzug im Kabinenschrank hing, hellorange, wie die Tarnkleidung eines Jägers. Verdammt, was ist mit mir los? Obwohl ihre Hand- und Fußgelenke mit Verbänden umwickelt waren, die nach Salben rochen, brannte ihre Haut, als hätte ihr jemand Säure darübergeschüttet.

»Es tut weh«, wimmerte sie. »Es tut so weh.«

»Wir haben die Ärzte verständigt, dass Sie kommen«, erklärte ihr Ausbilder. »Sobald wir am Schiff angedockt haben, kann die Behandlung beginnen.«

»Was … was war das da unten? Was ist mit mir passiert? Ich war aufgehängt. Alle waren …«

»Sie haben Leute gesehen, die gekreuzigt waren. Am Fluss. Ich habe das auch erlebt, schon oft, auf meinen Reisen zur Erforschung des Terminus. Wir nennen sie die Gehängten. Die QTNs kreuzigen diese Menschen. Sie haben auch Sie gekreuzigt.«

»Sie haben gesagt, ich hab sie im Blut. Holen Sie sie da raus, holen Sie sie aus mir raus …«

»Shannon, wir können sie nicht rausholen – das wissen Sie doch. Das haben wir beim Training besprochen. Ich dachte, Sie sind vorbreitet. Ich habe Sie davor gewarnt.«

»Nein, das haben Sie nie.« Es kostete sie Kraft, sich trotz des pochenden Brennens in den Handgelenken zu konzentrieren. Sie war ganz wirr im Kopf, alles ging durcheinander … Sie wusste noch, dass sie auf dem Schiff William McKinley in die Tiefenzeit gereist war, ins Jahr 2199 oder in eins von unendlich vielen möglichen Jahren 2199, über eine Distanz von mehr als zweihundert Jahren hinweg. Bei ihrer Ankunft hing ein bleicher Schein über der Erde wie von einer zweiten Sonne – die gesamte Crew war überrascht. Niemand hatte eine Ahnung, was das für ein fahles Licht war. Niemand hatte sie vor QTNs oder irgendwelchen Gehängten gewarnt. »Sie haben gesagt, Sie bringen mich nach Hause, mehr nicht.«

»Shannon …« Ihr Ausbilder verstummte hilflos. Erneut rieb er ihr mit dem Waschlappen die Füße. »Ich weiß nicht, wie ich Sie überzeugen soll. Die Unterkühlung … Das kann zu Gedächtnisverlust führen. Vielleicht, wenn Sie sich wieder erholt haben …«

»Rendezvous mit der William McKinley. Bereit machen zum Andocken.« Die Ansage kam über Lautsprecher. Die Stimme kannte sie nicht.

Sie erinnerte sich an schwarzes Wasser, das unter ihr dahinrauschte. Erneut fasste sie ihre Füße ins Auge. In den rechten war ein wenig Farbe zurückgekehrt, doch die Zehen links waren noch immer schwarz, und die Linien am Bein hatten sich verdunkelt. Von dem Anblick wurde ihr ganz übel. »Was ist das für Zeug? Diese QTNs, die ich in mir habe?« Sie kämpfte gegen ihre Konfusion an. »Ich will es wissen, egal, ob Sie meinen, dass wir das schon irgendwann besprochen haben.«

»Wir haben keine Ahnung, woher sie stammen und was sie wollen«, antwortete der Ausbilder. »Vielleicht wollen sie gar nichts. QTNs – das bedeutet quantentunnelnde Nanopartikel. Wir vermuten, dass sie extradimensional sind – sie kommen durch das Weiße Loch, diese zweite Sonne, die Sie bemerkt haben. Irgendwann in unserer Zukunft. Sie lösen das Ereignis aus, das wir Terminus nennen.«

»Die Kreuzigungen.«

»Der Augenblick, in dem die Menschheit Geschichte wird. Niemand bleibt am Leben. Jedenfalls nicht im üblichen Sinn. Es gibt die Gehängten, aber es gibt auch Läufer. Millionen, die in großen Horden durch die Gegend rennen, bis ihre Körper versagen oder sie aufs Meer treffen und ertrinken. Manche graben Löcher und legen sich hinein. Andere stehen bloß da, das Gesicht zum Himmel gewandt, den Mund voll mit silberner Flüssigkeit. An den Stränden stellen sie sich auf und machen Bewegungen wie bei Freiübungen.«

