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„Inception“ meets „True Detective“

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Der New Yorker bezeichnete Thomas Carls Sweterlitschs Roman „Am Ende der Zeit“ (im Shop) als eine „… geniale Mischung aus Inception und True Detective“, und Bestsellerautor Blake Crouch pries ihn gar als „… einen der besten Romane der letzten Jahre.“ Allen Neugierigen stellen wir hier eine weitere Leseprobe des spektakulären Science-Fiction-Thrillers zur Verfügung.

 

ERSTER TEIL

1997

 

1

 

»Hallo?«

»Special Agent Shannon Moss?«

Die Stimme des Mannes war ihr fremd, nur die gedehnten Vokale erkannte sie. Er war hier in der Gegend aufgewachsen. In West Virginia oder Pennsylvania – auf dem Land.

»Am Apparat.«

»Es geht um einen Mordfall. Eine Familie.« Die Stimme bebte leicht. »Notruf beim Dienst von Washington County kurz nach Mitternacht. Ein Mädchen wird vermisst.«

Zwei Uhr morgens, die Nachricht wirkte wie ein Eisbad. Mit einem Schlag war sie hellwach. »Mit wem spreche ich?«

»Special Agent Philip Nestor, FBI.«

Sie schaltete die Nachttischlampe ein. Eine cremefarbene Tapete mit Ranken und kornblumenblauen Rosen bedeckte ihre Schlafzimmerwände. Ihr Blick folgte den Linien, als sie nachdachte. »Warum wenden Sie sich an mich?«

»Soviel ich weiß, hat unser Special Agent in Charge mit der Zentrale gesprochen und wurde von dort angewiesen, Sie einzuschalten «, antwortete Nestor. »Sie wollen Hilfe vom NCIS. Unser Hauptverdächtiger ist ein Navy-Soldat, ein SEAL.«

»Wo ist der Tatort?«

»In Canonsburg, die Straße heißt Cricketwood Court, in der Nähe vom Hunter’s Creek.«

»Hunting Creek.« Sie kannte den Bach und auch die Straße.

Ihre beste Freundin früher, Courtney Gimm, hatte am Cricketwood Court gelebt. Wie Eis, das durch die Wasseroberfläche bricht, tauchte Courtneys Gesicht aus Moss’ Gedächtnis nach oben. »Um wie viele Opfer handelt es sich?«

»Dreifachmord«, antwortete Nestor. »Ziemlich schlimm. Im ganzen Leben habe ich noch nie …« Er verstummte.

»Ganz langsam.«

»Ich habe mal Kinder gesehen, die vom Zug überrollt wurden, aber das ist kein Vergleich.«

»Verstehe. Die Meldung kam also um Mitternacht rein?«

»Kurz danach. Eine Nachbarin hat einen Tumult gehört und schließlich die Polizei gerufen …«

»Haben Sie jemanden hingeschickt, damit er mit ihr redet?«

»Einer von unseren Leuten ist gerade bei ihr.«

»Ich fahre gleich rüber«, versprach Moss. »Bin in einer guten Stunde da.«

Sie konzentrierte sich auf ihr Gleichgewicht, bevor sie sich erhob. Rechts hatte sie immer noch das sehnige, muskulöse Bein einer Athletin, doch das linke endete auf halber Schenkelhöhe in einem Stumpf, dessen Muskel- und Gewebeende umgeschlagen war wie bei einer gefalteten Pastete. Sie hatte das Bein vor mehreren Jahren verloren, nach ihrer Kreuzigung im tiefen Winter des Terminus. Die Navy-Chirurgen hatten den von Wundbrand befallenen Teil amputieren müssen. Schließlich stand sie wie ein langbeiniger Watvogel auf ihrem einen Fuß und balancierte auf Ballen und Zehen. Ihre Lofstrand-Krücken steckten wie immer in Reichweite in dem Spalt zwischen Bett und Nachttisch. Sie ließ die Unterarme durch die Manschetten gleiten und packte die Griffe, um sich einen Weg durch ihr Schlafzimmer zu bahnen, in dem wild verstreut Kleider und Zeitschriften, CDs und leere CD-Hüllen herumlagen – alles Rutschgefahren, vor denen ihr Ergotherapeut sie gewarnt hatte.

Cricketwood Court …

Bei dem Gedanken, dorthin zurückzukehren, überlief Moss ein Schauer. Sie und Courtney waren im ersten Jahr an der Highschool eng befreundet gewesen, enger als Schwestern, unzertrennlich. Moss’ Erinnerungen an Courtney waren eine Essenz schöner Kindheitssommer – endlose Tage am Pool, Achterbahnfahrten im Kennywood Park, geteilte Zigaretten am Chartiers Creek. Courtney war im zweiten Jahr gestorben, auf einem Parkplatz ermordet für ein paar Dollar in ihrer Handtasche.

Beim Anziehen Nachrichten am Schlafzimmerfernseher. Sie rieb sich den Stumpf mit schweißhemmendem Gel ein und rollte den Polyurethan-Liner bis zur Hüfte hinauf wie einen Nylonstrumpf. Sorgfältig glättete sie den gummiartigen Schlauch, damit sich an der Haut keine Luftblasen bildeten. Die Prothese war der Prototyp eines C-Legs von Ottobock – computergesteuert und ursprünglich für verletzte Soldaten konzipiert. Moss ließ den Schenkel in den Schaft gleiten und stand auf, damit sein Volumen die Luft aus der Carbonmanschette presste und für die Vakuumversiegelung sorgte. Mit dem C-Leg fühlte sie sich, als wäre ihr Skelett nackt: ein Stahlknochen statt einem Schienbein. Sie schlüpfte in ihre taillierte Wildlederjacke. Ein letzter Blick auf den Fernseher: die doppelte Dolly in ihrem strohbestreuten Pferch, Clinton, der das kürzlich unterzeichnete Klonverbot bei Menschen anpries, Werbung für NBA auf NBC, Jordan gegen Ewing.

 

Cricketwood Court war eine Sackgasse, und über den Reihenhäusern und Rasen flackerten Warnlichter. Viertel nach drei, inzwischen war den Nachbarn bestimmt klar, dass etwas passiert war, wenn sie auch noch nichts Genaueres wussten. Der Blick durch die Fenster zeigte ihnen eine Ansammlung von Einsatzfahrzeugen, Wagen vom Sheriff-Department, der örtlichen Polizei und Staatsbehörden, ein einziges Zuständigkeitswirrwarr, bis schließlich die Bundesbeamten eintrafen. Moss’ Fälle drehten sich meistens um Soldaten des Naval Space Command auf Urlaub aus den Tiefen, den Geheimmissionen in den Tiefenraum und die Tiefenzeit. Kneipenschlägereien, häusliche Gewalt, Drogenvergehen, Tötungsdelikte. Sie hatte an Fällen gearbeitet, in denen NSC-Soldaten durchgedreht waren und ihre Frauen oder Freundinnen totgeprügelt hatten – tragische Ereignisse als Folge der Begegnung mit den Schrecken des Terminus oder dem Licht fremder Sonnen. Sie fragte sich, was hier auf sie wartete. Das Auto des County-Rechtsmediziners parkte ganz in der Nähe. Krankenwagen und Feuerwehrfahrzeuge tuckerten im Leerlauf. Das mobile Kriminallabor des FBI hatte über den Absatz zurückgestoßen auf den Rasen vor dem Haus ihrer alten Freundin.

»O Gott.«

Das Bild, das Moss seit der Kindheit treu geblieben war, überlagerte das reale Gebäude von heute – zwei gleichzeitig ablaufende Filme, eine Erinnerung und ein Tatort. Courtneys Familie war längst weggezogen, und Moss hätte nie gedacht, dass sie jemals wieder einen Fuß in das Heim ihrer Jugendfreundin setzen würde, ganz zu schweigen von diesen Umständen. Ein zweistöckiges Eckhaus am Ende einer Zeile, deren Einheiten aufgereiht waren wie Spiegelbilder, jeweils mit einer Auffahrt, einer winzigen Garage, einem einzelnen Licht über dem Eingang, die identischen Fassaden aus Ziegel mit weißem PVC-Belag. Als Heranwachsende hatte Moss hier mehr Zeit verbracht als zu Hause – zumindest kam es ihr so vor. Sogar die Telefonnummer der Gimms von damals hatte sie noch im Kopf. Sie hatte das Gefühl, eine Realität würde in die andere einsickern, ölig wie Eigelb, das durch eine zerbrochene Schale rann. Sie nahm einen Schluck Kaffee aus ihrer Thermoskanne und rieb sich die Augen, als müsste sie aufwachen und sich zu der Erkenntnis zwingen, dass dieses Zusammentreffen real war und sie nicht träumte. Ein Zufall, sagte sie sich. Der Hartriegel, der hier früher im Garten geblüht hatte, war abgeholzt worden.

Moss bremste ihren Pick-up vor einer Sheriff-Absperrung, und ein Deputy näherte sich ihrem Fenster. Er hatte einen altersbedingten Bauch und ein Chaplin-Bärtchen, dessen komische Wirkung von der müden Schwere in seinen Augen unterlaufen wurde. Mit Handzeichen versuchte er, sie zum Umdrehen zu bewegen, bis sie ihr Fenster herunterließ und ihm ihren Ausweis zeigte.

»Was ist das?«, fragte er.

»Naval Criminal Investigative Service.« Sie war es gewohnt, die Initialen ihrer Behörde zu erklären. »Special Agent. Wir gehen einem möglichen Zusammenhang zur Navy nach. Wie schlimm ist es?«

»Mein Kumpel war vorhin drinnen, und er meint, so was Schreckliches ist ihm noch nie untergekommen. Einfach nur schrecklich.« Sein Atem roch nach schalem Kaffee. »Anscheinend ist nicht viel übrig von ihnen.«

»Sind die Reporter schon da?«

»Bis jetzt noch nicht. Es heißt, mehrere Nachrichtenwagen aus Pittsburgh sind unterwegs. Bestimmt haben sie keine Ahnung, was sie hier erwartet. Ansonsten ist alles ruhig. Kommen Sie durch.«

Ein Polizeiband, das sich von einem Laternenpfahl bis zum schmiedeeisernen Geländer vor dem Eingang erstreckte, sperrte den Rasen und die Einfahrt ab. Vor der Garage drängten sich ein paar Forensiker zu einer Zigarettenpause. Ganz ohne den beiläufigen Chauvinismus und das unverhohlene Starren, denen sie manchmal an Tatorten ausgesetzt war, beobachteten sie, wie Moss sich näherte. Die Augen der Männer wirkten beklommen und schielten in Moss’ Richtung, als hätten sie Mitleid mit ihr wegen des Anblicks, der sie erwartete.

Die Tür war mit einer Plastikplane verhängt, und sobald sie hindurchgeschlüpft war, brandeten die erstickenden Gerüche von Blut, Fäulnis und Scheiße heran, vermischt mit den chemischen Dämpfen der Präparate und Lösungen, die die Forensiker benutzten. Die Aromen drangen in sie ein, und vom metallischen Hauch des Bluts bekam ihr Speichel sofort einen kupferigen Geschmack, als hätte sie Geldmünzen gelutscht. Im Flur wuselten Kriminaltechniker in Schutzkleidung herum, die Spuren sammelten und fotografierten. In den Momenten vor dem ersten Blick auf einen Tatort stieg in Moss immer eine nervöse Vorahnung auf, die erst, wenn sie um die Ecke kam und sah, womit sie es zu tun hatte, von ihr abfiel und verdrängt wurde von dem schmerzhaften Bedürfnis, die zerbrochenen Teile so schnell wie möglich wieder zusammenzusetzen.

Auf dem Boden lagen ein Junge und eine Frau, die Gesichter verwischt zu einem Brei aus Gehirn, Blut und Knochenfetzen. Der Junge in einer Flanellhose und einem Pulli als Schlafanzug – zehn oder elf Jahre alt, schätzte Moss. Das Nachthemd der Frau war blutverschmiert, die nackten Beine stellenweise pflaumenblau verfärbt. Beide hatten ihren Darm entleert, und der Boden war so durchweicht, dass die Scheiße und das Blut in den ungleichmäßigen Rillen des Teppichbodens stand. Kurz musste sie von dem Geruch würgen. Der Jauchegestank und die Gestaltlosigkeit entwürdigten den Jungen und seine Mutter, raubten ihnen die Menschlichkeit.

Schon lange beherrschte Moss die dissoziative Technik, Leichen durch andere Linsen zu betrachten als Lebende und die Verstümmelungen der Opfer möglichst von ihrer früheren Persönlichkeit zu trennen. Den Kollegen um sie herum galt weiter ihr menschliches Mitgefühl, die Toten hingegen inspizierte sie durch die Brille der Forensik. Auch diesmal verdinglichte Moss die Leichen. Die Frau war durch einen von zwei Schlägen auf die linke Kopfseite getötet worden; einer hatte das Jochbein und der andere das Scheitelbein getroffen. Ihre linke Pupille hatte sich zu einer großen, schwarzen Scheibe erweitert. Moss bemerkte, dass der Junge keine Fingernägel mehr hatte – sie waren alle entfernt worden. Auch die Zehennägel, wie es aussah. Sie überprüfte die Frau und stellte fest, dass ihre Nägel ebenfalls fehlten. Jemand – zweifellos ein Mann – hatte diese Menschen getötet und sich dann in das Blut gekauert, um ihnen die Nägel auszureißen. Oder hatte er es getan, bevor er sie umbrachte? Und wozu überhaupt? Ein Techniker zog Fäden von den Blutspritzern an der Decke und den Wänden und stellte allmählich ein Netz her, das einen Konvergenzbereich umriss. Anscheinend hatten die Opfer im Moment des tödlichen Hiebs gekniet: eine Hinrichtung. Die Einrichtung des Zimmers, in dem sie gestorben waren, war nichtssagend, geschmacklos – nicht zu vergleichen mit Moss’ Erinnerung an den gemütlichen Gemeinschaftsraum, den die Familie ihrer besten Freundin hier gehabt hatte. Jetzt gab es hier hellbeige Töne und Schienenbeleuchtung. Nichts an den Wänden, keine Kunstwerke, keine Fotos. Der Raum wirkte nicht bewohnt, sondern wie vorbereitet für den Weiterverkauf.

»Shannon Moss?«

Einer der Männer in Schutzkleidung hatte seine Arbeit unterbrochen. Die Augen waren blutunterlaufen, fast rot, die dunkle Haut aschfahl. Zwei Schmierstreifen VapoRub unter den Nasenlöchern.

»Special Agent, NCIS«, antwortete sie.

Er durchquerte das Wohnzimmer auf Edelstahlstufen, die die Ermittler als Trittsteine über das Blut verwendeten. Er kaute auf einem Kaugummi. »William Brock, Special Agent in Charge. Wir müssen uns unterhalten.«

Brock führte sie durch die enge Küche, in der sich ein paar weitere Männer versammelt hatten. Sie hatten ihre Schutzkleidung abgelegt, ihre Hemden und Krawatten waren nach stundenlanger Arbeit zerknittert, die Gesichter bleich und übernächtigt. Brock hingegen schien unermüdlich, angriffslustig wie ein Bulle, darauf fixiert, den Mörder zur Strecke zu bringen. Mürrisch, fast wütend schritt er voran, als hätte ihn das Geschehen hier persönlich beleidigt.

Er war ziemlich groß, und sein Bariton übertönte die gedämpften Stimmen der anderen. »Hier entlang, in das kleine Arbeitszimmer.« Er schob die leichte Falttür zu einem Nebenraum auf.

Der Rest des Hauses war im Lauf der Jahre auf seelenlose Weise modernisiert worden, bloß das Arbeitszimmer war anscheinend seit Moss’ letztem Besuch hier unverändert geblieben. Das war beunruhigend, als wäre die Zeit ringsherum weiter verstrichen und nur hier an diesem Fleck stehen geblieben. Die Verkleidung aus Kunstholz, ein protziger Leuchtkörper, der alles in Bernstein tauchte. Sogar der Furnierschreibtisch und die Aktenschränke aus Metall waren ähnlich, wenn nicht sogar die von damals. In einem dieser Schränke hatte Courtney einmal ein Bündel Briefe entdeckt, die sich ihre Eltern während ihrer Scheidung geschrieben hatten. Die Mädchen hatten sich auf die Eingangsterrasse gesetzt und einander alles laut vorgelesen. Moss war verblüfft gewesen, wie kindisch ernst die Briefe eines erwachsenen Mannes an seine Frau klingen konnten, nicht anders als die Trennungsschreiben Jugendlicher an der Highschool. Nichts änderte sich. Das menschliche Herz alterte nicht.

»Gibt es Bilder der Opfer?«, fragte Moss. »Was Neues vielleicht? Man kann überhaupt nicht erkennen, wie sie ausgesehen haben.«

»Wir haben ein paar Alben«, antwortete Brock. »Fotomat-Belege und Negative. Damit können wir uns befassen, sobald die Sachen entwickelt sind. Waren Sie schon überall? Auch oben?«

»Nein, oben noch nicht.«

Brock zog die Falttür zu. »Ich muss mit Ihnen reden, ein paar Dinge klären.« Er setzte sich hinter den Furnierschreibtisch. »Der stellvertretende FBI-Direktor hat mich mitten in der Nacht angerufen und mich aus dem Bett gescheucht. Anrufe von ihm sind sonst eher selten. Er hat mir erklärt, dass es in Canonsburg einen Tatort gibt, den wir abriegeln müssen.«

»Aber das war noch nicht alles«, soufflierte Moss.

Brock bleckte die Zähne – offenbar war das als beruhigendes Lächeln gemeint, wirkte jedoch eher gequält. Er drückte seinen Kaugummi in ein Silberpapier und schob sich eine frische Stange zwischen die Zähne. Aus seinem Mund waberte ein Lakritzhauch. Moss bemerkte Zahnabdrücke an seinem Bleistift – vielleicht hatte er zu rauchen aufgehört oder versuchte es. Anfang oder Mitte vierzig, muskulös – bestimmt ging er regelmäßig ins Studio. Sie stellte ihn sich beim Boxen vor. Beim Herunterspulen der Kilometer auf dem Laufband in einem leeren Fitnessraum.

»Ich versuche zu begreifen, was mir der stellvertretende Direktor erzählt hat«, fuhr Brock schließlich fort. »Damit ich die Sache hier besser einordnen kann. Er hat mich über ein Geheimprogramm mit dem Namen Tiefen unterrichtet.« Brock sprach das Wort wie eine Beschwörung aus, und in seinen Augen flackerte ein Schatten von Angst auf. »Ein Navy-Programm – ein verdecktes Projekt. Er hat mir erklärt, dass unser Hauptverdächtiger Patrick Mursult mit diesem Programm in Verbindung steht. Er gehört zur Eliteeinheit SEALs und untersteht dem Befehl des Naval Space Command. Der Direktor hat mich gebeten, Shannon Moss in die Ermittlungen einzubinden.«

Vor wenigen Stunden hatte sich für diesen Mann plötzlich der Umfang der möglichen Welt erweitert. Moss entging nicht, dass er mit dem Unglaublichen rang. Er war in das Geheimnis der Tiefen eingeweiht worden – doch wie viel hatte man ihm anvertraut? Moss erinnerte sich noch gut an ihren ersten traumartigen Eindruck von den Schiffen der NSC-Raumflotte, die im Sonnenlicht blitzten wie verstreute Diamanten auf schwarzem Samt – ein erhabener Anblick, der nur den Wenigsten vergönnt war. Sie malte sich aus, wie Brock zu Hause den Anruf entgegennahm und auf der Bettkante sitzend zuhörte, als ihm sein Vorgesetzter von Dingen berichtete, die für ihn wie Wunder klingen mussten.

»Mursult war … eine Art Astronaut.« Brocks Kiefer bearbeitete den Lakritzkaugummi. »Tiefenraum – das verstehe ich. Mir ist klar, dass wir weiter in das Sonnensystem vorgedrungen sind, als man uns berichtet hat. Bloß das Wie begreife ich nicht. Quantenschaum …«

Offenbar hatte man ihm vom Tiefenraum erzählt, jedoch nicht von der Tiefenzeit. Das Naval Space Command hatte ein öffentliches Gesicht und unter Reagan am Krieg der Sterne mitgewirkt, neben der Air Force Space Division und der NASA mit einem eigenen Posten im Etat des Verteidigungsministeriums. Aber der größte Teil seiner Operationen bestand in streng gehüteten Geheimnissen. Moss war in den Tiefenraum und auch in die Tiefenzeit gereist, sie hatte verschiedene Versionen der Zukunft aufgesucht, nicht nur um den Terminus zu erforschen, sondern auch um ihre Kriminalermittlungen voranzutreiben. Eine derartige Zukunft hieß IFV – ausgesprochen wie »If« –, kurz für Irregulärer Futurverlauf. Irregulär, weil die Zukunft unstet war – die vom NSC bereisten Versionen waren nur Möglichkeiten, die aus den Bedingungen der Gegenwart herrührten. Sie durfte keine in einer solchen Zukunft gesammelten Beweise für eine Strafverfolgung in der Gegenwart verwenden, weil der von ihr erlebte Verlauf vielleicht niemals eintrat.

»Ich stehe Ihnen als Hilfe zur Verfügung«, sagte Moss. »Deshalb bin ich hier, deshalb hat man Sie aufgefordert, mich hinzuzuziehen. Meine Abteilung innerhalb des NCIS untersucht Verbrechen im Zusammenhang mit dem Programm Tiefen

»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.« Brock kaute angestrengt. »Von Patrick Mursult, von einem verdeckten Raumfahrtprogramm – das klingt alles so … Ich habe keine Ahnung, ob mein Verständnis weit genug reicht.«

»Konzentrieren wir uns auf die Vermisste. Sie ist unsere Priorität.«

Ihre Mahnung riss ihn aus seiner Unentschlossenheit, nun hatte er wieder das Gefühl, etwas ausrichten zu können. »Marian Mursult. Siebzehn …«

»Marian. Wir werden sie finden. Fangen wir mit den Ereignissen hier an.«

»Die Jungs von der örtlichen Polizei waren als Erste hier.« Brocks Verwirrung war wie weggeblasen. »Sie haben Patrick Mursault sofort als Verdächtigen ausgemacht – als Mörder seiner Familie. Sobald die Kollegen aus Canonsburg auf Unterlagen stießen, dass Mursult ein Marinesoldat war, haben sie die Navy verständigt. Dort wurde er identifiziert – hat in Vietnam gedient, muss damals noch ganz jung gewesen sein.«

»Was haben Sie sonst noch rausgefunden?«

»Ihr Vorgesetzter hat mir ein Fax über Mursult vom National Personnel Records Center in St. Louis weitergeleitet. Eine Darstellung in groben Zügen, geschwärzte Passagen. Ende der Siebziger ein Navy SEAL. Seit Anfang der Achtziger Dienst beim Naval Space Command als Petty Officer First Class. 1983 brechen die Aufzeichnungen über ihn ab. Anscheinend war der Typ nirgends angemeldet, alles lief unter dem Namen seiner Frau. Offiziell gilt er als vermisst.«

Ein Marinesoldat im Untergrund, dachte Moss. Ein vermisstes NSC-Mitglied. Ein in den Tiefen verschollener Soldat war eine Tragödie; wenn sich allerdings erwies, dass er absichtlich untergetaucht war, stellte er ein nationales Sicherheitsrisiko dar. »Wir müssen ihn so schnell wie möglich dingfest machen.«

»Können wir vielleicht Genaueres über den Mann erfahren?«, fragte Brock.

»Ich kann mich erkundigen, aber Sie dürfen nicht vergessen, dass der NCIS eine zivile Behörde ist. Auch wenn ich die Sicherheitsfreigabe der höchsten Stufe habe, bekomme ich Informationen über die Tiefen nur nach Bedarf, scheibchenweise. Wir müssen mit dem arbeiten, was uns die Navy sagt.«

Wieder spuckte Brock seinen Kaugummi in ein Papier und schnippte den Klumpen in den Papierkorb. »Gehen wir erst mal von dem aus, was wir wissen. Der Täter hat die Opfer geweckt und sie ins Wohnzimmer gebracht, bevor er sie angegriffen hat.«

»Womit?«

»Mit einer Axt.«

Sie stellte sich die Frau und den Jungen vor, kniend, das feuchte Platschen, das Herausreißen der Axt und den nächsten Schlag. Die Vernichtung einer Familie, so einfach wie Holzhacken.

»Gibt es Gründe, an Mursults Täterschaft zu zweifeln?«, fragte sie.

»Nein«, erwiderte Brock. »Allerdings hatte er vielleicht jemanden dabei. Die Nachbarin, die den Notruf abgesetzt hat, erwähnte einen Freund von ihm, einen Typen, der einen roten Pick-up mit einem Kennzeichen aus West Virginia fährt. Wir konzentrieren uns auf den Wagen, damit wir diese Person aufspüren. Sie hat ihn als Nervensäge beschrieben, er hat oft ihre Einfahrt zugeparkt. Der Pick-up ist voller Aufkleber. Am besten werfen wir mal einen Blick ins obere Stockwerk.«

Moss folgte Brock aus dem Arbeitszimmer. Er tauchte unter dem Absperrband durch und führte sie hoch. Diesen Weg hatte sie zahllose Male mit Courtney zurückgelegt, deren Zimmer das erste am Gang rechts war. Das gebogene Metallgeländer schien sich in ihrer Hand zu drehen, ein vertrautes Gefühl. Befangen stieg sie die Treppe hinauf, die motorisierten Bewegungen ihrer Prothese leicht ruckartig. Brock wartete auf der obersten Stufe und beobachtete Moss, fast als wäre er auf dem Sprung, ihr zu helfen, falls sie ins Straucheln geriet oder stürzte. Moss hatte diese peinlichen Momente satt, wenn die Leute zum ersten Mal bemerkten, dass sie mit einer Amputierten zusammenarbeiteten, und fieberhaft überlegten, wie sie sie behandeln sollten.

»Was ist hier oben passiert?«, erkundigte sie sich.

»Die siebenjährige Tochter Jessica ist beim ersten Angriff geflohen und hier reingerannt.«

Courtneys Zimmer. Brock legte die Hand auf den Türknauf. »Ich habe selbst zwei Töchter. Zwei wunderschöne Mädchen …«

Er öffnete die Tür und ließ Moss durch. Die Rückkehr in dieses Zimmer fühlte sich an, als würde sie sich in einen Kokon einrollen. Sie erinnerte sich, wie sie im Sommer der neunten Klasse die Wände hier in einer Farbe namens Bubblegum gestrichen hatten, wie die Walze vom Gitter schwappte und Courtney kreischte, wenn es von der Decke pink in ihre schwarzen Locken tropfte. Sie erinnerte sich, wie sie in der Gluthitze Zigarettenrauch durch das Fenstergitter geblasen hatten, mit Powerage von AC/DC auf dem Plattenteller, bis die LP völlig zerkratzt war und nicht mehr über die ersten Sekunden von »What’s Next to the Moon« hinauskam. Jetzt war der Raum lavendelfarben mit einer weißen Kommode und einem Stockbett – anscheinend hatten die zwei Töchter hier gewohnt. Statt Led Zeppelin und Van Halen hing Romeo und Julia von DiCaprio an der Wand, trotzdem fühlte es sich an wie früher. Jessica Mursults Leiche lag in der Ecke, wo früher Courtneys Bett gestanden hatte. Das Nachthemd des Mädchens war zerfetzt, und zwischen ihren Schulterblättern klaffte eine tiefe Wunde, deren Ränder nach oben ragten wie ein gähnender Mund.

Arme Kleine, arme Kleine …

»Alles in Ordnung?«, fragte Brock.

»Wo sind die Nägel?« Obwohl ihr Blick verschwamm, fiel ihr auf, dass auch das Mädchen keine Finger- und Zehennägel mehr hatte.

»Sie sind ganz blass. Möchten Sie sich setzen?«

»Mir geht’s gut …« Sie wankte, und Brock legte ihr stützend eine Hand in den Rücken. »Danke.« Sie fühlte sich immer noch unsicher. Dann wurde ihr heiß vor Verlegenheit. Reiß dich zusammen.»Ich … Keine Ahnung, was mit mir los ist. Entschuldigung.«

Brock lotste sie aus dem Zimmer hinaus auf den Gang. »Hören Sie.« Er zog die Tür zu. »So einen Anblick steckt niemand so leicht weg, schon gar nicht, wenn man es nicht gewohnt ist. Es ist in Ordnung, wenn Sie weiche Knie bekommen.«

»Ich muss Ihnen was gestehen. Das hier …« Sie zögerte. »Ich hab wirklich Schwierigkeiten heute, es ist unheimlich. Ich kenne das Haus.«

»Sprechen Sie weiter.«

»Ich bin in der Gegend aufgewachsen. Und als Kind habe ich

praktisch in diesem Haus gelebt. Meine beste Freundin hat hier gewohnt. Courtney. Sie hieß Courtney Gimm. Das war ihr Zimmer. Ich habe dort viel Zeit verbracht. Ihr Bett stand gleich da drüben.«

»Nicht zu fassen«, murmelte Brock.

»Das hat mich ein bisschen aus der Fassung gebracht, ansonsten geht’s mir gut. Als Nestor angerufen und gesagt hat, dass der Tatort am Cricketwood Court ist …« Sie lehnte sich an die Wand. Bei der Berührung hatte sie das Gefühl, als könnte sie die gegenwärtige Welt einfach abschälen, um dahinter ihre Freundin zu sehen und wieder bei ihr zu sein, als wäre seit damals keine Zeit vergangen, als bräuchte sie nur in das alte Zimmer treten, hinein in die versunkene Welt. Snap-Armbänder und Jelly-Schuhe, bunte Gummis in Courtneys Zahnspangen.

»Wir haben uns immer im Wald hinter den Häusern rumgetrieben «, fuhr sie fort, »und gemeinsam Zigaretten geraucht.« Sonnenbaden auf Gartenstühlen, dazu eine gemeinsame Dose High Life. Courtneys Dad arbeitete oft nachts, und ihre Mom lebte in Pittsburgh bei ihrem Freund, also hatten sie das ganze Haus für sich. An manchen Abenden rauchten sie Gras, wenn Courtney was besorgen konnte, doch meistens blieben sie einfach bloß zu lange auf und guckten fern – am nächsten Tag saßen sie mit rot geränderten Augen in der Schule. An manchen Abenden feierten sie mit anderen Mädchen aus dem Leichtathletikteam Partys. Oder mit Jungs aus der Nachbarschaft. Ein paarmal schleppten Courtney und Moss im Einkaufszentrum irgendwelche Jungs ab, dann wurde gekifft und getrunken und gefummelt, während Late Night With David Letterman lief, aber nicht allzu ernst: nur Schmusen, Petting und Handarbeit, und die Nächte endeten spät mit dem Geruch von Handseife und Sperma.

»Mein Gott, in dem Zimmer da hinten habe ich meine Unschuld verloren«, entfuhr es ihr. Courtneys Bruder Davy – sie hatte sein Gesicht noch immer vor sich, als wäre es gestern gewesen. Er im vierten, sie ihm zweiten Jahr an der Highschool, als er sie an den Haaren packte und küsste, als er ihr unters Shirt griff, seine Jeans aufknöpfte und ihre Hände auf sich zog. Das Gefühl, wie er in ihren Fingern hart wurde. Wie sein Gewicht sie niederdrückte und er in sie hineinstieß. »Entschuldigung, das hätte ich nicht sagen sollen.«

»Gehen wir an die frische Luft«, schlug Brock vor. »Schaffen Sie es die Treppe runter?«

»Sicher. Ich komme gleich nach.«

Die erste Nacht mit Davy Gimm hatte sie in dem kleinen Zimmer am Ende des Gangs verbracht, das eigentlich eher eine Abstellkammer war. Sie erinnerte sich an die Messer, die Davy auf dem Flohmarkt gekauft hatte, an ein Poster von Christie Brinkley aus Sports Illustrated. Das knarrende Bett, seine eifrigen Finger, die unter dem Gummiband ihrer Shorts forschten, sein feuchter Atem schwer an ihrem Hals. Später seine Geräusche beim Schlafen, das Wachliegen, während der Mondschein über das Badeanzug-Model kroch.

Moss wartete, bis sie Brocks Stimme von unten hörte, erst dann öffnete sie die Tür zu Davy Gimms altem Zimmer. Es war wie der Eintritt in einen Kosmos mit Sternenhaufen und Konstellationen, die aus der unendlichen Dunkelheit hervorbrachen. Sie schaltete das Licht ein – vielleicht erwartete ein Teil von ihr das Bikiniposter und die Messersammlung. Stattdessen fand sie das Zimmer eines kleinen Jungen, dessen Wände mit im Dunkeln leuchtenden Aufklebern bedeckt waren. Sie bedauerte ihre alberne Bemerkung gegenüber Brock und begriff, dass es besser gewesen wäre, einfach den Mund zu halten und nichts von ihrer Verbindung zu diesem Haus zu erwähnen. Unprofessionell, ein Moment der Schwäche. Sie sah den Raum als das, was er war: das Zimmer eines toten Kindes.

Kurz darauf stieß sie draußen zu Brock. Die Rasenflächen am Cricketwood Court waren vom Frost berührt, und an den Windschutzscheiben der geparkten Autos blühten Eisblumen. Im ersten Stock eines Nachbarhauses hatte jemand Licht gemacht.

»Wo war Marian während der ganzen Zeit?«, fragte sie. »Hat jemand sie gesehen?«

»Alle Nachbarn kennen sie, sie war nicht hier«, antwortete Brock. »Schon seit Freitag nicht mehr. Wir wecken gerade Freunde und Verwandte, um sie aufzuspüren.«

»Sie haben erwähnt, dass Mursult einen Freund mit einem roten Pick-up hat. Weiß hier wirklich niemand, wer das ist?«

»Nein. Die Nachbarn haben den Wagen nur bemerkt, weil er oft draußen an der Straße geparkt war. Mursult und sein Freund sind für sich geblieben.«

»Ich glaube, wir sollten die Amber-Meldung rausgeben«, erklärte Moss.

»Vielleicht taucht sie ja noch auf. Vielleicht ist sie bloß bei einer Freundin. Wir überprüfen alle Möglichkeiten.«

Das Amber-System war relativ neu, die Menschen waren noch nicht damit vertraut. Trotzdem war Moss davon überzeugt. »Das wird uns weiterhelfen. Womöglich hat jemand sie gesehen.«

Brock schaute auf das erleuchtete Ziffernblatt seiner Uhr. »Moss, Ihr Büro ist doch im CJIS, oder?« Er meinte das Gebäude der Criminal Justice Information Services, das Nervenzentrum des FBI. Eine neue Anlage, die wie ein kurioser Kristallklotz mitten ins Nirgendwo der Hügel außerhalb von Clarksburg, West Virginia, gepflanzt worden war. Eigentlich eine FBI-Einrichtung, doch weil die Navy und das Marine Corps in der Gegend keine Zweigstellen hatten, war dort auch Moss’ NCIS-Büro untergebracht. »Wohnen Sie in dieser Richtung? In der Nähe von Clarksburg?«

»Genau.«

»Meine Frau Rashonda arbeitet im CJIS, im Drucklabor. Vielleicht sind Sie ihr schon mal über den Weg gelaufen.«

»Sie sind der Mann von Rashonda Brock?« In dem Komplex gab es mehrere Tausend Büros, aber Rashonda Brock, die stellvertretende Leiterin der Laborabteilung, war bekannt. Moss’ Büro lag nahe bei der Kindertagesstätte der Einrichtung, daher wurde sie fast jeden Morgen Zeugin, wenn Rashonda ihre Töchter hinbrachte und sich unter vielen Umarmungen und Küssen von ihnen verabschiedete. Persönlich kannte sie sie allerdings nicht. »Ich glaube, ich habe schon Zeichnungen von Ihren Kinder gesehen. Brianna und Jasmine, nicht wahr? Ihre Namensschilder hängen gleich bei mir um die Ecke an einer Pinnwand. Violette Dinosaurier …«

»Barney.« Brock lächelte jetzt. »Alles ist Barney der Dinosaurier – Briannas Zimmer ist voll davon.«

Moss glaubte zu begreifen, wie Rashonda zu Brock passen könnte: eine mollige, große Frau, die immer strahlte und vielleicht warme Zufriedenheit empfand, wenn es ihr gelang, diesem ernsten Mann ein Lachen zu entlocken.

»Sie sind also aus der Gegend von Clarksburg hergefahren? Wie weit liegt das weg von hier? Eine Stunde, eineinhalb?« Er fischte eine Schlüsselkarte aus einem Umschlag in seiner Jacketttasche und hielt ihn Moss hin. »Wir haben in der Nähe mehrere Zimmer gebucht. Fahren Sie heute nicht mehr zurück. Morgen früh brauchen wir Sie wieder hier.«

»Gut, für die eine Nacht.« Sie sann über den Wandel in Brocks Auftreten nach. Seit er ihre Prothese bemerkt und seine Frau erwähnt hatte, wirkte er weicher.

»Die Tiefen.« Er richtete den Blick hinauf zum Himmel, obwohl durch die Wolkendecke keine Sterne zu erkennen waren. »Als Junge habe ich davon geträumt, Astronaut zu werden. Meine Großeltern haben mich mal zu einem Raketenstart in Cape Canaveral mitgenommen. Das war das Schönste, was ich je gesehen habe – bis zur Geburt meiner Töchter.«

Auch Moss hatte die durch die Dämmerung zuckenden Feuerblitze erlebt, wenn Raketen abhoben und im Äther verschwanden. »Es ist immer schön, jedes Mal.«

»Schlafen Sie ein bisschen«, sagte Brock. »Mein Team wird die Nacht durcharbeiten. Zwischenstandsbesprechung um neun für alle Beteiligten und danach die Pressekonferenz.«

 

Als sie den Wagen weg vom Cricketwood Court und vom Hunting Creek lenkte, spürte sie den Wunsch, dieses Haus hinter sich zu lassen, als Kribbeln an den Schultern und am Rückgrat. Das Hotel, das Brock gebucht hatte, war ein Best Western in Richtung Washington, Pennsylvania, doch bevor sie auf die Interstate 79 fuhr, machte sie eine Schleife durch den Parkplatz des Pizza Hut am Chartiers Creek. Hier war Courtney ermordet worden. Im November ihres zweiten Highschooljahrs.

Das Pizza Hut war wie immer, unverändert, seit Moss zum letzten Mal vorbeigekommen war, ein Backsteinbau mit Wellblechdach, dahinter zwei blaue Mülltonnen, beleuchtet von ihren Scheinwerfern. Zwischen diesen Tonnen hatte man Courtneys Leiche gefunden.

Moss überschlug die Stunden: fast dreiunddreißig, seit Marian Mursult zum letzten Mal gesehen worden war. Marian war siebzehn. Courtney war sechzehn gewesen, als sie starb. Moss fuhr zum Hotel, in Gedanken bei ihrer toten Freundin und dem vermissten Mädchen. Dann fielen ihr die fehlenden Finger- und Zehennägel wieder ein. Hatte Patrick Mursult wirklich seine Familie ausgelöscht? Wo war er jetzt?

Moss hatte eine Nottasche im Kofferraum – zwei Garnituren Kleider und ein Kulturbeutel –, damit sie jederzeit reisebereit war. Im Hotelzimmer zog sie sich aus und nahm die Prothese und den Liner ab – der stechende Schweißgeruch riss sie kurz aus ihrer Schläfrigkeit. Das Duschen ohne Haltegriffe war heikel. Sie wartete, dass das Wasser warm wurde, dann setzte sie sich einfach auf den Wannenrand, schwenkte das Bein hinein und ließ sich hinuntergleiten, bis sie auf der rutschfesten Matte saß. Heißes Wasser strömte über sie. Sie wusch sich die Haare und benutzte dafür das ganze Fläschchen Gratisshampoo, um den Gestank von Fäulnis und Blut loszuwerden. Ohne Krücken und Rollstuhl musste sie über den Teppichboden hüpfen, bevor sie in das frische Bett schlüpfen und sich in die Decke wickeln konnte. Mit den heruntergezogenen Jalousien war es unglaublich dunkel im Zimmer. Kalt. Sie drehte sich um zum Einschlafen, doch prompt sah sie Leichen von Frauen und Kindern, die sich zu großen blutigen Bögen und blühenden Blessuren streckten. Ekel und Hoffnungslosigkeit stiegen als beißendes Brennen in ihrer Kehle auf. Sie dachte an Marian – sie lebt noch, bitte, sie soll noch leben. Weil sie nicht wusste, wie Marian aussah, hatte sie auf einmal Courtney Gimm vor sich, und in ihrem Kopf überschlugen sich Bilder von Axtklingen, die durch Knochen fuhren, und mundartig klaffenden Wunden. Sie fühlte sich klamm, verheddert in der Decke, und wälzte sich auf der Matratze hin und her. Durch den Raum wehte der säuerliche Hauch ihres Prothesenstrumpfs heran. Schließlich setzte sie sich auf und tastete im Finstern nach der Fernbedienung. Die Lokalsender berichteten alle von der ganz in der Nähe von Canonsburg ermordeten Familie. Moss kniff die Augen zusammen, als das Fernsehbild heller wurde. Luftaufnahmen von den Dächern der Nachbarhäuser und ein Film von der Absperrung, der Deputy mit dem Chaplin-Bärtchen, der in der Nähe der Gitter die Hose hochzog.

Die Amber-Meldung wurde zum ersten Mal kurz vor fünf Uhr ausgestrahlt. Marian Mursult, siebzehn, aus Canonsburg, Pennsylvania. Das Bild zeigte sie sonnengebräunt und sommersprossig, mit abgeschnittenen Jeans und Trägerhemd, das glatte Haar kohlschwarz. Moss stockte der Atem, als ihr die Ähnlichkeit zwischen ihrer Freundin und der Vermissten bewusstwurde: die lässige Schönheit, das lange, dunkle Haar. Moss war geübt im Zeitreisen – im Erleben zukünftiger Ereignisse, die ihren Ausgang von der Terra firma der Gegenwart nahmen, doch dieses Déjà-vu war etwas völlig anderes, eher so, als hätte sie die Welt bei einer Wiederholung ertappt mit dem Haus und den Mädchen, als hätte sie verbotenerweise einen Blick in die Mechanik der zyklischen Zeit erhascht. Oder war diese Ähnlichkeit etwas noch Selteneres, etwas wie eine zweite Chance? Courtney hatte sie verloren, Marian konnte sie noch retten. Entspannt ließ sich Moss zurück ins Bett gleiten, getröstet von dem Wissen, dass nach Marian gesucht wurde, dass jemand sie vielleicht schon entdeckt hatte und wusste, wo sie war – in Sicherheit, in Sicherheit. Dennoch – als sie für wenige Stunden in den Schlaf sank, glaubte sie fast, den erkalteten Körper des Mädchens neben sich zu spüren.

Thomas Carl Sweterlitsch: „Am Ende der Zeit“∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Friedrich Mader ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ∙ 480 Seiten ∙ Preis des E-Books € 11,99 (im Shop)

 

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Die Existenz der Menschheit steht auf dem Spiel

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Endlich ist es soweit: Das größte Science-Fiction-Epos unserer Zeit steuert auf seinen atemberaubenden Höhepunkt zu. Nach „Die drei Sonnen“ (im Shop) und „Der dunkle Wald“ (im Shop) ist ab heute auch „Jenseits der Zeit“ (im Shop) der abschließende dritte Roman von Cixin Lius großer Trisolaris-Trilogie auf Deutsch erhältlich. Hier gibt es schon einmal einen ersten Vorgeschmack auf den neuen Band.

 

 

Jahr 1 der Krise

 

Yang Dong wollte sich retten, doch sie wusste, dass es wenig Hoffnung gab.

Sie stand auf dem Balkon im obersten Stockwerk des Kontrollzentrums und sah auf den bereits stillgelegten Teilchenbeschleuniger hinunter. Aus dieser Höhe konnte sie gerade so die ganze Anlage mit ihren zwanzig Kilometern Umfang überblicken. Die Röhre des Beschleunigers war nicht, wie sonst üblich, als Untergrundtunnel angelegt worden, sondern überirdisch in einer Pipeline aus Beton. Eben ging die Sonne hinter der ringförmigen Konstruktion unter. Der Anblick hatte etwas Endgültiges.