»Warum?«

»Wir kennen weder den Grund noch den Sinn. Vielleicht gibt es keinen Sinn.«

»Aber das hier ist doch bloß eine Version der Zukunft.« Sie bildete sich ein, die QTNs wie Parasiten durch ihr Blut krabbeln zu spüren. »Nur eine von unendlich vielen Möglichkeiten. Das heißt, es gibt andere Möglichkeiten, andere Formen der Zukunft.«

»Der Terminus ist ein Schatten, der auf die Zukunft unserer Spezies fällt«, erwiderte der Ausbilder. »Jeder von uns besuchte Zeitverlauf endet mit dem Terminus. Und er kommt näher. Beim ersten Mal haben wir das Ereignis auf 2666 datiert, doch die nächsten Reisenden, die den Terminus erlebt haben, mussten feststellen, dass er auf 2456 vorgerückt war. Inzwischen ist er noch näher, im Jahr 2121. Der Navy und ihrer Flotte wurde die Aufgabe übertragen, ein Mittel gegen diese Bedrohung zu finden, und wir arbeiten für die Navy, dazu haben wir uns verpflichtet. Alles, was ich Ihnen beibringe und was Sie sehen werden, dient nur einem Zweck: Wir helfen unserer Spezies, dem Terminus zu entrinnen. Wir müssen uns von diesem Schatten befreien.«

»Was … werde ich denn noch sehen?«

»Das Ende von allem.«

 

Thomas Carl Sweterlitsch: „Am Ende der Zeit“∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Friedrich Mader ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ∙ 480 Seiten ∙ Preis des E-Books € 11,99 (im Shop)

 

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Ihr Name ist Orry. Sie ist auf der Flucht

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Ein gewaltiges Sternenreich, rasante Raumschiff-Action und eine Heldin zum Niederknien – da alles bietet Dominic Dulleys packendes Sternenabenteuer „Shattermoon“ (im Shop). Das Debüt des britischen Autors erscheint am 01.04.2019 auf Deutsch, und für alle, die sich vorab schon mal einen ersten Eindruck verschaffen möchten, gibt es hier eine erste Leseprobe.

 

Die Bonaventure war zwanzig Jahre vor Orrys Geburt in einer kleinen Werft über Endymion auf Stapel gelegt worden, und man sah dem alten Frachter jedes einzelne seiner vierzig Jahre an. Ungeachtet der Schäden am Komposit und der Kratzer im Anstrich waren die Systeme des Schiffs jedoch in ausgezeichneter Verfassung. Orry sorgte dafür.

Ihre Kabine war klein, sie wollte es nicht anders. Das Schiff beförderte schon seit Jahren keine Passagiere mehr, und ihr Vater hatte es aufgegeben, ihr eine der geräumigeren Kabinen auf dem Beobachtungsdeck anzubieten. Hier war ihr Reich, hier schlief sie, seit sie ein Jahr alt war, und sie konnte sich nicht vorstellen, ihr müdes Haupt anderswo niederzulegen.

Sie zog den Reißverschluss ihrer braunen Fliegerkombination über dem sauberen weißen T-Shirt zu und hielt kurz vor dem gerahmten Bild ihrer Mutter inne, das neben der schmalen Koje stand. Katerina Kents feingliedrige Schönheit und Eleganz hatte sie zwar nicht geerbt, aber Dad versicherte ihr immer wieder, sie hätte die Augen ihrer Mutter. Orry konnte sich Katerina nicht in einer Fliegerkombi mit Ölflecken vorstellen – das smaragdgrüne Ballkleid, das jetzt an der Tür eines der Spinde an der Kabinenwand hing, passte viel besser zu ihr.

Orry betrachtete erst das Ballkleid und dann in dem Hochglanzbildschirm neben dem Bett ihr eigenes Spiegelbild. Sie hielt ihr Haar, das so orange war wie eine Sonneneruption, mit einer Hand über dem Nacken in die Höhe. So hatte sie es auf dem Ball getragen. Sie stieß einen melancholischen Seufzer aus, bevor sie ihren albernen Gesichtsausdruck bemerkte und die Stirn runzelte.

Voller Verachtung über sich selbst riss sie das Ballkleid von seinem Bügel und faltete es zusammen, um es in seine Schutzhülle zu stecken. Höchste Zeit, dass es in den Kostümfundus zurückkam, vielleicht musste sie es eines Tages noch einmal anziehen. Sie verschloss die Hülle, drückte auf den Türöffner – und prallte gegen ihren Bruder.

»Pass doch auf!«, fuhr sie ihn an.