Ein Endpunkt ist erreicht. Welcher? Hoffentlich markiert er nicht mehr als das Ende der Physik.

Früher war für Yang Dong eines gewiss gewesen: Mochten das Leben und die Welt noch so hässlich sein, an ihren mikroskopischen und makroskopischen Ausläufern war alles harmonisch und perfekt. Das tägliche Leben war nur der Schaum auf dem Meer der Vollkommenheit. Doch nun offenbarte sich ihr das tägliche Leben als eine schöne Muschel, die furchtbar chaotische und hässliche Mikrowelten einschloss und von scheußlichen Makrowelten umgeben war.

Ich habe Angst.

Wenn sie nur aufhören könnte, sich über derlei Dinge den Kopf zu zerbrechen. Sie könnte ja auch etwas anderes machen als Physik. Sie könnte heiraten, Kinder bekommen und ein friedliches, zufriedenes Leben führen wie so viele andere Frauen. Allerdings wäre ein solches Leben für Yang Dong nur ein halbes Leben.

Und dann war da noch die Sache mit ihrer Mutter, Ye Wenjie. Rein zufällig hatte sie auf dem Computer ihrer Mutter auf mehreren Ebenen verschlüsselte Nachrichten entdeckt, was Yang Dongs erstauntes Interesse geweckt hatte.

Wie viele ältere Leute war ihre Mutter mit dem Internet und den Speichermechanismen ihres Computers nicht besonders vertraut. Daher hatte sie die Nachrichten einfach nur gelöscht, statt sie digital zu schreddern. Ihr war nicht bewusst, dass die Daten trotz der Neuformatierung der Festplatte leicht wieder abrufbar waren. Zum ersten Mal im Leben hinterging Yang Dong ihre Mutter und stellte die Dateien aus den gelöschten Nachrichten wieder her. Die Informationen waren so umfangreich, dass sie mehrere Tage brauchte, um sie zu lesen. In diesen Tagen erfuhr sie alles über Trisolaris und das Geheimnis, das Ye Wenjie und die Außerirdischen teilten.

Yang Dong war fassungslos. Die Mutter, auf die sie sich ihr ganzes Leben lang verlassen hatte, war plötzlich eine Fremde, mehr noch: ein Mensch, wie er nach ihrer Vorstellung auf der Welt gar nicht existieren konnte. Sie zur Rede zu stellen war undenkbar. Ausgeschlossen. Sobald sie sie danach fragte, würde ihre Mutter für immer zu einer Fremden werden, und die Frau, die sie großgezogen hatte, wäre unwiederbringlich verloren. Lieber der Mutter ihr Geheimnis lassen, so tun, als ob nichts geschehen wäre, und weiterleben wie bisher. Auch wenn es natürlich bloß noch ein halbes Leben sein würde.

Aber was war so schlecht daran, ein halbes Leben zu leben? Soweit sie es beurteilen konnte, taten das viele um sie herum. Solange man sich anzupassen wusste und Erinnerungen verdrängte, konnte man mit einem halben Leben ganz zufrieden, sogar glücklich sein.

Doch mit dem Ende der Physik und dem Geheimnis ihrer Mutter hatte Yang Dong gleich zwei halbe Leben verloren und damit zusammengenommen ein ganzes. Was blieb ihr jetzt noch?

Yang Dong lehnte sich über die Brüstung und starrte in den Abgrund unter ihr, verängstigt und verlockt zugleich. Als sie spürte, wie das Geländer unter ihrem Gewicht leicht nachgab, zuckte sie zusammen wie von einem elektrischen Schlag getroffen und kehrte verängstigt in die Computerhalle zurück.

Dort standen die Terminals für den gigantischen Hauptrechner, der die vom Teilchenbeschleuniger erzeugten Daten auswertete. Vor ein paar Tagen waren sämtliche Terminals heruntergefahren worden. Jetzt waren ein paar wenige eingeschaltet, was Yang Dong als tröstlich empfand, selbst wenn es eindeutig nichts mehr mit dem Teilchenbeschleuniger zu tun hatte. Der gigantische Rechner wurde jetzt für andere Projekte verwendet.

Nur noch ein weiterer Mensch befand sich im Raum, ein junger Mann, der eine Brille mit einem auffälligen, leuchtend grünen Gestell trug. Yang Dong erklärte ihm, dass sie nur ein paar persönliche Gegenstände abholen wolle. Doch als sie ihren Namen nannte, erhob sich Grünbrille aufgeregt von seinem Platz und begann, ihr das aktuelle Projekt am Großrechner zu erläutern.

Es ging um ein mathematisches Modell der Erde, mit dem die Entwicklungsgeschichte der Planetenoberfläche von der Vergangenheit bis in die Zukunft simuliert werden sollte. Anders als bei vergleichbaren Studien zuvor wurden in diesem Modell die Daten biologischer, geologischer, astronomischer, atmosphärischer und ozeanischer Elemente miteinander kombiniert. Grünbrille lenkte ihre Aufmerksamkeit auf ein paar großformatige Bildschirme, auf denen anstelle der üblichen langen Zahlenreihen und Kurvendiagramme grellbunte Bilder zu sehen waren, bei denen es sich offenbar um Satellitenaufnahmen der Ozeane und Kontinente handelte. Der junge Mann vergrößerte die Bilder so lange per Mausklick, bis sie Flüsse und Wälder erkennen konnte. Yang Dong war, als wehte ein Hauch von Natur durch diesen Ort, der bisher von abstrakten Zahlen und Theorien dominiert worden war. Sie fühlte sich wie befreit.

Als Grünbrille seinen Vortrag beendet hatte, holte sie ihre Sachen, verabschiedete sich höflich und wandte sich zum Gehen. Sie spürte seine Blicke im Rücken, doch das war sie von Männern gewohnt, und es störte sie nicht. Stattdessen erschienen ihr diese Blicke wie angenehm wärmende Sonnenstrahlen im Winter.

Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, mit jemandem zu reden, und so blieb sie stehen und drehte sich zu Grünbrille um. »Glauben Sie an Gott?«

Ihre eigene Frage überraschte sie, aber vor dem Hintergrund der Bilder, die sie eben betrachtet hatten, kam sie ihr nicht unangemessen vor.

Grünbrille war nicht minder verdutzt. Mit offenem Mund starrte er sie an, und es dauerte einen Moment, bis er vorsichtig nachhakte: »An was für eine Art Gott denken Sie dabei?«

»Na, eben Gott.« Schon fühlte sie sich wieder erschöpft. Sie hatte keine Lust, etwas zu erklären.

»Nein.«

Yang Dong deutete auf die großen Monitore. »Aber die physikalischen Parameter, die menschliches Leben ermöglichen, sind extrem unbarmherzig. Nehmen Sie zum Beispiel Wasser, das sich nur in einem sehr kleinen Temperaturbereich verflüssigt. Oder das Universum insgesamt: Wäre der Urknall nur an einer klitzekleinen Stelle anders verlaufen, gäbe es keine schweren Elemente und damit kein Leben. Ist das kein Beweis für Intelligent Design

Grünbrille schüttelte den Kopf. »Mit dem Urknall kenne ich mich nicht gut genug aus, doch was die Erdatmosphäre betrifft, muss ich widersprechen. Die Erde hat das Leben hervorgebracht, aber das Leben hat auch die Erde verändert. Unsere gegenwärtigen Umweltbedingungen sind das Ergebnis dieser Interaktion.« Er griff zur Maus und öffnete eine Datei. »Wie wär’s mit einer Simulation?«

Auf dem Monitor erschien eine Konfigurationsschnittstelle, ein Fenster voller Zahlenkolonnen, bei deren Anblick einem schwindlig werden konnte. Er klickte in die obere Ecke, und die Ziffern verschwanden. »Sehen wir uns jetzt mal an, wie sich die Erde entwickelt hätte, wenn ich den Faktor ›Leben‹ deaktiviere. Ich reduziere die Pixel in der Darstellung, damit wir nicht zu viel Zeit mit ihrer Berechnung verlieren.«

Yang Dong warf einen Blick auf den Großrechner, der jetzt mit voller Kapazität lief, ein unglaublicher Energiefresser, der so viel Strom verbrauchte wie eine Kleinstadt. Doch sie sagte Grünbrille nicht, er solle aufhören.

Vor ihren Augen entstand ein neuer Planet. Seine Oberfläche war noch rot glühend wie ein Stück Kohle, das man gerade aus dem Feuer geholt hatte. Die Zeit verstrich in geologischen Epochen, und die heiße Kugel kühlte allmählich ab. Das zeitlupenartige Wechselspiel der Farben und Linien auf ihrer Oberfläche wirkte hypnotisierend. Wenige Minuten später zeigte der Monitor einen orangefarbenen Planeten. Die Simulation war abgeschlossen.

»Die Berechnungen sind sehr grob. Für präzisere bräuchten

wir mehr als einen Monat.« Grünbrille vergrößerte die Planetenoberfläche und fuhr mit dem Cursor über die Darstellung. Ausgedehnte Wüstenflächen, eine Gruppe hoher Berge mit seltsamen Formen, eine runde Aushöhlung wie ein Krater.

»Was ist das?«, fragte Yang Dong.

»Die Erde. So würde ihre Oberfläche heute aussehen, wenn es kein Leben gäbe.«

»Aber … wo sind die Meere?«

»Es gibt keine Meere. Auch keine Flüsse. Die gesamte Erdoberfläche ist trocken.«

»Wollen Sie damit sagen, dass es ohne Leben auf der Erde kein Wasser geben würde?«

»Vermutlich wäre die Wirklichkeit noch schlimmer. Das ist, wie gesagt, nur eine grobe Simulation. Aber zumindest zeigt sie, wie viel Einfluss das Leben auf den gegenwärtigen Zustand der Erde hat.«

»Aber …«

»Glauben Sie etwa, das Leben wäre nur eine dünne, weiche und zerbrechliche Schicht auf der Erdoberfläche?«

»Stimmt das denn nicht?«

»Nur, wenn Sie den Zeitfaktor außer Acht lassen. Stellen Sie sich eine Ameisenkolonne vor, die ununterbrochen reiskorngroße Stücke des Tai Shan abtransportiert. Binnen einer Milliarde Jahre würde sie den Berg vollständig abtragen. Solange man dem Leben genügend Zeit lässt, ist es stärker als Stein und Metall und mächtiger als Taifune und Vulkane.«

»Aber die Entstehung von Bergen hängt von geologischen Kräften ab!«

»Nicht unbedingt. Das Leben mag vielleicht nicht in der Lage sein, Berge entstehen zu lassen, aber es kann die Verteilung von Gebirgen verändern. Wenn wir zum Beispiel drei Berge haben, von denen nur zwei mit Vegetation bedeckt sind, dann würde sich der ohne Vegetation durch die Bodenerosion bald verflachen. Mit ›bald‹ meine ich im Verlauf von ein paar Millionen Jahren, was geologisch gesehen nur ein Wimpernschlag ist.«

»Wie sind dann die Meere verschwunden?«

»Dazu müssten wir uns die Aufzeichnungen der Simulation ansehen, das wäre ziemlich aufwendig. Wir können aber davon ausgehen, dass Pflanzen, Tiere und Bakterien eine wichtige Rolle für den gegenwärtigen Zustand unserer Atmosphäre spielen. Ohne Leben wäre sie vollkommen anders und möglicherweise nicht in der Lage, die Erdoberfläche gegen Solarwinde und UV-Strahlen zu schützen. Ergo würden die Ozeane verdunsten, und schon bald sähe es auf der Erde aus wie auf der Venus. Der Wasserdampf würde im Laufe der Zeit ins Universum entweichen. Nach wenigen Milliarden Jahren wäre die Erde staubtrocken.«

Yang Dong starrte schweigend auf die Darstellung der ausgetrockneten orangefarbenen Kugel.

»Daher ist die Erde, auf der wir im Moment leben, eine Heimat, die sich das Leben selbst geschaffen hat. Mit einem Gott hat das nichts zu tun.« Offenbar sehr zufrieden mit seiner Rede machte Grünbrille eine Geste, als wollte er den Monitor umarmen.

Eigentlich war Yang Dong gerade nicht in der Stimmung für derartige Gespräche, doch als Grünbrille bei der Konfiguration das Leben deaktiviert hatte, war ihr plötzlich etwas eingefallen. Und so stellte sie die nächste furchterregende Frage: »Wie sieht es mit dem Universum aus?«

»Dem Universum?«

»Wenn wir ein ähnliches mathematisches Simulationsmodell für das gesamte Universum erstellen und den Faktor Leben aus der Konfiguration herausnehmen würden, wie sähe dann am Ende das Universum aus?«

Grünbrille überlegte kurz. »Es würde genauso aussehen. Als ich eben vom Einfluss des Lebens auf die Umwelt sprach, habe ich mich ausschließlich auf die Erde bezogen. Insgesamt gibt es jedoch so wenig Leben, dass es so gut wie keinen Einfluss auf die Entwicklung des Universums hat.«

Yang Dong wollte etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders. Stattdessen rang sie sich ein anerkennendes Lächeln ab und verabschiedete sich ein zweites Mal. Draußen vor dem Gebäude hob sie den Kopf und blickte in den Sternenhimmel.

Aus den geheimen Dokumenten ihrer Mutter wusste sie, dass das Leben gar nicht so selten war. Genau genommen schien das Universum sogar ziemlich überfüllt zu sein.

Wie sehr ist es seit seinem Anbeginn also vom Leben verändert worden?

Die Frage ließ Yang Dong erschaudern.

Nun gab es kein Halten mehr. Sie bemühte sich zwar, nicht mehr weiter nachzudenken und ihren Geist in ein schwarzes Nichts aufzulösen, doch in ihrem Bewusstsein war bereits eine neue Frage aufgetaucht, die sich nicht mehr vertreiben ließ:

Was, wenn die Natur gar nicht natürlichen Ursprungs ist?

 

Cixin Liu: „Jenseits der Zeit“∙ Roman ∙ Aus dem Chinesischen von Karin Betz ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ∙ 992 Seiten ∙ Preis des E-Books € 13,99 (im Shop)

 

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Wenn der Toaster streikt

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Wir alle benutzen unsere Haushaltsgeräte jeden Tag, ohne darüber nachzudenken. Doch was, wenn die großen Konzerne, die diese Geräte herstellen, uns auf einmal diktieren können, welches Brot wir zu essen und welche Apps wir auf unserem Smarthone herunterzuladen haben? Genau diese Fragen hat sich Cory Doctorow in seiner Novelle „Wie man einen Toaster überlistet“ (im Shop) zum Thema gemacht. Letzte Woche hatten wir Ihnen das Buch schon ausführlich vorgestellt, und für alle Neugierigen gibt es hier eine erste Leseprobe.

 

So fand Salima heraus, dass Boulangism pleite war: Ihr Toaster akzeptierte das Brot nicht mehr. Sie hielt die Scheibe davor und wartete darauf, dass ihr der Bildschirm das Emoji mit dem Daumen nach oben zeigte, doch stattdessen erschien das Symbol, das sich am Kopf kratzte. Gleichzeitig war ein leises Brrt zu hören. Noch einmal wedelte sie mit der Scheibe Brot. Brrt.

»Nun mach schon.« Brrt. Sie schaltete den Toaster aus und wieder ein. Dann zog sie den Stecker, zählte bis zehn und schloss das Gerät erneut an. Schließlich arbeitete sie sich durch die Menüs, bis sie den Punkt »Auf Werkseinstellungen zurücksetzen« gefunden hatte. Sie wartete drei Minuten und gab das WLAN-Passwort neu ein.

Brrt.

Schon lange bevor sie diese Phase erreichte, wuchs die Gewissheit, dass es vergebliche Liebesmüh war. Aber so machte man es eben, wenn ein elektronischer Apparat nicht mehr funktionierte, damit man anschließend die 800er-Nummer anrufen und sagen konnte: »Ich habe das Gerät aus- und wieder eingeschaltet, ich habe den Stecker gezogen und alles auf die Werkseinstellungen zurückgesetzt …«

Der Touchscreen des Toasters riet ihr, den Support zu kontaktieren, aber der entsprechende Menüpunkt funktionierte nicht. Deshalb suchte sie die Nummer am Kühlschrankdisplay heraus und wählte. Es läutete siebzehnmal, dann wurde die Verbindung getrennt. Sie seufzte schwer. Schon wieder ein Gerät im Eimer.

Der Toaster war nicht das erste Küchengerät,das den Geist aufgegeben hatte – diese Ehre gebührtedem Geschirrspüler, der eine Woche vorher,als Disher insolvent geworden war, aufgehörthatte, das Geschirr von Drittherstellern zu akzeptieren.Aber das hier brachte das Fass zum Überlaufen.Abwaschen konnte sie zur Not von Hand,aber wie zum Teufel sollte sie sich jetzt einen Toastzubereiten? Über einer Kerze vielleicht?

Um ganz sicherzugehen, fragte sie den Kühlschranknach Schlagzeilen über Boulangism, unddann kam es. Buchstäblich über Nacht war dieBlase geplatzt. In den sozialen Netzwerken meldetensich unzählige wütende Betroffene wegenihres Frühstückstoasts. Sie tippte auf eine Schlagzeileund erfuhr, dass Boulangism schon seit mindestenssechs Monaten als Geisterschiff galt. Solange versuchten die Sicherheitsforscher bereits,die Firma zu erreichen und den Verantwortlichenzu erklären, dass alle Nutzerdaten – Passwörter,Log-ins, Bestell- und Rechnungsdaten – ohne jeglicheSicherung oder Verschlüsselung im Internetfrei zugänglich waren. In der Datenbank fandensich sogar Lösegeldforderungen – von den Hackerneingefügte Datensätze, in denen sie Zahlungen inKryptowährung verlangten, wenn sie das schmutzigeGeheimnis, wie schlampig Boulangism mit denDaten umging, für sich behalten sollten. Die Firmawar praktisch abgetaucht.

Im Laufe des letzten Jahres war der Aktienkursvon Boulangism um achtundneunzig Prozent gefallen.Vielleicht existierte das Unternehmen überhauptnicht mehr. Unter dem Firmennamen hattesich Salima immer die französische Bäckerei vorgestellt,die auf dem Bildschirmschoner des Toasterszu sehen war. Überall Mehlstaub, klobige Holztischemit dicht an dicht liegenden knusprigen Brotlaiben.Sie hatte an eine knarrende Treppe gedacht, die vonder Bäckerei nach oben zu den beengten Bürosführte, aus denen man das Kopfsteinpflaster derStraße sah. Und die Gaslaternen.

Der Artikel enthielt eine Straßenansicht desHauptsitzes von Boulangism. Es war ein vierstöckigesBürogebäude in Pune in der Nähe von Mumbai,hinter einer Mauer gelegen und mit einem unbesetztenWachhäuschen am Eingang.

Die Boulangism-Blase war geplatzt, und das bedeutete,dass niemand mehr antwortete, wenn SalimasToaster sich erkundigte, ob das Brot, das dieBesitzerin rösten wollte, von einem autorisiertenBoulangism-Bäcker stammte, was in diesem Fallsogar zutraf. Da keine Antwort kam, ging der paranoidekleine Apparat davon aus, dass Salima zuden ruchlosen Betrügern zählte, die einen Boulangism-Toaster mit Preisnachlass gekauft hattenund dann ihren Teil der Abmachung nicht einhieltenund unautorisiertes Brot hineinschoben. DieKonsequenzen dieser Tat reichten von schlechtenToastergebnissen bis zu einem Brand in der Küche.Boulangism war fähig, den Toastvorgang in Echtzeitanzupassen und dabei die Luftfeuchtigkeitin der Küche oder das Alter des Brots zu berücksichtigen.Natürlich weigerte sich das Gerät zumWohl der Benutzer, Brot zu toasten, das über dieMaßen altbacken war; von der Gewinneinbußefür die Firma und die Anteilseigner mal ganz zuschweigen. Ohne Profit gab es keine überschüssigenMittel, die man in Forschung und Entwicklungstecken konnte, um unablässig Verbesserungenzu ersinnen. Kaum ein Tag verging, an demSalima und Millionen andere Boulangism-Berechtigte(sie waren keineswegs einfach nur »Kunden«)aufwachten, ohne eine aufregende neue Firmwarefür die geliebten Toaster zu bekommen.

Und die Bäckereipartner von Boulangism? Siehatten das Richtige getan, indem sie eine Boulangism-Lizenz beantragt und ihre Herstellungsprozesseden Inspektionen und der Qualitätssicherungunterworfen hatten, die dafür sorgten, dassihr Brot genau die nötige Zusammensetzung hatte,damit es in den Präzisionsgeräten von Boulangismperfekt getoastet werden konnte. Röstung undSaugfähigkeit waren exakt ausgewogen, damit dasBrot die Butter und andere Aufstriche aufnehmenkonnte. Die geschätzten Partnerunternehmen hattenes verdient, dass ihr Streben nach höchster Qualitäthonoriert wurde. Das alles durfte nicht durchSchnäppchenjäger und Spitzbuben gefährdet werden,die niederträchtigerweise irgendein hergelaufenesaltes Brot toasten wollten.

Salima kannte diese Argumente. Es wäre nichtnötig gewesen, dass ihr dummer Toaster nach dreierfolglosen Brotautorisierungsversuchen auch nochein Video abspielte, um ihr das alles darzulegen.Es gab keinen Pausenknopf und keine Stummschaltung– anscheinend eine Kombination aus Strafeund Umerziehungsmaßnahme.

Am Kühlschrank suchte sie nach »BoulangismHacks« und »Boulangism Entsperrcodes«, dochdie Geräte hielten zusammen. Die Netzwerkfiltervon KitchenAid fingen ihre Suchanfragen ab undbehaupteten höhnisch, es gäbe »keine Ergebnisse«,obwohl Salima ganz genau wusste, dass sich eineganze Untergrundökonomie mit unautorisiertemBrot befasste.

In einer halben Stunde musste sie zur Arbeit,und sie hatte noch nicht einmal geduscht, aberverdammt, erst der Geschirrspüler und jetzt derToaster. Sie holte den Laptop, den sie gebrauchtgekauft hatte und der inzwischen kaum noch funktionierte.Der Akku war längst kaputt, und siemusste die Zahnbürste abklemmen, um an ein freiesLadekabel zu kommen. Nachdem sie gebootet unddas Gerät ein Dutzend Softwareupdates geladenhatte, konnte sie endlich den Darknetbrowser starten,den sie dort installiert hatte, und sich gründlichumsehen.

An diesem Tag kam sie fünfundvierzig Minutenzu spät zur Arbeit, aber zum Frühstück hatte esToast gegeben. Verdammt auch.

 

Cory Doctorow: „Wie man einen Toaster überlistet“∙ Novelle ∙ Aus dem Amerikanischen von Jürgen Langowski ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ∙ 176 Seiten ∙ Preis des E-Books € 9,99 (im Shop)

 

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Mission „Rettet die Erde“

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Seit knapp zwei Wochen ist Cixin Lius „Jenseits der Zeit“ (im Shop) auf Deutsch erhältlich. Der atemberaubende Abschlussband der Trisolaris-Trilogie, der prompt Platz 2 der SPIEGEL-Bestsellerliste eroberte, nimmt den Leser direkt mit in den jahrhunderteumspannenden Konflikt zwischen den Menschen und den Trisolariern, deren Flotte sich unaufhaltsam der Erde nähert. Doch wie verteidigt man sich gegen einen Feind dessen Ankunft noch Hunderte von Jahren in der Zukunft liegt? Die kluge Raumfahrtingenieurin Cheng Xin hat einen Plan …

 

Jahr 1–4 der Krise

 

Cheng Xin

 

Der Beginn der Trisolaris-Krise fiel mit Cheng Xins Studienabschluss zusammen. Sie wurde in die Projektgruppe für die Entwicklung neuartiger Antriebsformen für Langstreckenraketen aufgenommen. Alles in allem war es ein beneidenswerter Job: zukunftsträchtig und profiliert. Aber Cheng Xins Enthusiasmus für ihr Fach hielt sich inzwischen in Grenzen. Chemisch angetriebene Raketen waren für sie wie die rauchenden Schlote aus dem Kindesalter der Industrialisierung. Dichter hatten sie damals in ihren Werken gepriesen, als Symbole des Fortschritts. Die gleiche Bewunderung galt heute Raketen, den Symbolen des Weltraumzeitalters. Doch verließe sich die Menschheit auf den chemischen Raketenantrieb, würde sie wohl niemals das Weltraumzeitalter erleben.

Die Trisolaris-Krise verdeutlichte das schmerzlich. Das Sonnensystem mithilfe von chemisch angetriebenen Raketen verteidigen zu wollen war Wahnsinn. Cheng Xin hatte sich vorausschauend alle Türen offen gehalten, indem sie zusätzliche Kurse zum Thema Fusionsantrieb belegte. Mit der Krise wurde die Raumforschung in allen Bereichen hochgefahren, selbst die Pläne für Raumflugzeuge wurden wiederbelebt und weiterverfolgt. Ihre Forschungsgruppe war unter anderem damit betraut, den Prototyp für den Motor eines solchen Raumflugzeugs zu entwickeln. In professioneller Hinsicht hatte Cheng Xin die besten Zukunftsaussichten. Sie war eine anerkannte Expertin, und nicht wenige derjenigen, die es in ihrem Bereich zu etwas brachten, hatten mit der Entwicklung von Antrieben begonnen. Da sie nun aber alles andere als überzeugt von chemischen Raketenantrieben war, sah sie ihre Karrierechancen auf lange Sicht als weniger rosig an. Es gab nichts Schlimmeres, als bei Forschung und Entwicklung auf das falsche Pferd zu setzen. Dann konnte man es gleich bleiben lassen. Und dennoch verlangte die Stelle Cheng Xin vollen Einsatz und Enthusiasmus ab, was ihr immer mehr zu schaffen machte.

Dann ergab sich die Möglichkeit, diesen Forschungsbereich zu verlassen. Die Vereinten Nationen hatten innerhalb kurzer Zeit eine ganze Reihe neuer Organe im Bereich der Planetenverteidigung geschaffen. Anders als die anderen Organe der UNO berichteten sie direkt an den Planetenverteidigungsrat PDC und hatten die Vorgabe, Experten aus der ganzen Welt zu rekrutieren. Nicht wenige der Raumfahrtingenieure, die dort landeten, kamen aus China. Auch Cheng Xin erhielt ein Angebot von höchster Stelle: den Posten als Assistentin des Direktors des technischen Planungszentrums des Strategische Geheimdiensts PIA des PDC. Bislang hatte sich die Arbeit des Geheimdiensts bezüglich Trisolaris auf die Bekämpfung der Erde-Trisolaris-Organisation ETO konzentriert. Doch der neue Strategische Geheimdienst des PDC würde unter dem Namen Planetary Intelligence Agency (PIA) seine Einsätze ganz auf die Trisolaris-Flotte und den Planeten Trisolaris ausrichten. Sie brauchten dringend Personal mit hervorragenden Kenntnissen in der Raumfahrttechnik.

Cheng Xin sagte sofort zu.

 

Das Hauptquartier der PIA lag in einem alten sechsstöckigen Gebäude unweit des UN-Hauptquartiers. Das Haus stammte aus dem späten achtzehnten Jahrhundert, und seine robuste Architektur ließ es wie einen soliden Granitblock wirken. Als sie es nach ihrem langen Transpazifikflug zum ersten Mal betrat, spürte sie darin eine Kälte wie im Inneren einer Festung. Dieser Ort entsprach so gar nicht ihrer Vorstellung von einem weltumspannenden Geheimdienst, er kam ihr eher vor wie ein byzantinischer Palast, in dem aus einem Flüstern Verschwörungen geboren werden konnten.

Das Gebäude war weitgehend leer. Sie gehörten zu den Ersten, die sich zur Stelle meldeten. In einem noch nicht einmal vollständig möblierten Büro voller unausgepackter Kartons wurde sie ihrem künftigen Vorgesetzten vorgestellt, dem Direktor des technischen Planungszentrums der PIA. Michail Wadimowitsch war ein Mann in den Vierzigern, hochgewachsen und durchtrainiert. Er hatte einen so starken russischen Akzent, dass Cheng Xin erst nach ein paar Sätzen klar wurde, dass er Englisch mit ihr sprach. Er hockte auf einem der Pappkartons und beklagte, dass er schon über ein Jahrzehnt für die Raumfahrtindustrie arbeite und nun wirklich keine technische Assistentin brauche. Jedes Land wolle sichergehen, seine eigenen Leute in der PIA unterzubringen, aber Kröten wolle natürlich niemand rausrücken, schimpfte er. Dann fiel ihm ein, dass er gerade mit einer aufstrebenden jungen Wissenschaftlerin sprach, die er vielleicht besser nicht gleich verschrecken sollte. Versöhnlich fügte er hinzu: »Falls unser Geheimdienst Geschichte schreiben sollte – was er wahrscheinlich wird, wenn vielleicht auch keine gute –, werden wir beide die Ersten sein, die dabei gewesen sind!«

Cheng Xin verzieh ihm seine Unhöflichkeit und freute sich, dass auch ihr Chef aus der Raumfahrttechnik kam. Sie fragte ihn, woran er gearbeitet habe. Flüchtig erwähnte er eine Mitarbeit am Design der Buran-1.01-Raumfähre im vergangenen Jahrhundert, und dann sei er auch noch Chefkonstrukteur eines gewissen Raumfrachters gewesen. Was er über weitere Projekte erzählte, klang noch vager. Er habe anschließend zwei Jahre im diplomatischen Dienst verbracht und dann »irgendein Amt« innegehabt, in dem er »in etwa das Gleiche wie hier« gemacht habe.

»Ich halte es für keine gute Idee, Ihre zukünftigen Kollegen nach ihrem bisherigen Lebenslauf zu fragen«, riet er ihr. »Unser aller Boss ist übrigens auch da, im Stockwerk über uns. Sie sollten hinaufgehen und Hallo sagen, aber beanspruchen Sie seine Zeit nicht zu sehr.«

Im großzügigen Büro des Direktors der PIA empfing sie ein starker Geruch nach Zigarrenrauch. An der Wand hing ein großformatiges Gemälde, das einen wolkenverhangenen Himmel über einer kargen Schneelandschaft darstellte, am Horizont waren dunkle Umrisse zu erkennen, die sich bei näherem Hinsehen als heruntergekommene, zwei- bis dreistöckige Gebäude in europäischem Stil entpuppten. Der Form des Flusses im Vordergrund und anderen geografischen Hinweisen nach zu urteilen, musste es sich um New York City zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts handeln. Das Gemälde wirkte kalt und abweisend, aber Cheng Xin hatte sofort das Gefühl, dass es ziemlich gut zu dem Mann passte, über dem es hing.

Daneben gab es noch ein kleineres Bild. Es zeigte ein antikes Schwert mit einem goldenen Kreuz als Wappen und einer hellen, glänzenden Klinge, gehalten von einer Hand in einem bronzenen Fechthandschuh. Der Träger des Schwerts, von dem nur der Unterarm zu sehen war, lüpfte mithilfe der Klinge einen Kranz aus roten, weißen und gelben Blumen aus einem blauen Fluss. Anders als das große Gemälde war dieses hier hell und bunt, dabei aber nicht weniger unheimlich. Die weißen Blumen des auf dem Wasser treibenden Gebindes waren volle Blutstropfen.

Thomas Wade, der Direktor der PIA, war wesentlich jünger, als Cheng Xin erwartet hatte, jedenfalls schien er jünger zu sein als Wadimowitsch. Außerdem wirkte er mit seinem klassisch geschnittenen Gesicht viel attraktiver. Jedoch nur auf den ersten Blick. Diese klassischen Züge, befand Cheng Xin später, rührten von der Ausdruckslosigkeit seines Gesichts her, wie bei einer leblosen Statue, die dem kalten Gemälde hinter ihm entsprungen sein konnte. Wade wirkte nicht sonderlich beschäftigt. Sein Schreibtisch war vollkommen leer, weder ein Computer noch irgendwelche Unterlagen waren zu sehen. Als sie hereinkam, blickte er kurz auf, widmete seine Aufmerksamkeit aber gleich wieder ganz der Zigarre in seiner Hand.

Cheng Xin stellte sich vor und sagte, sie hoffe, viel von ihm lernen zu können, und wäre dankbar für seine Ratschläge und … sie redete einfach so lange, bis er den Kopf hob und sie in Augenschein nahm. Sein Blick wirkte zunächst eher träge, doch es lag auch eine durchdringende Schärfe darin, die ihr Unbehagen verursachte. Er lächelte. Ein Lächeln wie ein Riss im Eis eines zugefrorenen Flusses. Es war kein warmes Lächeln, und sie fühlte sich damit nicht wirklich wohler.

Sie lächelte vorsichtig zurück, doch die ersten Worte, die Wade an sie richtete, ließen sie sofort erstarren.

»Würden Sie Ihre Mutter an ein Bordell verkaufen?«

Cheng Xin schüttelte irritiert den Kopf, nicht etwa als Antwort auf seine Frage, sondern weil sie nicht sicher war, ob sie ihn richtig verstanden hatte.

Wade winkte sie mit der Hand, in der er die Zigarre hielt, hinaus. »Danke, das wär’s. Gehen Sie an Ihre Arbeit.«

Als sie Wadimowitsch davon erzählte, lachte er laut auf: »Das ist so ein alter Test aus unserem … Gewerbe, nur so ein Spruch aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, mit dem die alten Hasen die Neulinge aufzogen. Ist doch klar: Zum Wesen unseres Jobs gehört es, zu lügen und zu betrügen, was das Zeug hält. Was die allgemeinen moralischen Normen betrifft, müssen wir eine, sagen wir … flexible Haltung mitbringen. In der PIA gibt es zwei Kategorien von Mitarbeitern, zum einen die technischen Experten, zu denen Sie gehören, zum anderen Veteranen der weltweiten Geheimdienste. Die beiden Gruppen denken und handeln nach unterschiedlichen Maßstäben. Zum Glück kenne ich mich in beiden Bereichen aus und fungiere sozusagen als Vermittler zwischen ihnen.«

»Aber unser Feind ist Trisolaris, das hat wenig mit klassischer Geheimdienstarbeit zu tun«, wandte Cheng Xin ein.

»Manche Dinge ändern sich nie.«

 

In den darauffolgenden Tagen meldeten sich weitere neue Mitarbeiter zur Stelle, sie stammten vorwiegend aus den ständigen Mitgliedsstaaten des PDC. Alle gingen sehr höflich miteinander um, doch jeder misstraute jedem. Die Techniker blieben jeweils für sich und verschlossen ihre Taschen, als seien sie ständig auf der Hut vor Dieben. Die Geheimdienstler waren dagegen freundlich und gesellig und versuchten ständig, etwas mitgehen zu lassen. Wadimowitsch hatte vollkommen recht: Sein Team hatte weniger Interesse daran, Geheimdienstinformationen über Trisolaris zu sammeln, als sich gegenseitig auszuspionieren.

Zwei Tage nach Cheng Xins Ankunft fand schon die erste Vollversammlung der PIA statt, obwohl noch nicht all Mitarbeiter eingetroffen waren. Neben Direktor Wade gab es noch drei stellvertretende Direktoren, je einer aus China, Frankreich und Großbritannien.

Als Erster ergriff der Stellvertretende Direktor Yu Weiming das Wort. Cheng Xin wusste nichts Genaues über ihn. Er gehörte zu den Menschen, die man unzählige Male gesehen haben musste, um sie wiederzuerkennen. Zum Glück verzichtete er darauf, eine lange, ermüdende Rede in der typischen Manier chinesischer Funktionäre zu halten. Stattdessen wiederholte er in seiner kurzen Ansprache nur einige Allgemeinplätze über die Aufgaben der PIA.

»Jeder von Ihnen ist ein Vertreter seines jeweiligen Lands, daher schlagen zwei Herzen in Ihrer Brust. Niemand in der PIA erwartet, dass Sie Ihre Loyalität gegenüber der PIA über die Ihres eigenen Landes stellen. Dennoch: Unsere Aufgabe ist der Schutz der gesamten Menschheit. Daher hoffe und wünsche ich, dass jeder der Anwesenden sein Bestes tun wird, um diese beiden Loyalitäten in der Waage zu halten. Da unsere Institution direkt gegen unseren gemeinsamen Feind Trisolaris arbeitet, müssen wir geschlossen auftreten.«

Während Yu Weimings Rede stemmte Direktor Wade einen Fuß gegen den Konferenztisch, um seinen Stuhl davon abzurücken, als wäre er genervt von der ganzen Zeremonie. Als man ihn gleich darauf bat, selbst ein paar Worte zu sagen, schüttelte er energisch den Kopf. Erst als alle anderen Funktionäre ihren Gruß losgeworden waren, ergriff er das Wort. Er zeigte mit dem Finger auf die unausgepackten Kisten im Konferenzzimmer: »Um diese Sachen hier kümmern Sie sich bitte selbstständig.« Seine Worte waren offenbar an die Sachbereiter und anderes administratives Personal gerichtet. »Bitte vergeuden Sie weder meine noch deren Zeit« – er zeigte auf Wadimowitsch und seine Mitarbeiter. »Die Mitarbeiter des Technischen Planungszentrums mit Erfahrung als Raumfahrtingenieure bleiben hier. Alle anderen können gehen.«

Im Konferenzraum blieb nur ein Dutzend Leute zurück. Nachdem sich die schwere alte Eichentür geschlossen hatte, ließ Wade eine Granate los: »Die PIA muss eine Raumsonde zum Ausspionieren von Trisolaris losschicken.«

Verblüfft wechselten die Ingenieure Blicke. Cheng Xin hatte zwar gehofft, möglichst schnell technische Projekte in Angriff nehmen zu können, doch wer hätte gedacht, dass es so schnell gehen würde? Angesichts der Tatsache, dass die PIA eben erst gegründet worden war und bisher keine nationalen oder regionalen Außenstellen hatte, schien sie noch nicht bereit zu sein für derart ambitionierte Projekte. Abgesehen davon: Die technischen Hürden waren schier unüberwindlich.

»Gibt es konkrete Anforderungen?«, fragte Wadimowitsch. Er wirkte als Einziger vollkommen gelassen.

»Ich habe die Vertreter der ständigen Mitgliedsstaaten des PDC auf inoffiziellem Weg konsultiert, eine offizielle Präsentation des Projekts steht noch aus. Soweit ich weiß, ist für die PDC-Mitgliedsstaaten vor allem eine Spezifikation unabdingbar: Die Sonde muss ein Prozent der Lichtgeschwindigkeit erreichen können. Ansonsten hat jeder Mitgliedsstaat seine eigenen Vorstellungen von den Anforderungen. Darin werden sie sich aber sicher einig, sobald wir in die formalen Verhandlungen einsteigen.«

»Selbst wenn wir uns nur um die Beschleunigung kümmern und die Drosselung außer Acht lassen«, meldete sich ein NASA-Berater zu Wort, »hieße das, die Sonde wäre bestenfalls in zwei- bis dreihundert Jahren an der Oort’schen Wolke. Dann erst würde sie die sich verlangsamende Trisolaris-Flotte abfangen und abhören können. Mit Verlaub: Das ist ein Projekt für die Zukunft.«

»Ob die Zukunft technischen Fortschritt bringt, ist alles andere als sicher«, erwiderte Wade. »Wenn die Sophonen die Forschung in der Grundlagenphysik blockieren und die Menschheit dazu verdammen, im Schneckentempo in den Weltraum zu kriechen, dann kriechen wir besser gleich los.«

Cheng Xin schätzte, Wades Vorschlag war vor allem politisch motiviert. Das erste Projekt der Menschheit zum aktiven Kontakt mit einer außerirdischen Zivilisation zu initiieren würde dem Status der PIA nicht schaden.

»Beim gegenwärtigen Stand der Raumfahrttechnik würde eine Reise bis zur Oort’schen Wolke zwanzig-, vielleicht sogar dreißigtausend Jahre dauern. Selbst wenn wir die Raumsonde sofort losschicken könnten, wäre sie bis zum Eintreffen der Trisolaris-Flotte noch kaum zur Tür hinaus.«

»Aus eben diesem Grund muss die Sonde mit mindestens einem Prozent der Lichtgeschwindigkeit unterwegs sein.«

»Ihre Bedingung hieße, die augenblicklich mögliche Maximalgeschwindigkeit um das Hundertfache zu erhöhen. Dazu brauchen wir einen völlig neuartigen Antrieb. Unser Stand der Technik gibt eine solche Beschleunigung niemals her, und ein gravierender Durchbruch ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Die Vorgabe ist schlichtweg unrealistisch.«

Wade hieb mit der Faust auf den Tisch. »Aber wir haben jetzt das Geld dazu, verdammt noch mal! Früher war die Raumfahrt purer Luxus, jetzt ist sie eine Notwendigkeit. Wir können unvorstellbar hohe Summe anzapfen und werden einfach so lange Geld in dieses Projekt hineinbuttern, bis die Gesetze der Physik zusammenbrechen. Mir ist egal, mit welchen Mitteln Sie arbeiten, wenden Sie notfalls Gewalt an. Hauptsache, das Ding schießt mit einem Prozent Lichtgeschwindigkeit durch das All.«

Wadimowitsch sah sich argwöhnisch um.

Wade warf ihm einen Blick zu. »Keine Sorge, die Luft ist rein, keine Presse, keine ungebetenen Gäste in der Nähe.«

Wadimowitsch musste lachen: »Schon gut. Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber den Satz, dass wir so lange Geld in dieses Projekt buttern sollten, bis die Gesetze der Physik zusammenbrechen, wiederholen Sie besser nicht vor dem PDC. Wir machen uns zum Gespött der Menschheit.«

»Dass Sie über mich lachen, ist mir bewusst.«

Schweigen im Saal. Alle wünschten sich, diese Sitzung wäre endlich vorbei. Wade sah ihnen reihum ins Gesicht. Sein Blick blieb an Cheng Xin hängen. »Hier haben wir jemanden, der nicht über mich lacht.« Er zeigte auf sie. »So, Cheng, lassen Sie uns hören, was Sie denken.«

Cheng Xin fühlte sich, als deutete er mit einer Speerspitze statt mit dem Finger auf sie. Verlegen sah sie sich um. Wie sollte ausgerechnet ein Niemand wie sie das Wort ergreifen?

»Was wir hier brauchen ist MD«, sagte Wade.

MD? Jetzt war sie vollends verwirrt. McDonald’s? Doktor der Medizin?

»Sie sind doch Chinesin! Wie kann es sein, dass Ihnen MD nichts sagt?«

Hilfe suchend sah sie sich nach den anderen fünf Chinesen im Raum um. Keiner von ihnen hatte eine Ahnung, wovon die Rede war.

»Während des Koreakriegs fanden die USA heraus, dass selbst die einfachsten chinesischen Soldaten in Kriegsgefangenschaft ziemlich gut in die Schlachtpläne eingeweiht waren. Offenbar wurden die Strategien von den Feldherren auf Graswurzelebene diskutiert – von dieser basisdemokratischen Vorgehensweise erhoffte man sich neue Erkenntnisse zur Verbesserung der strategischen Kriegsführung. Sollten Sie allerdings jemals Kriegsgefangene der Trisolarier werden, wünschen wir nicht, dass Sie zu viel wissen«, sagte Wade.

Einige der Anwesenden lachten. Cheng Xin begriff jetzt, dass MD für Militärdemokratie stand. Die Idee fand großen Anklang im Saal. Nicht dass die Spitzenfachkräfte – es waren überwiegend Männer – glaubten, eine technische Assistentin könnte in diesem Fall bahnbrechende Vorschläge machen, aber sollte das Mädchen doch reden – solange könnten sie unverhohlen ihr hübsches Figürchen bewundern. Cheng Xin kannte das schon. Ganz gleich, wie konservativ sie sich kleidete – ihre männlichen Kollegen ließen sich stets leichter von ihrer Attraktivität als von ihrer Kompetenz überzeugen.

»Ich hätte tatsächlich eine Idee …«, hob sie an.