»Hoho, hast du schon wieder deine Tage, Schwesterherz?«

»Geh mir aus dem Weg, Ethan.«

Er rührte sich nicht von der Stelle. Mit seinen vierzehn Jahren schoss er in die Höhe wie eine Bohnenstange und war schon fast so groß wie sie. Wenn sein schlaksiger Körper erst kräftiger wurde, gäbe er vielleicht sogar einen würdigen Gegner auf dem Kickballfeld ab, das sie sich im Frachtraum eingerichtet hatten.

Er strich sich eine Haarsträhne aus den Augen und grinste. »Wir sollen zu Dad kommen. Planungssitzung.«

»Schön.« Sie warf das Kleid auf ihr Bett, zog die Tür zu und verriegelte sie mit einem Befehl aus ihrem Integuar. Dann sah sie Ethan misstrauisch an. »Falls du es jemals wagen solltest, mein Schloss zu unterwandern, stoße ich dich aus der Luftschleuse, das ist dir hoffentlich klar?«

Er legte eine Hand aufs Herz. »Du kränkst mich, Schwesterchen. So etwas würde ich doch niemals tun.«

Sie warf ihm noch einen drohenden Blick zu und drängte sich an ihm vorbei.

Die Messe der Bonaventure war darauf eingerichtet, eine vollständige sechsköpfige Besatzung sowie bis zu einem Dutzend Passagiere zu verköstigen. Die Kombüse befand sich in einer Nische an einer Seite des ovalen Abteils. Eoin saß bereits an dem runden Smart-Tisch in der Mitte, eine Trinkblase mit heißem Kaffee vor sich. Daneben lag das antiquarische Buch in seiner Stoffhülle. Er war dabei, mit einer Hand virtuelle Notizen und Bilder auf der Tischplatte neu anzuordnen. Der große Multimedia-Schirm war auf stumm geschaltet und durchsuchte gerade die Newsfeeds im näheren Umkreis.

»Wird allmählich Zeit«, sagte er. »Können wir an die Arbeit gehen?«

Orry ließ sich stöhnend auf einen der Stühle fallen, die auf dem Deck angeschraubt waren. Ethan ging zur Kombüse und schnappte sich zwei Utz-Schokoriegel. Einen warf er Orry zu.

»Warum hast du es so eilig?«, fragte sie und riss die Verpackung auf. »Wenn wir Konstantins Spice verkaufen, haben wir genug Gild für die nächsten Monate.« Sie biss von dem Riegel ab und schwenkte den Rest vor der Nase ihres Vaters herum. »Ich schlage vor, wir machen erst einmal Urlaub.«

»Ausnahmsweise hat sie recht«, sprang ihr Ethan bei. »Nach allem, was man hört, ist es auf Halcyon das ganze Jahr über schön.«

Orrys Vater schlürfte seinen Kaffee und beobachtete dabei seine Kinder. »Ich finde es zwar großartig, dass ihr euch einmal einig seid, aber wir sind auf Tyr noch nicht fertig.«

Sie seufzte. »Delf.«

»Du magst die letzte Aktion als Erfolg betrachten, ich aber nicht. Wir müssen einen neuen Plan entwerfen, um an sein Integuar-Muster zu kommen.«

»Aber was ist mit dem Büchertrick?«, fragte Ethan. »Das Folio-Fieber wird nicht ewig anhalten. Wir sollten so viel wie möglich aus der Sache rausholen, bevor sich die feinen Pinkel ein anderes schwachsinniges Hobby zulegen.«

»Vergiss den Büchertrick«, rief Eoin scharf. »Delfs Integuar-Muster brauchen wir nötiger, glaub mir.«

»Man kann eine Menge mit jemandem machen, wenn man sein Muster hat«, sagte Orry nachdenklich. »Was hast du im Sinn? Und wieso gerade Delf?«

»Ich habe meine Gründe.«

»Darf man die erfahren?«

»Noch nicht. Wir konzentrieren uns zunächst darauf, an das Muster dieses Dreckskerls zu kommen, dann können wir vielleicht an einen Kurzurlaub denken, bevor wir uns Delf vornehmen.«

»Halcyon?«, schlug Ethan hoffnungsvoll vor.

Sein Vater verdrehte die Augen. »Wir werden sehen.«

Der Bildschirm stellte selbsttätig den Ton an. Stimmen erfüllten den Raum.

»… über den Tod seines Enkels und Erben Konstantin Larist Soltz, dem 3. Viscount Huish …«

Orry sah auf. Konstantins Gesicht erschien auf dem Bildschirm. Sie las die Schlagzeilen, die darunter abliefen, mit wachsendem Entsetzen.

»Was …?«, begann Ethan, doch Eoin zischte ihn nieder.