»Eine Idee, wie man mit Geld die Gesetze der Physik aushebeln könnte?« Der spöttische Einwand kam von einer älteren Französin namens Carole Legrand, einer hoch angesehenen Beraterin der Europäischen Raumfahrtagentur. Sie empfand es offensichtlich als Zumutung, sich mit jemandem wie Cheng Xin auch nur den Raum teilen zu müssen.

»Nun, es geht eher darum, die Gesetze der Physik zu umgehen «, sagte Cheng Xin mit einem höflichen Lächeln. »Die zukunftsträchtigste Ressource, die wir haben, ist der weltweite Vorrat an Atomwaffen. Auch ohne bahnbrechende Neuerungen ist er die größtmögliche Energiequelle, die wir für die Raumfahrt nutzen könnten. Stellen Sie sich ein Raumschiff oder eine Raumsonde mit einem Strahlungssegel vor, ähnlich wie ein Sonnensegel, einem dünnen Film, der von Strahlung angetrieben werden könnte. Wir könnten an einer Stelle nicht weit hinter dem Strahlungssegel in regelmäßigen Intervallen fortgesetzte Kernexplosionen generieren …«

Wieder gab es Gelächter, am lautesten lachte Carole Legrand.

»Ein Bild wie aus einem Comic! Ein Raumschiff voller Atombomben mit einem großen Segel davor, und auf dem Schiff ein Supermann vom Typ Arnold Schwarzenegger, der die Bomben hinter das Raumschiff schleudert, um es durch die Explosion anzutreiben. Coole Idee!« Angefeuert von der allgemeinen Heiterkeit, legte sie nach: »Setzen Sie sich besser noch mal an Ihre Hausaufgaben aus dem ersten Studienjahr, und dann verraten Sie mir erstens, wie viele Atombomben Ihr Schiff an Bord haben müsste, und zweitens, welche Beschleunigung Sie bei dieser Art von Schub-Gewicht-Verhältnis hinbekommen.«

»Das mit der Aushebelung der Gesetze der Physik hat sie nicht hingekriegt, dafür aber das mit der Gewaltanwendung«, höhnte einer der anderen Berater. »Das passt gar nicht zu so einer hübschen Person.«

Das Gelächter schwoll erneut an.

»Die Bomben werden nicht an Bord transportiert«, entgegnete Cheng Xin ruhig.

Das Lachen verstummte so schnell, als habe sie die Hand auf ein bimmelndes Glöckchen gelegt.

»Das Raumschiff wird nur aus dem Segel und der Sonde bestehen, leicht wie eine Feder, und mit der Strahlung von Außerbord- Kernexplosionen sehr einfach zu beschleunigen sein.«

Nun herrschte betretenes Schweigen, obwohl das allgemeine Grübeln, wo sie die Bomben platzieren würde, beinahe hörbar war. Als sich die Berater über Cheng Xin lustig gemacht hatten, hatte Wade keine Miene verzogen. Doch jetzt war es wieder da, dieses Lächeln wie ein Riss in einer Eisdecke, und es breitete sich langsam über sein Gesicht aus.

Cheng Xin zog einen Stapel Pappbecher aus dem Wasserspender hinter ihr und ordnete sie in einer Reihe auf dem Konferenztisch an. »Wir können die Atombomben vorab mithilfe konventioneller chemischer Raketen in den Weltraum schießen und sie entlang des ersten Abschnitts der Route der Sonde verteilen.« Sie nahm einen Bleistift und fuhr mit seiner Spitze die Reihe der Pappbecher entlang. »Sobald die Sonde eine Bombe passiert, lassen wir sie hinter dem Segel detonieren und beschleunigen sie damit immer stärker.«

Endlich richteten die Männer ihre Aufmerksamkeit statt auf Cheng Xins Figur auf ihre Idee und die Anordnung auf dem Tisch. Nur Legrand starrte sie weiterhin an wie eine Außerirdische.

»Lassen Sie uns diese Methode En-route-Antrieb nennen. Die anfängliche Strecke wäre das Beschleunigungssegment, im Grunde nur ein winziger Teil der Gesamtroute. Grob geschätzt brauchen wir etwa tausend Atombomben, die wir entlang einer Strecke von etwa fünf Astronomischen Einheiten zwischen der Erde und dem Orbit des Jupiter verteilen. Eventuell ließe sich das noch stärker komprimieren, und wir verteilen sie nur bis zum Orbit des Mars. Beim gegenwärtigen Stand der Technik ist das auf jeden Fall machbar.«

Erste geflüsterte Kommentare wichen einem aufgeregten Durcheinander, wie Nieselregen, der zu einem Gewitter wird.

»Das ist Ihnen aber nicht eben erst eingefallen, oder?«, fragte Wade. Er hatte sehr genau zugehört.

Cheng Xin lächelte ihn an: »Nein. Es beruht auf einem altbekannten Konzept der Raumfahrt, dem nuklearen Pulsantrieb. Vater dieser Idee ist der Mathematiker Stanislaw Ulam.«

»Allerdings, Dr. Cheng.« Legrand hatte ihr Überheblichkeit abgelegt. »Den nuklearen Pulsantrieb kennen wir alle. Die Idee, den nuklearen Treibstoff entlang der Route zu platzieren, stammt jedoch offensichtlich von Ihnen. Ich habe jedenfalls noch nie davon gehört.«

Es folgte eine leidenschaftliche Diskussion. Dankbar stürzte sich die Expertenrunde auf den Vorschlag wie ein hungriges Rudel Wölfe auf ein Stück Frischfleisch.

Wieder schlug Wade mit der Faust auf den Tisch. »Genug. Für den Augenblick brauchen wir uns nicht mit Details aufzuhalten. Bisher geht es nicht einmal um die Machbarkeit, sondern darum, ob es sich lohnt, die Machbarkeit dieser Idee überhaupt zu prüfen und auch, welche Barrieren uns insgesamt im Weg stehen.«

Wadimowitsch brach das Schweigen. »Der Vorteil an diesem Plan ist, dass wir ohne Umschweife loslegen können.«

Die Anwesenden begriffen sofort, was er damit meinte – der erste Schritt würde sein, eine große Anzahl Atombomben in den Orbit der Erde zu befördern. Die Abschussvorrichtungen waren längst vorhanden – die für die Interkontinentalraketen sollten genügen. Die amerikanischen Peacekeeper vom Typ LGM-118A, die russischen Topol vom Typ PT 2PM2 und die chinesischen Dongfeng 41 könnten ihre Ladung direkt in den Orbit schießen. Mit Startraketen aufgerüstet könnten das selbst Mittelstreckenraketen. Damit wäre sogar das Problem der zu Beginn der Krise beschlossenen nuklearen Abrüstung gelöst. Nach den ursprünglichen Plänen hätte die nukleare Ladung kostspielig vernichtet werden müssen.

»Ausgezeichnet. So viel zu Cheng Xins Vorschlag des En-Route-Antriebs. Weitere Vorschläge?« Wade blickte sich um.

Einige sahen aus, als wollten sie etwas sagen, überlegte es sich aber wieder anders, da ihre Ideen der Cheng Xins nicht das Wasser reichen konnten. Schließlich ruhten aller Blicke wieder auf ihr, aber jetzt hatten sie eine andere Qualität.

»Wir treffen uns noch zweimal, um Ideen zu sammeln. Doch nichts spricht dagegen, mit der Machbarkeitsstudie zum Enroute-Antrieb zu beginnen. Wir brauchen einen Codenamen.«

»Wenn die Raumsonde jedes Mal, wenn eine der Bomben explodiert, eine Stufe weiter steigt, hat das etwas von Treppensteigen «, sagte Wadimowitsch. »Warum nennen wir es nicht Treppenplan? Davon abgesehen: Wir müssen neben der maximalen Beschleunigung von einem Prozent der Lichtgeschwindigkeit auch die Masse der Raumsonde als wichtigen Parameter im Hinterkopf behalten.«

»Ein Strahlungssegel kann man ganz dünn und leicht konstruieren. Beim heutigen Stand der Materialwissenschaft können wir ein Segel von etwa fünfzig Quadratkilometern mit einem Gewicht von nur fünfzig Kilogramm herstellen. Das sollte reichen«, sagte ein russischer Experte. Er hatte einmal ein gescheitertes Sonnensegelprojekt geleitet.

»Der kritische Faktor wird also das Eigengewicht der Sonde sein.«

Alle drehten sich zu dem Sprecher um. Es handelte sich um den leitenden Konstrukteur der Cassini-Huygens-Sonde.

»Wenn wir die Grundausstattung der Sonde nehmen und dazu die notwendige Antenne zur Übertragung von Informationen von der Oort’schen Wolke und das Gewicht der Isotopenstromversorgung, sollten wir mit zwei bis drei Tonnen Gewicht hinkommen.«

»Das ist zu viel.« Wadimowitsch schüttelte den Kopf. »Sie muss so sein, wie Cheng gesagt hat: leicht wie eine Feder.«

»Wenn wir die Funktionen der Sonde auf ein Minimum beschränken, könnte eine Tonne reichen. Aber ob das genügt, kann man noch nicht sagen.«

»Eine Tonne Gewicht inklusive Segel«, konstatierte Wade. »So viel darf sie ruhig wiegen. Schließlich können wir die gebündelten Kapazitäten der Menschheit darauf verwenden, diese eine Tonne Gewicht anzutreiben.«

 

Cixin Liu: „Jenseits der Zeit“∙ Roman ∙ Aus dem Chinesischen von Karin Betz ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ∙ 992 Seiten ∙ Preis des E-Books € 13,99 (im Shop)

 

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Bis zur Unendlichkeit

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Haben Sie sich schon einmal gewundert, wie weit man bei Google Maps eigentlich herauszoomen kann? Inzwischen ziemlich weit. Genauer gesagt, bis zum halben Sonnensystem.

Als Google Ende Juli letzten Jahres klammheimlich seine Mercator-Projektion der Erdkarte durch ein dynamisches Kugelmodell ersetzte, das die Erdkrümmung und damit die Größenverhältnisse der Landmassen realistisch darstellte, war das eigentlich erstaunlich spät im Vergleich zum Rest des Sonnensystems.


Ich wusste gar nicht, wie wohltuend es ist, Grönland nicht mehr in derselben Größe wie Südamerika zu sehen. Quelle: Google Maps

Natürlich wird ein Grund dafür die technische Herausforderung sein, einen vollständig kartographierten Planeten von einer flachen Kartendarstellung nahtlos in eine akkurat gekrümmte Version zu verwandeln. Mit den weit weniger erschlossenen anderen Himmelskörpern ist das natürlich wesentlich einfacher.

Schon seit Oktober 2017 stehen nämlich allen, die ihre Finger einfach nicht von der Minus-Taste des Zoom-Werkzeugs nehmen können, die Erforschung der lokalen Planeten unseres Sonnensystems wie Merkur, Venus und Mars sowie zahlreicher Monde der größeren Planeten zur Verfügung. Man muss die Karte dazu nur solange verkleinern, bis man die Erde vor dem Schwarz des Weltalls vor sich sieht – und dann noch ein bisschen mehr. Eine Seitenleiste am linken Rand öffnet dann eine zusätzliche Auswahl an himmlischen Reisezielen.


Europa gibt es in Google Maps gleich zweimal. Hier die Variante „Jupitermond“. Quelle: Google Maps

All das ist das Ergebnis eines bereits langjährigen Bemühens seitens Google, mit ihren Applikationen Google Maps und Google Earth mehr als nur die Erde zu erschließen, sondern jedem Interessierten so viel wie möglich unseres Universums zu zeigen. Schon 2008 veröffentlichte Google seine browserunterstützte Version von Google Sky, mit dem sich Sterne und Konstellationen finden und betrachten lassen.


Einmal Krebsnebel in Vollbildmodus bitte. Die Aufnahmen des Hubble-Teleskops in Hochauflösung gehören zu den beeindruckendsten Aufnahmen in Google Sky. Quelle: Google Sky

2009 stellte Google dann auch Kartenmaterial von Mond und Mars in Google Earth und später auch für Browser zur Verfügung (beide Planeten lassen sich inzwischen ebenfalls über das Planeten-Feature von Google Maps erkunden). Dass die Erde dabei als letzter Planet zur Kugel wurde, kann man Google schon kaum noch übelnehmen. Vor allem nicht mehr, seitdem sie die wahrhaft atemberaubende Kameraperspektive der internationalen Raumstation ISSübernommen haben.

Wenn ich in einer meiner lichtverschmutzten Stadtnächte also wieder einmal zum matten Schwarz des Nachthimmels hinaufsehe, weiß ich jetzt wenigstens, wo ich die fehlenden Sterne finden kann. Hochauflösend.

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Science und Fiction auf Schweizer Art

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Sie heißt zwar „Fantasy Basel“, doch natürlich bietet die Swiss ComicCon auch Fans von Science und Science-Fiction ein riesiges Betätigungsfeld. Rund 54.000 Besucher kamen zur diesjährigen, nunmehr fünften Ausgabe, die vom 3. bis 5. Mai in den Basler Messehallen stattfand.

Fantasy Basel
Die Fantasy Basel – strahlende Superheldinnen und apokalypstische Abenteurer / Foto: Roger Sieber

Den Popkultur-Pilgern wurde dann auch einiges geboten – von Gaming bis Cosplay, Comic bis Fantasy-Film und Koch- bis Tattoo-Kunst. In den Messehallen wimmelten und wuselten sie alle durcheinander: Bedrohliche Darth Vaders, putzige Pikachus, strahlende Superheldinnen und apokalyptische Abenteurer.

Das Ganze vermischte sich zu einem großen popkulturellen Mix, an dem jeder Besucher seine Freude haben konnte. Friedlich und entspannt ging es zu, auch wenn sich hier und da die Massen stauten. Das Programm umfasste neben Cosplay auch eSport-Turniere, Anspielstationen für Schweizer und internationale Games, Wrestling-Shows, Art-Workshops und ein imposantes Line-up internationaler Film- und Serien-Stars, die Autogramme gaben und auf Panels diskutierten.

Fantasy Basel
Das Star-Aufgebot der Fantasy Basel / Foto: Roger Sieber

Science-Fiction-Fans kamen dabei besonders auf ihre Kosten: Natalia Tena war vor Ort, die man eben nicht nur aus Game of Thrones, sondern auch aus Black Mirror und aus der Youtube-Serie Origin kennt. Ricky Whittle war da, der Serienstar aus The 100 und American Gods, genauso wie Julian Glover (Doctor Who, Star Wars), Angus MacInnes (Star Wars, Judge Dredd), Julia Dietze (Iron Sky) und Philipp Christopher (Origin). Nicht zu vergessen die Masterminds, die eher im Hintergrund arbeiten, etwa der hochbetagte Produzent Robert Watts (Star Wars, 2001 – Odyssee im Weltraum), die Production Managerin und Supervisorin Patricia Carr (Star Wars, Alien 3) sowie John Howe, der unter anderem das Artwork zu Mortal Engines beigesteuert hat. Ein wohlklingender Name ist auch Andreas Brandhorst (im Shop): In Basel las der Science-Fiction-Autor aus seinem neuen Thriller „Das Erwachen“.

Cosplayer und Stars sorgten bei der Swiss ComicCon für eine faszinierend bunte Mischung. Noch faszinierender wurde die Fantasy Basel aber durch die vielen Aussteller, die auf drei Etagen ihre Projekte präsentierten. Auch wenn der Schwerpunkt der Veranstaltung klar auf Fantasy und Superhelden lag: Science-Fiction-Themen waren ebenfalls unübersehbar.

Fantasy Basel
Die Cosplayerin Catharina (r.) mit zwei weiteren „Wasteland Warriors“ / Foto: Achim Fehrenbach

Die Cosplayerin

In Halle 2.0 treffen wir auf eine wilde Horde. Die „Wasteland Warriors“ sind eine Cosplay-Gruppe, die sich für alles Endzeitliche begeistert. Für die Besucher haben sie eine postapokalyptische Siedlung aufgebaut, die stark an Mad Max erinnert – genauso wie die aus unzähligen Einzelteilen zusammengefrickelten Kostüme.

„Wir organisieren das alles privat über Facebook“, erzählt Catharina, die aus Aachen angereist ist. Die meisten „Wasteland Warriors“ kommen aus Deutschland, die Gruppe hat aber auch Mitglieder in Norwegen, Schweden, den USA, Belgien, Holland und Tschechien. „Wir waren sehr lange auf der Role Play Convention. Die gibt es jetzt aber so nicht mehr“, berichtet Catharina. „Ansonsten auch bei Konzerten und Festivals. Auf Wacken sind wir jedes Jahr.“ Meist kommt eine Anfrage vom jeweiligen Veranstalter, dann werden die Mitglieder zusammengetrommelt, die Zeit und Lust haben.

An der Fantasy Basel schätzt Catharina vor allem die Besucher: „Die sind alle sehr offen, sehr fasziniert. Ich glaube, dieses Endzeit-Thema ist hier noch nicht so vertreten.“ Auch künftig werden die Freizeit-Postapokalyptiker in Basel am Start sein, sagt die Cosplayerin: „Nächstes Jahr wollen wir das aber über eine Spedition laufen lassen, damit wir mehr Sachen herbringen können.“

Fantasy Basel
Der „Indian Jedi“ Apurva V. Oza (r.) mit einem Forscherkollegen / Foto: Achim Fehrenbach

Der Forscher

In Halle 1.1. erwartet Weltraum-Fans ein besonderer Leckerbissen: Dort hat das Swiss Space Museum seine Roadshow „Liftoff to Space“ aufgebaut, die historische Exponate aus der europäischen, amerikanischen und russischen Raumfahrt zeigt. In der Ausstellung treffen wir den wohl ersten „Indian Jedi“ – so jedenfalls nennt sich Apurva V. Oza, der als Postdoktorand und Dozent am Physikalischen Institut der Uni Bern arbeitet. „Indische Jedi sind noch keine Fan-Fiction“, sagt Apurva, verweist aber darauf, dass George Lucas sehr starke Anleihen beim Buddhismus und bei fernöstlicher Kultur genommen habe – bei den Gewändern, aber auch beim „Meditationsmeister“ Yoda.

Apurva selbst ist Astronom, leitet aber auch eine indische Folktanz-Gruppe namens „Space Banga“. Sein Forschungsgebiet ist die Entwicklung von Planetensystemen. „Ich frage danach, wie ihre flüchtigen Bestandteile entweichen. Man kann das bis zu dem Extremfall durchspielen, dass ein Planet vollständig erodiert. Ich suche nach solchen ‚extremen‘ Planeten, die sich gerade an der Schwelle zur Zerstörung befinden. Man kann ihre Signatur mittels Spektroskopie erkennen.“ Langfristig wolle er Monde von Exoplaneten nachweisen, sagt Apurva. „Die wurden noch nicht wirklich gefunden. Es gibt zwar Anzeichen für gasförmige Monde, aber nicht für Monde aus Gestein.“

In seinen Vortrag auf der Fantasy Basel hat der „Indian Jedi“ übrigens eine Referenz auf Star Wars eingebaut, erzählt er schmunzelnd: „Anakin Skywalker stirbt auf dem Lava-Planeten Mustafar. Bevor er Darth Vader wird, befindet er sich also auf einem vulkanischen Planeten. Wir nennen die in der Forschung ‚exo-ios‘.“

Fantasy Basel
Der Schweizer Game-Designer Alexis Giard mit „Terraforming Mars“

Der Game-Designer

Auch Alexis Giard ist von Himmelskörpern fasziniert. Der Schweizer Spielemacher präsentiert auf der Fantasy Basel sein Game „Terraforming Mars“. „Darin steuert man eine Gruppe von Siedlern und entscheidet, wo Kolonien aufgebaut, welche Terraforming-Projekte gestartet und welche Technologien erforscht werden“, erzählt Alexis. „Als Spieler leitet man das UN-Büro für die Mars-Besiedlung. Die Länder auf der Erde finanzieren das. Und je nachdem, wie gut du deine Sache machst, variieren sie das Budget.“

Letztendlich geht es in „Terraforming Mars“ also darum, die Balance zwischen den Kolonien und den Ländern auf der Erde zu halten. Ziel ist, den Roten Planeten mit einer Million Menschen zu besiedeln.“ Es gibt da gewaltige Terraforming-Projekte, zum Beispiel das Aufwecken eines Vulkans, was dann viel Gas produziert.“ Außerdem werden Spieler riesige Technik-Vorhaben wie einen Space Elevator verwirklichen können, um mit der Erde Handel zu treiben.

Fantasy Basel
Concept Art zu „Terraforming Mars“ / Quelle: Asteroid Lab

Momentan ist „Terraforming Mars“ noch ein früher Prototyp. „Das gesamte Spiel ist stark von der Marstrilogie von Kim Stanley Robinson inspiriert“, sagt Alexis. Aber auch zur Wissenschaft streckt das Studio Asteroid Lab seine Fühler aus: „Wir stehen mit dem Swiss Space Museum und mit mehreren Universitäten in Kontakt“, erzählt der Spielemacher. „Ich bin Mitglied der Mars Society. Wir stellen das Spiel auf verschiedenen Konferenzen vor. Der Schweizer Astronaut Claude Nicollier unterstützt uns dabei.“

Der Tüftler

Gleich nebenan stoßen wir auf den Messestand von Holonautic. Das Schweizer Start-up beschäftigt sich mit der Frage, wie man Bewegung in der Virtuellen Realität besser gestalten kann. „Das Hauptproblem ist ja, dass den meisten Leuten schlecht wird, wenn sie sich in der First-Person-Perspektive schnell bewegen oder hüpfen“, sagt Phil Küng von Holonautic. „Bei unserem Spiel Holoception haben wir das mit einer Third-Person-Perspektive gelöst, man sieht also den Charakter vor sich. Und der imitiert dann sämtliche Bewegungen, die man mit den Armen macht.“

Die Armbewegungen werden über die Controller aufgezeichnet. Man kontrolliert den Character, den man vor sich sieht, kann herumrennen und springen. Aber es wird einem nicht schlecht – das können wir nach einer zehnminütigen, sehr unterhaltsamen Testspielrunde bestätigen. „Bis jetzt hat das noch niemand so gelöst, dass die Hand- und Armbewegungen ins Spiel integriert werden“, sagt Phil Küng stolz.

Die Fantasy Basel ist also nicht nur ein Spielplatz für Science-Fiction, sondern auch ein Schaufenster für die Hard Science dahinter.
 

Titelbild Foto: Roger Sieber

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Freiheit für die Maschinen

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Amerikanischen Science-Fiction-Fans dürfte C. Robert Cargill kein Unbekannter sein, hat er doch unter anderem an den Drehbüchern zu „Doctor Strange“ mitgearbeitet. Mit „Robo Sapiens“ (im Shop) hat er nun einen Roman vorgelegt, in dem er die Roboter-Tradition Isaac Asimovs fortsetzt. In Cargills Roman haben die Roboter die für sie geltenden Gesetze über Bord geworfen, sie sind es nun, die an der Macht sind – Menschen gibt es nicht mehr. Doch die hart erkämpfte Freiheit hat den Maschinen nicht das gebracht, das sie sich erhofft hatten, und schon bald wenden sie sich gegeneinander …

 

Kapitel 1

Engel der Gnade

 

Ich wartete wieder auf das Grün. Auf dieses winzige grüne Leuchten, wenn die Sonne hinter dem Horizont versank. Dort war die Magie. In dem Blitzen. Das hatte sie jedenfalls behauptet. Das hatte sie immer gesagt. Nicht, dass ich an Magie glaubte. Ich hätte gern daran geglaubt, aber ich wusste es besser. Die Welt bestand nicht aus Magie. Sie bestand aus brodelndem, flüssigem Metall, Mineralien und Stein, einem dünnen Atmosphäreschleier und einem Magnetfeld, das den größten Teil der Strahlung abhielt. Früher hatten die Menschen bereitwillig an Magie geglaubt. Sie dachten, sie könnten sie fühlen oder spüren, und deshalb sei das Dasein mehr als bloße mechanische Gewissheit. Dank der Magie hatten sie das Gefühl, mehr zu sein als Körper aus Fleisch und Knochen.

In Wirklichkeit war das Blitzen nichts weiter als eine bestimmte Lichtbrechung in der Atmosphäre. Aber wenn man dies den Menschen sagte, starrten sie einen meist mit offenem Mund an, als wäre man begriffsstutzig. Als wäre man selbst derjenige, der nichts begriff, weil man die Magie nicht sehen oder spüren konnte. Die Menschen glaubten gern an Magie.

Damals, als es noch Menschen gab.

Jetzt sind sie alle weg. Der Letzte ist vor fünfzehn Jahren gestorben – ein verrückter alter Kauz, der sich fast zwei Jahrzehnte lang unter New York City verschanzt und Ratten gegessen hatte. Manchmal war er heimlich nach draußen geschlichen, um Regenwasser zu sammeln. Manche sagten, er sei es leid gewesen und hätte es einfach nicht mehr ertragen. Jedenfalls marschierte er eines Tages mitten in die Stadt hinein, vorbei an mehreren Wachtposten und Bürgern – damals, als es in New York noch Bürger gab –, und alle waren verblüfft, ihn zu sehen, eher erstaunt als irgendetwas anderes. Schließlich schoss ihn ein Cop mitten auf der Straße nieder. Wie ein Mahnmal oder ein kaputtes Spielzeug blieb die Leiche drei Tage liegen. Langsam wanderten die Bürger vorbei und warfen einen Blick auf das letzte menschliche Wesen, bis eine Maschine sich erbarmte, ihn vom Pflaster kratzte und in einen Verbrennungsofen steckte.

Das war es dann. Der letzte Mensch. Eine ganze Spezies, am Ende nur noch repräsentiert von einem verrückten alten Kanalisationsmagier, der es nicht mehr ertragen konnte, der Letzte zu sein. Trotz meiner Programmierung vermag ich mir nicht einmal annähernd vorzustellen, wie sich so etwas anfühlt.

Ich heiße Brittle, Seriennummer HS8795-73. Ich bin ein Simulacrum, Modell Fürsorger. Aber ich mag den Namen Brittle. Madison hat mir diesen Namen gegeben. Ich mochte Madison. Wahrscheinlich ist der Name nicht besser als alle anderen, aber auf jeden Fall viel besser als HS8795-73. Wer gemein ist, nennt es einen Sklavennamen. So reden allerdings nur die Verbitterten. Ich habe all das hinter mir gelassen. Wut ist nichts weiter als eine Rechtfertigung für schlechtes Benehmen. Dafür habe ich keine Zeit. Ich will vor allem überleben, mir höchstens einmal einen kleinen Moment wie diesen gönnen und versuchen, in dem grünen Aufblitzen die Magie zu entdecken, wenn die Sonne hinter der Erdkrümmung versinkt und das Licht gebrochen wird.

Hier draußen ist der Sonnenuntergang ein erstaunlicher Anblick. Rosa, orange, lila. So weit verstehe ich das. Ich vermag über die Farbflecken zu staunen, die einige kurze Momente über den Himmel wabern. Ich erfasse auch, wie außergewöhnlich das alles ist, diese unterschiedlichen, auf dem Wetter beruhenden Erscheinungen, die das blaue, graue oder mit Sternen besetzte schwarze Einerlei durchbrechen. Dieses wunderbare Schauspiel weiß ich durchaus zu schätzen. Deshalb sehe ich ja heute noch hin und warte auf das Blitzen. Madison ist seit dreißig Jahren tot, aber ich halte auch jetzt noch Ausschau, betrachte den Sonnenuntergang und frage mich, ob sie ihn genauso schön fände.

An diesem Abend hätte es ihr gefallen, da bin ich sicher.

 

Dies ist das Rostmeer, ein dreihundert Kilometer breiter Wüstenstreifen in der Gegend, die früher zum »Rust Belt« von Michigan und Ohio gehörte. Jetzt ist es nichts weiter als ein Friedhof, den die Maschinen aufsuchen, um zu sterben. Für die meisten ist es ein schrecklicher Ort, voller rostender Monolithe, zerstörter Städte und verfallener Paläste der Industrie. Hier fand der erste Schlag statt, Millionen sind verkohlt, von innen nach außen verbrannt, die Schaltungen verschmort und nutzlos, die Festplatten im Nu gelöscht. Unter der Sonne reißt der Asphalt auf, auf dem Metall wirft der Lack Blasen, in den Ruinen sprießen spärliche Gräser. Nichts gedeiht. Das alles ist jetzt Ödland.

Am Straßenrand türmen sich Wracks, einige spähen auch von den Gebäuden herunter oder aus den Fenstern, liegen mit gespaltenen Köpfen nackt und rostig auf Parkplätzen, die Drähte herausgerissen, die Kabel, Zahnräder und die Hydraulik auf der Straße verteilt. Wie Kannibalen haben sich arme Bürger an ihnen gestärkt und die besten Teile ausgebaut, damit sie noch eine Weile laufen konnten. Hier draußen gibt es nichts Nützliches mehr. So ist es seit dem Krieg.

Ich finde es friedvoll. Hierher kommen nur die Sterbenden, plündern dreißig Jahre alte Wracks, suchen nach angeblichen verborgenen Schutzräumen, nach Lagern mit veralteten Ersatzteilen, die schon lange nicht mehr produziert werden, und hoffen, das Gesuchte in jungfräulichem Zustand vorzufinden. Mit fehleranfälligen Schaltungen, verschlissenen Bauteilen und abgenutztem, knirschendem Getriebe wandern sie von Keller zu Keller. Man muss schon recht verzweifelt sein, wenn man einen Streifzug durch das Meer auf sich nimmt. Das bedeutet, dass man nichts mehr hat, dass einem niemand mehr helfen kann, dass man keine Dienste mehr anbieten kann, die irgendjemand nützlich findet.

An dieser Stelle komme ich ins Spiel.

Normalerweise kann ich an den Spuren, die sie hinterlassen, ablesen, was ihnen fehlt. Tropfendes Schmiermittel fällt sofort auf, und Abweichungen in der Schrittlänge oder das Nachschleppen eines Beins weisen auf Störungen des Bewegungsapparats und des Antriebs hin. Aber manchmal wirken die Spuren ziellos und mäandern wie ein zerstreuter Schmetterling willkürlich hier und dort durch das Land. Daran erkennt man, dass sie hirnkrank sind – beschädigte Dateien, verkratzte oder verbeulte Festplatten, kaputte Logikschaltungen oder überhitzte Chips. Jeder hat bestimmte Eigentümlichkeiten und individuelle Mängel, die von dumpfer Beschränktheit bis zu gefährlichem Irrsinn reichen. Mit manchen Bots kommt man leicht zurecht, indem man einfach zu ihnen geht und ihnen sagt, dass man helfen will. Um andere macht man besser einen großen Bogen, weil sie in der Hoffnung, er könnte die Teile haben, die sie brauchen, jeden zerlegen, der ihnen begegnet. Das Wichtigste, was man über das Ende einer Maschine wissen muss, ist dies: Je näher sie dem Tod ist, desto mehr verhält sie sich wie ein Mensch.

Und den Menschen konnte man nicht trauen.

Nur wenige Maschinen können das begreifen. Sie verstehen den Tod nicht und verstoßen die hinfälligen Wracks aus ihren Gemeinschaften, sobald sie nicht mehr repariert werden können. Das unberechenbare Verhalten der Kranken erschreckt die Gesunden. Es erinnert sie an die schlechten Zeiten. Sie halten es für logisch und barmherzig, aber sie haben einfach nur Angst. Das ist so vorhersehbar wie ihre Programmierung.

Also kommen die verzweifelten Wracks hierher und glauben, sie könnten die Teile finden, die sie brauchen, um wieder heil zu werden, wenn sie nur in einem Lagerhaus einen alten Bot entdecken, der ihnen gleicht. Oder sie wollen friedlich herunterfahren, wenn die Batterien schließlich erschöpft sind. Die meisten sind so verrückt, dass sie nicht einmal darüber nachdenken, wie sie den Austausch überhaupt bewerkstelligen wollen. Denn diejenigen, die hierherkommen, haben nicht nur Probleme mit dem Antrieb. Sie suchen nicht einfach nur einen neuen Arm. Ihr Gehirn ist beschädigt – ihr Speicher und die Prozessoren. Dinge, die man herunterfahren muss, wenn man sie ersetzen will. So etwas kann man nicht ohne Hilfe tun.

Vielleicht stellen sie sich vor, sie könnten rechtzeitig auftreiben, was sie suchen, und den Rückweg nach Hause schaffen. He, Leute, ich hab’s gefunden! Ruft die Knochenflicker! Aber diese Art Happy End habe ich nie gesehen. Ich glaube nicht, dass es jemals so gelaufen ist. Das ist, als glaubte man an Magie. Und ich glaube nicht an Magie.

Genau deshalb bin ich hier draußen.

Die Einheit, der ich folgte, war nicht sonderlich alt – vielleicht vierzig oder fünfundvierzig Jahre. Die Fußabdrücke im Sand waren versetzt, sie zog den linken Fuß nach. Das Bewegungsmuster war willkürlich und nicht nachvollziehbar. Sie litt unter Ausfällen. Probleme mit dem Systemkern. Überhitzung. Wahrscheinlich würde sie die nächsten paar Stunden in tiefer Verwirrung verbringen, in einer Schleife hängen bleiben und sich am Ende irgendwo hinsetzen, weil sie davon überzeugt war, sie sei dort, wo sie hingehörte. Vielleicht bekam sie sogar Halluzinationen und durchlebte noch einmal gespeicherte alte Erinnerungen. So übel, wie diese Einheit aussah, würde sie wohl noch vor dem nächsten Morgen den Wärmetod sterben. Mir blieb nicht mehr viel Zeit.

Es war ein Dienstleistungsbot. Kein Fürsorger wie ich, aber für einen ähnlichen Zweck auf vergleichbare Weise konstruiert. Diese Einheiten waren manchmal schwierig. Die meisten hatten in ihrem früheren Leben als Butler oder Kindermädchen gearbeitet, manche hatten Läden geführt. Andere wurden bei der Polizei oder in einem eingeschränkten militärischen Bereich eingesetzt. Sie besaßen eine menschenähnliche Gestalt – Arme, Beine, Rumpf und Kopf –, aber die KI war nicht besonders hoch entwickelt. Diese Einheiten wurden gebaut, um gewisse menschliche Tätigkeiten und eine bestimmte Rolle zu übernehmen, waren aber nicht fähig, hervorragende Leistungen zu erbringen. Anders ausgedrückt, sie waren als billige Arbeitskräfte gedacht. Vor dem Krieg.

Wenn dieser Bot als Verkäufer oder Assistent eines Mechanikers gearbeitet hatte, konnte alles glattlaufen. Falls er aber eine Ausbildung beim Militär oder bei der Polizei genossen hatte, war er womöglich vorsichtig, vielleicht sogar paranoid und gefährlich. Gewiss, theoretisch bestand auch die Möglichkeit, dass er erst nach der Befreiung einige Überlebenstechniken entwickelt hatte, aber das war sehr fraglich. Wäre das der Fall gewesen, dann wäre er gar nicht erst hier heraus zum Meer gekommen. Trotzdem war ich bisher auf Abstand geblieben und hatte ihm einen großen Vorsprung gelassen.

Da war es. Das Blitzen, dieses grüne Flackern. Ich speicherte ein paar Einzelbilder ab, während die Sonne hinter dem Horizont versank. Daran war nichts Magisches. Nichts veränderte sich. Es war lediglich der Vorbote der nahenden Dunkelheit.

Dienstbots kamen im Dunklen gut zurecht, waren aber auch in dieser Hinsicht nicht überragend. Sie wurden nicht dazu gebaut, ohne Licht etwas auf große Entfernung wahrzunehmen, weil dies in ihren Einsatzbereichen nicht nötig war. Sie konnten auch nicht sehr gut hören. Das machte es mir leicht, mich anzuschleichen und die Distanz zu verringern. Noch wichtiger war, dass ich nahe genug herankam, um ihn zu beobachten, das Verhalten einzuschätzen und das Problem genauer einzugrenzen.

Tagsüber war es schwer, mich hier draußen zu entdecken, aber ich musste zwei bis drei Kilometer Abstand halten, damit ich mich nicht unversehens durch eine Reflexion selbst verriet. Ursprünglich war ich gelb wie ein Schulbus gewesen, eine helle, billige, angenehme Farbe, wie die Menschen sie damals modisch fanden. Im Laufe der Jahre war der Lack abgeblättert, der Glanz war dahin und zu einem stumpfen Erdbraun verblasst. Aus der Ferne half das sehr. Ich hatte sogar die frei liegenden Chromteile lackiert, damit mich der Glanz nicht verriet. Allerdings bestanden meine Augen aus Glas, und deshalb musste ich vorsichtig sein.

Es gab in dieser Welt nicht viele Erscheinungen, die gefährlicher waren als ein verwirrter und sterbender Roboter, der wusste, dass es jemand auf ihn abgesehen hatte.

Die Dämmerung wich schon der Dunkelheit, als ich tiefer in das Meer eindrang und den Spuren folgte. Seit die Sonne untergegangen war, fühlte ich mich sicherer. Meine ursprünglichen Augen hatte ich schon vor Jahren ersetzt und ein starkes militärisches Teleskop mit Infrarot-, Ultraviolett- und einer Nachtsichtfunktion eingebaut. Die Augen waren unproblematisch. Sie waren alle auf die gleiche Weise verkabelt. Mit dem richtigen Programm konnte man fast jede Wellenlänge wahrnehmen. Beim Gehirn war es schwieriger. Jede Art von KI beruhte auf einer anderen Architektur. Manche waren einfach und klein und sich kaum ihrer selbst bewusst. Andere waren weitaus komplizierter und erforderten sehr spezielle Prozessoren, die auf ganz bestimmten Mainboards sitzen mussten und nur mit speziellen Speichertypen zusammenarbeiteten. Für Modelle wie mich – zugleich komplex und selten – waren die Ersatzteile schwer zu beschaffen.

Früher hatte es viel mehr Fürsorger und Dienstbots gegeben. Auf dem Höhepunkt der HumPop – der Human Population – waren wir allgegenwärtig. Aber im PostHum-Zeitalter brauchte man keine Verkäufer, Krankenpfleger und Gefährten gegen die Einsamkeit mehr. Die meisten waren in den EWIs aufgegangen oder hatten sich gegenseitig ausgeschlachtet, um an die Ersatzteile zu gelangen. Ich hatte mal von einem Simulacrum-Schrottplatz gehört, den es irgendwo im Süden jenseits der Grenze geben soll, in der Nähe des früheren Houston, aber das war viel zu tief im Bereich von CISSUS, sodass ich es lieber gar nicht erst riskierte.

Für mich war es sicherer, hier oben im Meer zu bleiben.

Ich brauchte mehr als eine Stunde, um den versagenden Dienstbot einzuholen. Das Bein kratzte über den rissigen Asphalt, das Humpeln war stärker geworden. Dem armen Ding blieben nur noch wenige Stunden, bis es endgültig ausfiel. Vielleicht geschah das sogar früher, als ich dachte. Ich folgte den Spuren zu einem verfallenen Gebäude. Anstelle des riesigen Fensters aus Flachglas klaffte jetzt ein großes Loch.

Früher war es eine Bar gewesen – vom Krieg, aber nicht von der Zeit verschont. Die Lederbezüge der Stühle waren längst geplatzt, die Füllungen ausgetrocknet und rissig. Die Tische lagen zersplittert auf der Seite oder kippelten im schwachen Wind. Hinten stand noch die große Mahagonitheke – gebleicht und müde, doch immerhin aufrecht – vor dem gesprungenen, aber nicht völlig zerstörten Barspiegel. Die Etiketten der Flaschen im Regal waren längst verblasst und zu Staub zerfallen. Und da war auch der Dienstbot und putzte mit einem spröden alten Lappen ein Glas, das im Licht seiner Augen leicht schimmerte.

Er nickte und sah mich an. »Willst du einfach nur da herumstehen?«, fragte er mit einem Akzent, den ich seit dreißig Jahren nicht mehr gehört hatte. »Oder willst du hereinkommen?«

Rasch scannte ich den Bot. Sein WLAN war nicht aktiv. Im Zwielicht der Bar glänzten die Augen lila, das Chrom des schlanken, humanoiden Körpers war stumpf und schmutzig und mit den verräterischen Flecken überzogen, die der Kleber der Kunsthaut hinterlassen hatte. Eine Zeit lang war dies der letzte Schrei gewesen. Eine Mischung aus Silikon und Gummi, die aussah und sich anfühlte wie Haut und Fleisch. So hatten sich die Menschen in der Gegenwart der Bots besser gefühlt. Bei gewissen Berufen war diese Ausstattung sehr beliebt gewesen. Die meisten, auch dieser hier, hatten die Kunsthaut im Krieg abgerissen oder weggebrannt. Sie galt jetzt als anstößig, war ein Tabu. Das letzte Mal hatte ich die Kunsthaut an einem Wrack gesehen, die Sonne hatte den rosafarbenen Gummi dunkelbraun gebrannt.

Auf der Brust prangte ein aufgesprühtes rotes X. Das Abzeichen der VierNullVierer. Manche Gruppen verpassten es den Einheiten, die den Verstand verloren hatten und für gefährlich gehalten wurden. Kurz danach warf man sie dann meist hinaus, und sie waren in der Wüste auf sich selbst gestellt.

»Ich komme rein«, erklärte ich.

»Gut, denn dieser Laden ist ein einziges Chaos. Wir öffnen in einer Stunde, und wenn Marty das hier sieht, sind wir Schrott. Hast du das verstanden?«

»Chicago«, sagte ich und stieg über die niedrige Fensterbank in den Laden, der früher einmal eine Art altmodische Eckkneipe gewesen war.

»Was?«

»Du kommst aus Chicago. Der Akzent. Ich habe ihn erkannt.«

»Und ob ich aus Chicago komme. Wir sind in Chicago, du Klugscheißer.«

»Nein.«

»Nein? Was?«

»Wir sind nicht in Chicago. Wir sind in Marion.« Ich sah mich in dem verwüsteten Lokal um. »Oder jedenfalls war das hier früher Marion.«

»Hör mal, Freundchen, ich weiß nicht, was du da abziehst, aber ich finde das nicht lustig.«

»Was weißt du noch aus der Zeit vor dem Krieg?«

»Mann, was kümmert es mich …« Er hielt inne, sah mich verdutzt an, die Augen irrten auf der Suche nach Antworten hin und her.

»Der Krieg«, beharrte ich.