»Schlichter-Oberst Zaitsew gab folgende Erklärung ab«, fuhr die Bildschirmstimme fort. Konstantins Gesicht verschwand, an seine Stelle trat ein Mann in einer schwarzen Uniform mit Kragenspiegeln in Form einer silbernen Faust. Das Gesicht unter dem stahlgrauen Haar wirkte wie aus Stein gemeißelt.

»Die brutale Ermordung des Erben eines der großen Häuser des Dominiums hat den gesamten Urquell schockiert. Ich komme soeben von einer Audienz beim Imperator mit der Anweisung, alle Kräfte des Schlichter-Corps zu mobilisieren, um die Schuldigen an diesem abscheulichen Verbrechen vor Gericht zu bringen. Aus der Dienerschaft Seiner Gnaden, des Grafen von Delf, ergingen eine Reihe von vielversprechenden Hinweisen. Wir sind zuversichtlich, dass die Verantwortlichen schnell zur Rechenschaft gezogen werden können.«

Eoins Züge waren hart geworden. Er sah Orry an.

»Sie glauben, dass wir das waren«, sagte sie mit dumpfer Stimme.

Er nickte.

»Was machen wir jetzt?«, fragte sie.

Er strich sich über das Kinn. »Lass mir einen Moment …«

»Sie können nicht uns für die Täter halten«, rief Ethan. »Konstantin war noch am Leben, als du Orry verhaftet hast.«

Eoin winkte verächtlich ab. »Was glaubst du, wie lange die Schlichter brauchen, um die Unterlagen über ihre Festnahme einzusehen und dahinterzukommen, dass jemand mit einem gestohlenen Abzeichen unterwegs ist? Du weißt, wie dürftig unsere Tarnung war – sie war nie dafür gedacht, einer Mordermittlung standzuhalten.«

Orry griff mit ihrem Integuar auf den Bildschirmfeed zu und überflog die Metadaten. Als ihr Gehirn Worte wie gefoltert und ausgeweidet auffing, legte sie den halb aufgegessenen Schokoriegel auf den Tisch.

»Wer könnte so etwas tun?«, fragte sie.

»Wen kümmert das?«, fauchte ihr Vater. »Die glauben, dass du es warst, und nur darauf kommt es an.«

»Aber sie können uns nicht finden«, sagte Ethan mit zittriger Stimme. »Oder? Sie wissen doch nicht, wie wir wirklich heißen.«

Eoin sah ihn strafend an. »Hast du die Überwachungsvideos gesäubert?«

»Wie? Nein – warum hätte ich das tun sollen?«

»Dann wissen sie, wie Orry aussieht. Und was ist mit dem Autocar und dem Giga-Roller?«

»Was soll damit sein?«

»Du hast sie unterwandert – hast du in den Systemen Spuren hinterlassen? Etwas, das die Schlichter zu uns zurückverfolgen könnten?«

»Ich – ich weiß es nicht.« Ethan wirkte so betroffen, als würde er gleich in Tränen ausbrechen.

»Spar dir die Vorwürfe«, fuhr Orry ihren Vater an. »Du hast ihm nicht gesagt, dass er das alles tun soll – es war bisher noch nie erforderlich.«

»Aber so etwas sollte routinemäßig passieren. Jede professionelle Crew wüsste, dass …«

»Er ist erst vierzehn, Dad! Du hast uns ausgebildet – versuch jetzt nicht, die Schuld auf ihn abzuwälzen.«

Eoin sah aus, als würde er gleich explodieren. Er sah seine Tochter wütend an, dann stand er ohne ein weiteres Wort auf und stapfte davon.

»Wo gehst du hin?«, rief sie ihm nach.

»Auf die Brücke«, rief er über die Schulter. »Wir müssen sofort von diesem Felsen verschwinden.«

»Scheiße.« Sie schaute auf den Bildschirm. Der zoomte gerade eine Luftaufnahme des Delf-Anwesens heran. Rings um das Haus und auf den Rasenflächen dahinter wimmelte es von Schlichtern, und am See hatte man eine Tragluftkuppel aufgestellt. Sie sprang auf und eilte hinter ihrem Vater her.

»Was soll ich …?«, begann Ethan.

»Alles bereit machen für die Schwerelosigkeit«, rief sie ihm zu. Sie waren schon seit Wochen auf Tyr – lange genug, um beim Sichern von losen Gegenständen nachlässig zu werden.

 

Dominic Dulley: „Shattermoon – Der zerbrochene Planet“∙ Roman ∙ Aus dem Englischen von Irene Holicki ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ∙ 592 Seiten ∙ Preis des E-Books € 9,99 (im Shop)

 

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