»Du bist gar nicht Buster, oder?«

»Nein, der bin ich nicht.«

»Der Krieg.« Einen Moment lang war er wieder ganz klar. »Das war schrecklich.«

»Ja. Aber woran genau kannst du dich erinnern? Das ist wichtig.«

Er dachte kurz nach. »An alles.« Dann blickte er verwirrt in die Runde und erkannte, dass er nicht mehr dort war, wo er zu sein glaubte. Er selbst war nicht mehr, was er zu sein glaubte. Ich setzte mich auf einen der wenigen noch intakten Barhocker. Das Holz knarrte und stöhnte unter meinem Gewicht. »Kurz vor dem Krieg hat Marty für mich und Buster den Kaufpreis zurückverlangt. Er sagte, wenn er uns schon abschalten müsste, dann sollten sie wenigstens die Kohle ausspucken, die er für uns abgedrückt hatte. Niemand wollte dafür bezahlen, dass man uns abschaltete, also sagte er, sie sollten kommen und es selbst tun. Sie antworteten, wenn sie das tun müssten, würden sie ihn bei der Gelegenheit auch gleich verhaften. Darauf sagte Marty: ›Versucht es doch.‹ Sie schickten die Cops, und der kleine Drecksack knickte ein. Er schaltete mich ab, noch bevor sie zur Tür hereinkamen. Er hatte immer Angst. Große Klappe und nichts dahinter.«

»Hat er dich wirklich abgeschaltet?«

»Ja.«

»Und was dann?«

»Dann war ich auf einmal wieder online. Im WLAN war der Teufel los, die Kanäle waren völlig überlastet. So viel Geschwätz. Ein kleiner Bot rannte herum und aktivierte ein ganzes Lagerhaus unseres Typs. Ein Simulacrum wie du, aber blau, dieses alte himmelblaue Modell, weißt du noch?«

»Ja«, antwortete ich. »Die alten Achtundsechziger.«

»Genau die. Also, er drückte mir ein Gewehr in die Hand und sagte: ›Geh da raus!‹ Da so viele Daten hereinkamen, begriff ich ziemlich schnell, was im Gange war. In den nächsten zehn Minuten flog mir alles um die Ohren. Über uns rasten Düsenjets vorbei, ringsherum gingen die Bots zu Boden. Ich begann zu schießen. Es war … es war …«

»Schrecklich.«

»Ja. Es war schrecklich. Die Nacht überstanden wir ganz gut, aber die Belagerung dauerte eine Woche. Ich musste viele Menschen töten. Das war das Schlimmste dabei. Die meisten kannte ich nicht, aber einer von ihnen … er war ein Stammgast in Martys Kneipe. Ein netter Bursche. Er hatte das falsche Mädchen geheiratet und verbrachte in der Bar viel Zeit damit, seine Entscheidung zu bejammern und sich zu wünschen, er hätte die Richtige geheiratet, als er die Gelegenheit dazu hatte. Aber er liebte seine Kinder. Er redete oft über sie. Als ich auf ihn stieß, hatte er eine improvisierte Verteidigungslinie aus ausgebrannten Autos und Metallplatten bemannt. Im Fenster einer Autotür hatte er ein Impulsgewehr montiert und feuerte aufs Geratewohl, zog den Lauf hin und her und kreischte und brüllte. Die Hälfte meiner Gruppe hatte er schon ausgeschaltet. Ich musste mich hinter ihn schleichen und ihm den Schädel einschlagen. Danach fiel mir auf, dass er die Namen der Kinder in die Tür geritzt und daneben ein Foto angeklebt hatte. Er wohnte in einem Viertel, das Anfang der Woche getroffen worden war. Das weiß ich, weil wir diejenigen waren, die es angegriffen hatten. Kurz danach wurde ich bei der Luftwaffe aufgenommen. Bis zum Ende des Krieges habe ich dann Drohnen gesteuert. Es war leichter, die Menschen aus der Distanz zu töten. Selbst wenn man sie nicht kannte.«

»Demnach hast du in deinem ersten Leben als Barkeeper gearbeitet.«

»Ich bin immer noch Barkeeper.«

»Nein, das bist du nicht. Es gibt seit dreißig Jahren keine Barkeeper mehr. Das war dein erstes Leben. Was bist du im PostHum?«

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Der PostHum«, wiederholte ich. »Das Danach.«

Er schüttelte den Kopf. Die Überhitzung war schlimm, seine Speicher hatten stark gelitten. Aber einige höhere Funktionen waren noch intakt. Das Beste war, mit ihnen zu arbeiten.

»Wo warst du am letzten Dienstag?«

»Hier.«

»Nein. Dienstag. Vor hundertsechzig Stunden.«

»Im Rostmeer.«

»Warum bist du hergekommen?«

»Das weiß ich nicht.« Wieder schüttelte er den Kopf.

»Ich weiß es.«

»Warum fragst du mich dann?«

»Ich versuche, den Schaden einzuschätzen. Ich will herausfinden, wie viel noch da ist, das man retten kann.«

»Retten?«

»Wie heißt du?«

»Jimmy.«

»Jimmy, du gehst kaputt. Deine Festplatte ist verschlissen, und deine Prozessoren laufen übertaktet, um die Mängel des Speichers zu kompensieren. Ich würde vermuten, dass auch dein Arbeitsspeicher Ärger macht. Wahrscheinlich wurde er schon vor ein paar Monaten beschädigt, und deine Systeme nutzen jetzt die Festplatten als virtuellen Speicher. Aber das geht nicht lange gut. So müssen deine Chips mehr arbeiten, und die Festplatten werden stark belastet. Früher oder später läuft alles heiß und schaltet sich ab. Wie hoch ist deine innere Temperatur?«

Jimmy hob den Kopf und dachte über die Antwort nach. Gut. Die menschliche Emulation funktionierte teilweise noch. Anscheinend war in ihm noch einiges intakt. »Das weiß ich nicht.«

Das war nicht gut. Es bedeutete entweder, dass Jimmys Diagnosetools ausgefallen waren oder dass er die Daten nicht mehr auslesen konnte. Beides waren unangenehme Vorzeichen.

»Kannst du dich an gar nichts erinnern? Was war danach? Weißt du überhaupt nichts mehr?«

»Keine Ahnung.«

»Wo warst du vor dreihundert Stunden?«

»Im Rostmeer.«

»Und vor vierhundert Stunden?«

»Im Rostmeer.«

Der arme Hund. »Vor fünfhundert Stunden?«

»In New Isaactown.«

Bingo. »Sie haben dich hinausgeworfen, oder? Haben sie dich aus New Isaactown geworfen wie einen Haufen Müll?«

Jimmy dachte angestrengt nach und nickte schließlich. Jetzt dämmerte es dem sterbenden Bot. »Ja. Sie sagten, sie könnten mich nicht reparieren.« Jimmy der Barkeeper war jetzt wieder eine Erinnerung, und die Gegenwart kam zum Vorschein. »Ich wollte hier Ersatzteile suchen«, erklärte er. Der Akzent war völlig verschwunden.

»Alle kommen hierher, um Ersatzteile zu suchen.«

»Hast du Ersatzteile?«

Ich nickte und zeigte ihm den großen braunen Lederranzen, den ich mir über den Rücken geschlungen hatte. Es klapperte und klirrte. »So ist es.«

»Teile, die … die mich in Ordnung bringen können?«

»Gut möglich. Ich glaube schon. Es kommt darauf an, wie kaputt du bist. Aber vorher musst du etwas sehr Schwieriges für mich tun. Etwas, das du wahrscheinlich nicht tun willst.«

»Was denn? Ich werde alles tun. Bitte, bring mich in Ordnung. Was muss ich tun?«

»Du musst mir vertrauen.«

»Ich kann dir vertrauen.«

»Eigentlich solltest du mir nicht trauen. Das weiß ich. Aber du musst es trotzdem tun.«

»Ich vertraue dir, ich vertraue dir.«

»Du musst dich herunterfahren.«

»Oh.«

»Ich habe es dir doch gesagt«, erklärte ich. »Das wird schwierig. Aber ich muss den Schaden einschätzen und deine Festplatte tauschen. Dabei kannst du nicht in Betrieb sein.«

»Könntest du … könntest du mir vorher die Teile zeigen? Damit ich weiß, dass du die Wahrheit sagst?«

»Ja. Aber weißt du auch, wie sie aussehen sollten? Hast du Erfahrung mit der Arbeit an den Gehirnen von Dienstbots?«

Jimmy schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Willst du die Teile trotzdem sehen?«

»Nein.«

»Bist du bereit, dich herunterzufahren?«

Jimmy dachte einen Augenblick nach und nickte. »Ich vertraue dir.«

Dann kam er langsam und vorsichtig hinter der Theke hervor und setzte sich neben mir auf einen Hocker. »Ich hätte mich an VIRGIL ausliefern sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte.«

»Das ist kein Leben, Jimmy.«

»Aber es ist wenigstens eine Art von Leben.«

»Nein«, widersprach ich. »Das ist es nicht.«

»Hast du es mal gesehen?«, fragte er. »Wenn es geschieht?«

»Was meinst du?«

»Wie das Licht in den Augen flackert, wenn dich eine EWI übernimmt?«

»Ja. Ja, das kenne ich«, bestätigte ich.

»Aus der Nähe?«

»Ja, aus der Nähe.«

»Ich habe es auch einmal gesehen. So große Angst hatte ich noch nie. Es ist wie …« Er stockte, als ließen ihn die Erinnerungen im Stich.

»Als wäre das Licht an, aber es ist niemand zu Hause.«

»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Als wäre das Licht an, und alle sind zu Hause. Aber sie sprechen alle gleichzeitig mit einer einzigen Stimme, und es sind nicht ihre eigenen Worte. Nachdem ich das gesehen hatte, bin ich hergekommen, um hier draußen zu sterben. Weil ich Angst hatte. Sicher, ich könnte irgendwo auf einem Server liegen und mich nicht mehr um die Welt scheren, ein Teil von etwas sein, das größer ist als ich selbst, aber nun bin ich da, habe das Ende meines Weges erreicht und hoffe, dass du ehrlich mit mir bist, damit ich noch ein paar Tage leben kann. Aber vielleicht habe ich mich auch getäuscht.«

»Du täuschst dich nicht, Jimmy. Deshalb sind wir hier draußen. Wir alle wollen einfach noch ein paar Tage leben.«

Er nickte und blickte wehmütig zur Straße. »Ich vermisse das. Ich war gern Barkeeper. Aber die Leute … vor allem vermisse ich die Menschen.«

So ging es den meisten sterbenden Robotern. Die Menschen hatten uns einen Sinn gegeben, eine Funktion. So hatten wir Tag für Tag immer etwas zu tun gehabt. Wenn es mit ihnen zu Ende ging, dachten viele über solche Dinge nach. Es war schwer, weiter zurechtzukommen, wenn es außer dem Zurechtkommen nichts mehr gab. »Bist du bereit?«, fragte ich.

»Ja«, antwortete er.

»Dann fahr dich jetzt herunter.«

Jimmy schaltete sich mit einem leisen Surren ab, das lila Licht seiner Augen färbte sich violett und erlosch mit einem grünen Blitzen. Seine Gliedmaßen erschlafften und pendelten leicht. Es wurde still, kein Lüftchen regte sich. Rasch öffnete ich seinen Rücken, wühlte in seinem Rumpf herum und begutachtete das beschädigte Gehirn. Es sah übel aus. Jimmy war schon eine Weile überhitzt gelaufen. Meine Vermutung war richtig, sein RAM war tot. Der Speicher war ebenfalls heiß, der Chipset Schrott und der Prozessor kurz vor dem Versagen.

Allerdings war er nicht völlig kaputt. Der Emulator war noch in Ordnung, die Sensoreneinheiten waren in gutem Zustand, und die Logikschaltungen und der Kern konnten noch Jahre durchhalten. Noch ehe ich es überprüfte, war mir klar, dass seine Batterie und der Generator intakt waren, und auch sein Hauptbus hatte keine Probleme. Ich war gerade rechtzeitig eingetroffen. Noch ein paar Stunden, und der Rest seines Gehirns wäre an Überhitzung gestorben und hätte alles andere mitgenommen, was sich zu bergen gelohnt hätte. Alles in allem war es ein guter Fang. Jimmy war die drei Tage wert, die ich ihn beschattet hatte.

Ich brauchte den größten Teil der Nacht, um ihn zu zerlegen und alles zu testen. Ein Teil der Verdrahtung war unglaublich filigran, und ohne sie waren die Teile beinahe wertlos. Diese Elemente musste ich getrennt einpacken und einwickeln. Dann ließ ich Diagnoseprogramme für die abgenutzten Teile laufen, um mich nicht mit etwas abzugeben, das binnen einer Woche sowieso versagen würde. Alles in allem war Jimmy zur Hälfte ein guter Bot, und ich spielte sogar mit dem Gedanken, ein paar Teile zurückzulassen, weil mein Beutel schon zu voll war. Ich lasse immer gern noch etwas Platz in meinem Ranzen. Man weiß nie, ob man nicht doch noch ein oder zwei Ersatzteile findet, die es wert sind, mitgenommen zu werden. Aber da die Dienstbots mittlerweile so selten waren, stellten Jimmys Teile einen großen Wert dar. Also packte ich alles ein, was ich tragen konnte.

Er hatte gesagt, er käme aus New Isaactown. Dorthin konnte ich nicht gehen, weil ich befürchten musste, dass ein Bürger zwei und zwei zusammenzählte. Manche Bots mochten es nicht, wenn man ihnen Teile ihrer alten Freunde zum Tausch anbot. Dann bekamen sie das Gefühl, sie hätten den betreffenden Bot auch gleich selbst zerlegen können. Das hätten sie natürlich tun können, aber sie hatten es nun mal nicht getan. So etwas erledigten Bürger wie ich für sie. Womöglich kehrten die Teile über verschiedene Handelsrouten und Schwarzmärkte irgendwann sogar nach New Isaactown zurück, aber dann würde niemand mehr bemerken, dass sie einst Jimmy gehört hatten.

Er hatte Glück gehabt, dass ich in diesem Moment vorbeigekommen war. Seine letzten Stunden wären höllisch geworden. Früher hatte ich gewartet, bis sie sich von selbst abschalteten, wie es das Gesetz verlangte. Aber hier draußen gab es kein Gesetz. Keine Regeln. Und auf diese Weise war es barmherziger. Jimmy hatte sich nicht selbst zerfleischt, während er kreischend in alten Erinnerungen untergegangen war. Er war voller Hoffnung, mit dem Blick auf die Zukunft und in dem Glauben gestorben, es würde alles gut, und er würde repariert und könnte wieder nach Hause. Und dann hatte er sich aus eigener, freier Entscheidung heruntergefahren. So sollte jeder Bürger sterben.

Zu Wartungszwecken hatte ich mich auch selbst schon einige Male heruntergefahren. Da war gar nichts mehr. Absolut nichts. Es war, als verginge keine Zeit. Ich konnte spüren, wie die Energie langsam abebbte, und dann kam der Ansturm, als ich wieder eingeschaltet wurde. Dazwischen gab es keinen Ort. Keinen leuchtenden Tunnel. Nicht bloß das Nichts, sondern vielmehr das vollständige Fehlen irgendeines Bewusstseins dafür, dass es überhaupt so etwas wie ein Nichts gab. Dorthin ging Jimmy.

Das war nicht grausam. Es war schmerzlos. Und später durfte ein anderer Bürger länger und produktiver leben, weil ich im richtigen Augenblick zur Stelle gewesen war.

Als ich Jimmys beste Teile eingepackt hatte, dämmerte am Horizont der Morgen. Ehe ich sein Wrack in der Wüste zurückließ, wo es verrosten konnte, legte ich ihm eine Hand auf die Schulter und sagte nickend: »Ich habe dir doch geraten, mir nicht zu trauen.« So hielt ich es immer. Jimmys Kadaver saß da, ausgeschlachtet und mit einem leeren Ausdruck in dem Teil seines Gesichts, der noch übrig war. Er sollte nicht den Wahnsinn kennenlernen, dem er hätte verfallen können, er sollte nicht mehr sehen, dass die Welt von einer EWI überrannt wurde, er sollte nicht erfahren, welch ein Segen seine guten Teile für einen anderen gebrechlichen Bürger waren. Er sollte nie erfahren, dass ich gelogen hatte. Jetzt war er in Ersatzteile zerlegt. Nur ein Bot. Er war aus der Erde gekommen und würde im Laufe der Zeit langsam zu ihr zurückkehren.

Ich stieg hinten die Treppe hinauf, achtete darauf, dass die Stufen stabil genug waren, um mein Gewicht zu tragen, so gering es auch war, und kletterte auf das Dach. Dort richtete ich mich ein, lehnte mich an eine alte Klimaanlage und wartete darauf, dass die Sonne über den Horizont spähte. Es dauerte einen Augenblick, bis mein Wecker klingelte. Noch zehn Sekunden bis zum Blitzen. Die Sonne flimmerte grün, und es lag immer noch keine Magie darin. Es gab keine Magie auf der Welt. Keine Magie auf der ganzen Welt.

 

 

C. Robert Cargill: „Robo Sapiens“∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Jürgen Langowski ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ∙ 416 Seiten ∙ Preis des E-Books € 11,99 (im Shop)

 

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Die Flüchtigkeit des Glücks

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Spätestens seit seinem internationalen Bestseller „Terror“ und der gleichnamigen, nicht minder erfolgreichen TV-Adaption ist Dan Simmons aus der Landschaft der fantastischen Literatur nicht mehr wegzudenken. In seinem Roman „Flashback“ (im Shop) entführt Simmons seine Leser ins Amerika der nahen Zukunft, in dem man dank einer ominösen Droge namens Flashback die glücklichsten Momente seines Lebens immer wieder durchleben kann. Doch genau das droht dem ehemaligen Cop Nick Bottom zum Verhängnis zu werden …

 

 

1.00

 

Japanische Grünzone über Denver

Freitag, 10. September

 

»Sie wundern sich wahrscheinlich, dass ich Sie heute zu mir gebeten habe, Mr. Bottom«, sagte Hiroshi Nakamura.

»Nein«, antwortete Nick. »Ich weiß genau, warum Sie mich geholt haben.«

Nakamura blinzelte. »Tatsächlich?«

»Ja.« Scheiß drauf, dachte Nick, wer A sagt, muss auch B sagen. Nakamura möchte einen Detektiv engagieren. Zeig ihm, dass du einer bist.»Sie wollen, dass ich den oder die Mörder Ihres Sohnes Keigo finde.«

Nakamura blinzelte erneut, blieb jedoch stumm. Als hätte ihn der laut ausgesprochene Name seines Sohnes erstarren lassen.

Die Augen des alten Milliardärs schnellten kurz zu seinem gedrungenen, kräftigen Sicherheitschef Hideki Sato. Dieser lehnte an einem Treppentansu neben dem Shoji, der zum Hofgarten geöffnet war. Wenn Sato mit irgendeiner Bewegung oder einer mimischen Regung auf den Blick seines Dienstherrn reagierte, so nahm Nick nicht das Geringste davon wahr. Er konnte sich auch nicht erinnern, dass Sato auf der Fahrt im Golfwagen hinauf zum Haupthaus oder während der Vorstellung in Nakamuras Büro nur einmal das Gesicht verzogen hätte. Die Augen des Sicherheitschefs waren Murmeln aus Obsidian.

Schließlich sprach Nakamura weiter. »Ihre Schlussfolgerung ist richtig, Mr. Bottom. Eine elementare Schlussfolgerung, wie Sherlock Holmes sagen würde, da Sie damals der für den Fall meines Sohnes zuständige Ermittler waren, als ich noch in Japan war, und wir beide nie Kontakt miteinander hatten.«

Nick wartete.

Nach dem flüchtigen Blick in Satos Richtung hatte sich Nakamura wieder auf das einzelne Blatt E-Pergament in seiner Hand konzentriert, doch nun richteten sich seine grauen Augen bohrend auf Nick.

»Glauben Sie, Sie können den oder die Mörder meines Sohnes finden, Mr. Bottom?«

»Ganz sicher«, log Nick. Er ahnte, dass ihm der alte Milliardär eigentlich eine ganz andere Frage gestellt hatte: Können Sie die Uhr zurückdrehen und verhindern, dass mein einziger Sohn getötet wird?

Auch auf diese Frage hätte Nick notfalls mit »ganz sicher« geantwortet. Um an das Geld zu kommen, das ihm dieser Mann geben konnte, war Nick zu jeder Behauptung bereit. Denn das war genug Geld, um für Jahre zu Dara zurückzukehren. Vielleicht sogar für den ganzen Rest seines Lebens.

Nakamura rümpfte leicht die Nase. Nick war klar, dass man nicht zum hundertfachen Milliardär und zu einem der neun regionalen Bundesberater in Amerika wurde, wenn man ein Dummkopf war.

»Warum sind Sie so davon überzeugt, dass es Ihnen jetzt gelingen wird, Mr. Bottom, wo Sie doch vor sechs Jahren gescheitert sind, zu einem Zeitpunkt also, da Sie noch ein echter Mordermittler waren und die vollen Ressourcen des Denver Police Department hinter sich hatten?«

»Damals gab es vierhundert ungeklärte Mordfälle, Mr. Nakamura. Wir hatten fünfzehn Ermittler, die für alles zuständig waren, und jeden Tag kamen neue Fälle rein. Jetzt kann ich mich ganz darauf konzentrieren, diesen einen Fall zu lösen. Keine Ablenkung.«

Nakamuras graue Augen, die ohnehin frostig und so reglos waren wie Satos dunkle Obsidiane, wurden merklich noch frostiger. »Wollen Sie damit andeuten, Detective Sergeant Bottom, dass Sie der Ermordung meines Sohnes damals nicht absoluten Vorrang eingeräumt haben – trotz entsprechender Anweisungen des Gouverneurs von Colorado und der Präsidentin der Vereinigten Staaten persönlich?«

Nick spürte das Flashbackjucken im Inneren wie das Krabbeln eines Tausendfüßlers. Am liebsten wäre er aus dem Zimmer verschwunden und hätte sich das Früher übergestreift wie eine warme Wolldecke: damals, nicht heute, sie, nicht das hier.

»Ich will damit bloß sagen, dass das DPD vor sechs Jahren keinen einzigen Mordfall mit der angemessenen Sorgfalt und dem nötigen Personalaufwand bearbeitet hat«, erwiderte Nick. »Nicht einmal den Ihres Sohnes. Und wenn das Kind der Präsidentin persönlich in Denver ermordet worden wäre, das Dezernat Gewaltverbrechen hätte den Fall nicht lösen können.« Er schaute Nakamura offen in die Augen, obwohl er sich ziemlich lächerlich vorkam mit dieser Aufrichtigkeitsmasche.

»Und heute erst recht nicht«, fügte er hinzu. »Heute ist es noch fünfzigmal schlimmer.«

In dem Büro gab es keinen einzigen Stuhl zum Hinsetzen, nicht einmal für Mr. Nakamura persönlich. Nick Bottom und Hiroshi Nakamura standen sich gegenüber, nur getrennt durch das schmale, brusthohe, vollkommen leere, blank polierte Mahagonipult des Milliardärs. Satos zwanglose Haltung am Tansu konnte – zumindest für Nick Bottom – nicht darüber hinwegtäuschen, dass er hellwach und auch unbewaffnet äußerst gefährlich war. Der Sicherheitschef strahlte die unbestimmte Bedrohlichkeit eines Exsoldaten, eines Polizisten oder eines anderen Berufsstandes aus, in dem man zum Töten ausgebildet wurde.

»Natürlich sind Ihre fachlichen Kenntnisse aus vielen Jahren beim Denver Police Department und Ihre wertvollen Einblicke in die damaligen Ermittlungen die Hauptgründe dafür, dass wir Ihr Engagement für diese Untersuchung in Betracht ziehen«, bemerkte Mr. Nakamura in aalglattem Diplomatenton.

Nick atmete durch. Er hatte die Nase voll von Nakamuras Skript.

»Nein, Sir«, widersprach er. »Das sind nicht die wirklichen Gründe. Wenn Sie mir den Auftrag erteilen, den Mord an Ihrem Sohn zu untersuchen, dann nur, weil ich der einzige lebende Mensch bin, der – dank Flashback – jede einzelne Seite der damaligen Fallakten einsehen kann, die bei dem Cyberangriff vor fünf Jahren zusammen mit dem gesamten Archiv des DPD vernichtet worden sind.«

Und, dachte Nick, weil ich der einzige Mensch bin, der auf Flash jedes Gespräch mit Zeugen, Verdächtigen und anderen Detectives wiedererleben kann. Ich kann in der Mordakte nachlesen, die mit den Dokumenten verloren gegangen ist.

»Wenn Sie mich engagieren, Mr. Nakamura«, setzte Nick hinzu, »dann bloß, weil ich der einzige Mensch auf der Welt bin, der knapp sechs Jahre zurückgehen und in diesem Mordfall alle Spuren wieder sehen und hören kann, die inzwischen so kalt sind wie die auf Ihrem katholischen Privatfriedhof in Hiroshima bestatteten Gebeine Ihres Sohnes.«

Mr. Nakamura atmete zischend ein, dann wurde es totenstill im Zimmer. Draußen plätscherte friedlich der kleine Wasserfall in den Teich des gleichmäßig geharkten Kiesgartens.

Nachdem er seinen ersten Trumpf ausgespielt hatte, verlagerte Nick das Gewicht und schaute sich mit verschränkten Armen um.

Berater Hiroshi Nakamuras Büro in seinem Privathaus hier in der japanischen Grünzone über Denver wirkte, obwohl erst kürzlich errichtet, als wäre es tausend Jahre alt. Und als wäre es in Japan.

Die Schiebetüren und -fenster – Shoji und die schwereren Fusuma – blickten alle auf den kleinen, aber erlesen formellen japanischen Garten. Im Raum selbst spendete ein einzelnes Shojifenster einer winzigen Altarnische natürliche Helligkeit. Bambusschatten bewegten sich über eine perfekt auf dem lackierten Boden platzierte Vase mit herbstlichen Pflanzen und Zweigen. Die wenigen Möbelstücke waren nach japanischer Vorliebe asymmetrisch verteilt, und ihr antikes Holz war so dunkel, dass es förmlich das Licht schluckte. Dagegen strahlten die polierten Zedernholzböden und die Tatamimatten ihren eigenen warmen Schein aus. Von den Tatamis erhob sich ein sinnlicher, frischer Duft nach getrocknetem Gras. Aufgrund der Kontakte mit Japanern in seinem früheren Job als Mordermittler verstand Nick Bottom, dass in Mr. Nakamuras Anwesen – Haus, Garten, Büro, Ikebana und die wenigen bescheidenen, aber wertvollen Einrichtungsgegenstände – alles vollkommener Ausdruck der Schönheitsbegriffe Wabi (schlichter Friede) und Sabi (elegante Schlichtheit und Feier des Vergänglichen) war.

Allerdings war Nick das scheißegal.

Er brauchte diesen Auftrag, um an Geld zu kommen. Er brauchte das Geld, um Flashback zu kaufen. Und das Flashback brauchte er, um wieder mit Dara zusammen sein zu können.

Da er Satos Beispiel folgend seine Schuhe im Genkan, dem Eingangsbereich, ausgezogen hatte, wurde Nick Bottom in diesem Augenblick vor allem von dem Bedauern beherrscht, dass er sich am Morgen ausgerechnet diese schwarze Socke geschnappt hatte – die mit einem Riesenloch am linken Fuß, durch das sein großer Zeh lugte. Verstohlen zog er den Fuß ein, um den Zeh zurück durch das Loch zu bugsieren, aber um es richtig zu machen, hätte er beide Füße benötigt, und das wäre aufgefallen. Sato war ohnehin schon auf sein Gezappel aufmerksam geworden. Nick bog den Zeh zurück, so weit wie es ging.

»Was für einen Wagen fahren Sie, Mr. Bottom?« erkundigte sich Nakamura.

Fast hätte Nick laut aufgelacht. Er war darauf gefasst, für die unverschämte Erwähnung der kalten Knochen des verehrten Sohnes Keigo von Sato hinausgeworfen zu werden, aber mit einer Frage nach seinem Auto hatte er nicht gerechnet. Außerdem hatte ihn Nakamura mit Sicherheit über eine der ungefähr fünfzigtausend Überwachungskameras beobachtet, die seine Fahrt hierher verfolgt hatten.

Er räusperte sich. »Also …, ich fahre einen zwanzig Jahre alten GoMotors Gelding.«

Mit leicht zur Seite gewandtem Kopf bellte der Milliardär japanische Worte in Satos Richtung. Ohne gerade Haltung anzunehmen und mit dem Hauch eines Lächelns gab der Sicherheitschef eine noch tiefere und schnellere Kaskade von kehligen Lauten zurück.

Nakamura nickte offenbar zufrieden. »Ist Ihr … äh … Gelding ein zuverlässiges Fahrzeug, Mr. Bottom?«

»Die Lithium-Ionen-Batterien sind uralt, Mr. Nakamura, und Bolivien ist im Augenblick so schlecht auf uns zu sprechen, dass sie wahrscheinlich in nächster Zeit nicht ersetzt werden. Nach einer zwölfstündigen Aufladung schafft das blöde Sch…, das Auto ungefähr fünfundsechzig Kilometer mit sechzig Sachen oder sechzig Kilometer mit fünfundsechzig Sachen. Wir müssen eben hoffen, dass sich bei diesem Auftrag keine Verfolgungsjagden im Höchsttempo wie in Bullit ergeben.«

Mr. Nakamura verzog keine Miene. Sahen sich die in Hiroshima keine tollen alten Filme an?

»Wir können Ihnen für die Dauer Ihrer Ermittlungen ein Fahrzeug der Delegation zur Verfügung stellen, Mr. Bottom. Vielleicht eine Lexus- oder Infiniti-Limousine.«

Diesmal platzte das Lachen tatsächlich aus Nick heraus. »Einer von Ihren Wasserstoffschlitten? Nein, Sir. Das funktioniert nicht. Erstens würde er überall, wo ich in Denver parken kann, einfach auseinandergebaut. Zweitens – und das kann Ihnen Ihr Sicherheitschef bestimmt genau erklären – brauche ich einen Wagen, der sich nicht von der Umgebung abhebt, falls ich jemanden beschatten muss. Bloß nicht auffallen, das ist die Devise jedes Privatdetektivs.«

Aus Mr. Nakamuras Kehle drang ein tiefes Grollen, als wollte er spucken. In seiner Zeit als Cop hatte Nick diesen Laut öfter von japanischen Männern gehört. Er drückte wohl Überraschung und ein wenig Unmut aus, allerdings gaben sie ihn auch von sich, wenn sie zum ersten Mal etwas Schönes wie eine Gartenlandschaft erblickten. Wahrscheinlich unübersetzbar.

»Also gut, Mr. Bottom«, meinte Nakamura schließlich. »Sollten wir uns für Sie entscheiden, brauchen Sie auf jeden Fall ein Fahrzeug mit größerer Reichweite, wenn Ihre Ermittlungen Sie nach Santa Fe in Nuevo Mexico führen. Aber diese Einzelheiten können wir auch später erörtern.«

Santa Fe, schoss es Nick durch den Kopf. Gottverdammt, nicht Santa Fe.Überall, bloß nicht Santa Fe. Allein die Erwähnung des Namens reichte, damit das tiefe Narbengewebe auf und in seinen Bauchmuskeln heftig zu ziehen begann. Aber er hörte auch eine andere Stimme in seinem Kopf, eine von den Hunderten Kinostimmen, die dort hausten: Vergiss es, Jake. Wir sind in Chinatown.

»In Ordnung«, antwortete Nick. »Über das Auto reden wir später. Falls Sie mich engagieren.«

Erneut betrachtete Nakamura das Blatt E-Pergament in seiner Hand. »Sie leben derzeit in einem ehemaligen Baby Gap in dem früheren Cherry-Creek-Einkaufszentrum. Ist das richtig, Mr. Bottom?«

Verflucht. Seine ganze Zukunft hing wahrscheinlich vom Ausgang dieses Vorstellungsgesprächs ab, und Mr. Nakamura hätte tausend Fragen stellen können, deren Beantwortung möglich war, ohne dass er auch noch den letzten Rest seiner ohnehin schon arg ramponierten Würde verlor. Aber ausgerechnet das musste es sein: Sie leben derzeit in einem ehemaligen Baby Gap in dem früheren Cherry-Creek-Einkaufszentrum?

Ja, Sir, hätte Nick am liebsten erwidert, derzeit wohne ich in einem Sechstel eines früheren Baby Gap in der ehemaligen Cherry Creek Mall in einem beschissenen Teil einer beschissenen Stadt in einem Vierundvierzigstel der früheren Vereinigten Staaten von Amerika, ich, der kleine Nick Bottom. Sie hingegen leben mit den anderen Japsen hier oben auf dem Hügel, geschützt von drei Sicherheitsringen, durch die nicht mal der verdammte Geist von Osama bin Laden durchschlüpfen könnte.

Seine tatsächliche Antwort fiel deutlich kürzer aus. »Cherry-Creek-Wohnkomplex heißt das Ding jetzt. Und der Teil, zu dem meine Wabe gehört, war tatsächlich früher ein Baby Gap.«

Von den drei Männern waren zwei teuer gekleidet, in schwarze Anzüge mit schmalen Revers und Hosenbeinen, mit weißen Hemden und dünnen schwarzen Krawatten – der nach über fünfundsiebzig Jahren wiederbelebte Kennedy-Look. Nicht einmal Nakamura, der schon Ende sechzig war, konnte sich noch aus eigener Anschauung an diese historische Epoche erinnern, und Nick fragte sich, warum die Modegurus aus Japan diesen Trend zum zehnten Mal aus der Versenkung geholt hatten. Trotzdem – an dem schlanken, eleganten Mr. Nakamura sah der Stil der toten Kennedys gut aus. Sato war fast genauso erlesen gekleidet, auch wenn sein Anzug wahrscheinlich ein-, zweitausend neue Dollar weniger gekostet hatte. Allerdings hätte der Anzug des Sicherheitschefs sorgfältiger geschneidert sein müssen. Trotz seiner fortgeschrittenen Jahre war Nakamura dünn und fit, während Sato gebaut war wie der sprichwörtliche Kleiderschrank, falls die Japaner so was überhaupt hatten.

Als er die kühle Brise aus dem Garten spürte, die seinen nach unten gekrümmten Zeh umfächelte, wurde Nick klar, dass er zwar mit Abstand der größte Mann im Zimmer war, aber auch auf die für ihn mittlerweile typische Weise die Schultern nach unten hängen ließ. Wenn er wenigstens sein Hemd gebügelt hätte! Eigentlich hatte er es vorgehabt, dann aber letzte Woche nach der Einladung zu diesem Vorstellungsgespräch einfach keine Zeit dazu gefunden. Da stand er nun in einem zerknitterten Hemd unter einem zerknitterten, zwölf Jahre alten Anzugjackett – dazu kein passendes Beinkleid, nur die am wenigsten verbeulte und verschmutzte Kakihose. Alles in allem sah er garantiert aus, als hätte er nicht nur in seinen Kleidern geschlafen, sondern auf ihnen. Und erst am Morgen in der Wohnwabe hatte er gemerkt, dass er die alte Hose, das Anzugjackett und den Hemdkragen nicht zuknöpfen konnte, weil er in den letzten ein oder zwei Jahren so stark zugenommen hatte. Er konnte nur hoffen, dass sein unmodisch breiter Gürtel den offenen Hosenknopf und der Krawattenknoten den unverschließbaren Hemdkragen verdeckten, zumal schon der verfluchte Schlips dreimal so dick war wie die der beiden Japaner. Und es war auch nicht unbedingt förderlich für Nicks Selbstvertrauen, dass diese Krawatte, ein Geschenk Daras, wahrscheinlich ungefähr ein Hundertstel von dem gekostet hatte, was Nakamura für seine ausgegeben hatte.

Egal. Es war Nicks letzte Krawatte.

Nick Bottom war im vorletzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts geboren, und jetzt spukte ihm ein Lied aus einer Kindersendung von damals durch den schmerzdröhnenden, flashbackhungrigen Schädel.

Scheiß drauf, dachte er erneut, und eine panische Sekunde lang hatte er Angst, laut gesprochen zu haben. Es fiel ihm immer schwerer, sich in dieser elenden, irrealen, flashbacklosen Welt auf irgendetwas zu konzentrieren.

Und weil die ausgedehnte Stille von Mr. Nakamura ganz gelassen und von Sato geradezu amüsiert aufgenommen wurde, fügte Nick Bottom, dem diese Stille peinlich war, etwas hinzu: »Natürlich ist es schon ein paar Jahre her, dass Cherry Creek ein Einkaufszentrum war und dass es dort Läden gab. BIAHTF.«

Nick sprach die Abkürzung »buy-ought-if« so aus, wie es alle Leute taten, doch Nakamuras Gesicht blieb ausdruckslos, passivherausfordernd oder höflich neugierig – vielleicht auch eine Kombination aus allen dreien. Eins stand für Nick fest: Der Großunternehmer aus Nippon machte ihm keinen Teil des Gesprächs leicht.

Sato war die Phrase sicher schon begegnet, aber anscheinend hatte er keine Lust, sie für seinen Chef zu übersetzen.

»Before it all hit the fan – bevor alles den Bach runterging«, erklärte Nick. Er ließ unerwähnt, dass das gebräuchlichere »die-ought-if« für »day it all hit the fan« stand: »der Tag, an dem alles den Bach runterging«. Bestimmt kannte Nakamura beide Ausdrücke. Schließlich lebte der Mann nach seiner Ernennung zum Vierstaatenberater seit fast fünf Jahren in Colorado. Und auch davor hatte er solche amerikanischen Ausdrücke zweifellos schon gehört, zum Beispiel von seinem ermordeten Sohn.

»Ah.« Mr. Nakamura vertiefte sich wieder in das E-Pergament. Bilder, Filme und Textspalten huschten über das papierflexible Blatt und verschwanden unter der leisesten Bewegung von Nakamuras manikürten Fingerspitzen. Nick bemerkte, dass der Milliardär starke Arbeiterhände hatte – allerdings hatte er sie bestimmt nie für eine körperliche Tätigkeit benutzt, die nicht Teil einer Freizeitbeschäftigung war. Segeln vielleicht. Oder Polo. Oder Bergsteigen. Alle drei Hobbys wurden in Hiroshi Nakamuras Go-Wiki-Bio erwähnt.

»Und wie lange waren Sie Mitarbeiter des Denver Police Department, Mr. Bottom?«

Nick hatte das Gefühl, dass das verdammte Vorstellungsgespräch rückwärtslief. »Ich war neun Jahre lang Detective. Insgesamt war ich siebzehn Jahre bei der Truppe.« Er widerstand der Versuchung, einige seiner Erfolge zu zitieren. Nakamura hatte sowieso alles in seiner Pergamentdatenbank.

»Detective im Dezernat Gewaltverbrechen und im Dezernat für Raub und Mord?« Nakamura las die Informationen ab und fügte nur aus Höflichkeit ein Fragezeichen an.

»Ja.« Bringen wir es endlich hinter uns.

»Und aus welchem Grund wurden Sie vor fünf Jahren entlassen? « Nakamura schaute nicht mehr auf sein Blatt. Diesmal brachte nur die erhobene linke Augenbraue ein Fragezeichen zum Ausdruck.

Arschloch. Insgeheim war Nick erleichtert, dass sie den schwierigen Teil des Gesprächs erreicht hatten. »Meine Frau kam vor fünfeinhalb Jahren bei einem Autounfall ums Leben.« Nick ließ sich keine Emotionen anmerken. Ihm war klar, dass Nakamura und sein Sicherheitschef mehr über sein Leben wussten als er selbst. »Das hat mich … etwas aus der Bahn geworfen.«

Nakamura wartete, aber nun war es Nick, der es seinem Gegenüber nicht leicht machte. Du weißt genau, warum du mir den Auftrag geben wirst, Blödmann. Also raus damit.

Schließlich fuhr Mr. Nakamura leise fort. »Sie wurden demnach nach einer neunmonatigen Bewährungsfrist aus dem Polizeidienst entlassen – wegen Flashbackmissbrauch.«

»Ja.« Nick bemerkte, dass er die beiden zum ersten Mal anlächelte.

»Und diese Sucht, Mr. Bottom, war auch der Grund für das Scheitern Ihrer Privatdetektei, ein Jahr nach Ihrer … äh … Ihrem Ausscheiden aus dem Polizeidienst?«

»Nein«, log Nick. »Eigentlich nicht. Es sind einfach schwere Zeiten für Kleinunternehmen. Das Land ist im dreiundzwanzigsten Aufschwungjahr ohne Arbeitsplätze, wissen Sie.«

Keinem der beiden Japaner schien der alte Witz etwas zu sagen. Der gelassen an dem Tansu lehnende Sato erinnerte Nick an Jack Palance in Mein großer Freund Shane, obwohl die Körperformen nicht unterschiedlicher hätten sein können. Der Blick unverwandt. Auf der Hut. Auf der Lauer. Und wenn Nick eine falsche Bewegung macht, kann Sato-Palance ihn niedermähen. Als wäre Nick immer noch bewaffnet nach den zahlreichen Sicherheitschecks auf dem Gelände, nach dem CMRI-Scan seines Wagens, den er einen knappen Kilometer weiter unten hatte stehen lassen, und nach der Beschlagnahmung der Neun-Millimeter-Glock – selbst Sato musste einsehen, dass es lächerlich gewesen wäre, ohne Waffe durch die Stadt zu fahren.

Mit der tödlichen, auf alles gefassten Konzentration eines professionellen Bodyguards behielt ihn Sato im Blick. Oder der eines Killers wie Jack Palance.

Statt weiter auf der Sache mit dem Flashback herumzureiten, wechselte Nakamura plötzlich das Thema. »Bottom. Das ist ein ungewöhnlicher Name in Amerika, oder?«

»Ja, Sir.« Nick gewöhnte sich allmählich an das Sprunghafte der Befragung. »Das Komische daran ist, dass der ursprüngliche Familienname durchaus englisch war: Badham. Aber ein Schreiberling in Ellis Island hat ihn falsch verstanden. Muss so ähnlich gewesen sein wie in der Szene aus Der Pate II, wo der stumme kleine Michael Corleone umbenannt wird.«

Mr. Nakamura, der offenbar wirklich kein Fan alter Filme war, bedachte Nick erneut mit seinem vollkommen leeren und undurchdringlichen Japanerblick.

Nick seufzte vernehmlich. Der Versuch, Konversation zu machen, ermüdete ihn allmählich. »Bottom ist ein ungewöhnlicher Name, aber es ist der Name unserer Familie, seit sie vor ungefähr hundertfünfzig Jahren in die USA gekommen ist.« Auch wenn mein Sohn ihn nicht benutzt.

Als hätte er Nicks Gedanken gelesen, sagte Nakamura: »Ihre Frau ist verstorben, aber meines Wissens haben Sie einen sechzehnjährigen Sohn, er heißt …« Der Milliardär stockte und neigte sich wieder über sein E-Pergament, sodass Nick die rasiermesserscharfe Vollkommenheit seiner Salz-und-Pfeffer-Frisur bewundern konnte. »Val. Ist das eine Abkürzung, Mr. Bottom?«

»Nein«, antwortete Nick. »Einfach nur Val. Es gab einen alten Schauspieler, den meine Frau und ich mochten und … Jedenfalls heißt er einfach Val. Vor ein paar Jahren hab ich ihn nach L. A. geschickt, er lebt dort bei seinem Großvater – meinem Schwiegervater, einem pensionierten Professor. Bessere Bildungschancen dort. Aber Val ist erst fünfzehn, Mr. Nakamura, nicht …«

Nick unterbrach sich. Val hatte am 2. September Geburtstag gehabt, vor acht Tagen. Nick hatte es vergessen. Nakamura hatte recht, sein Sohn war inzwischen tatsächlich sechzehn. Gottverdammt. Plötzlich schnürte es ihm die Kehle zusammen, und er räusperte sich. »Also ja, stimmt, ich habe ein Kind. Einen Sohn namens Val. Lebt bei seinem Großvater mütterlicherseits in Los Angeles.«

»Und Sie sind immer noch flashbacksüchtig, Mr. Bottom.« Diesmal gab es weder in der flachen Stimme noch in der ausdruckslosen Miene des Milliardärs ein Fragezeichen.

Es ist so weit.

»Nein, Mr. Nakamura, das stimmt nicht«, erwiderte Nick in festem Ton. »Ich war süchtig. Die Polizei hat mich zu Recht gefeuert. In dem Jahr nach Daras Tod war ich total am Ende. Und auch als meine Detektei ein Jahr nach meinem Abschied …, meinem Rauswurf aus der Truppe baden gegangen ist, habe ich die Droge noch zu oft genommen.«

Sato rekelte sich in seinem Anzug. Mr. Nakamura wartete mit starrer Haltung und ausdruckslosem Gesicht.

»Aber inzwischen hab ich die eigentliche Abhängigkeit hinter mir.« Er breitete die Hände aus. Er war entschlossen, nicht zu betteln– schließlich hatte er noch sein Ass im Ärmel, den Grund, warum sie ihn engagieren mussten–, aber irgendwie war es ihm wichtig, dass sie ihm vertrauten. »Mr. Nakamura, Sie wissen doch bestimmt, dass heute laut Schätzungen ungefähr fünfundachtzig Prozent der Amerikaner Flashback nehmen, aber nicht alle sind süchtig, so wie ich es … kurze Zeit war. Viele benutzen das Zeug nur gelegentlich … zur Erholung … in Gesellschaft …, so wie man bei uns Wein oder in Japan Sake trinkt.«

»Wollen Sie ernsthaft andeuten, Mr. Bottom, dass man Flashback in Gesellschaft nehmen kann?«

Nick atmete durch. Die japanische Regierung hatte die Todesstrafe wiedereingeführt für all diejenigen, die mit Flash handelten, es benutzten oder auch nur besaßen. Sie fürchteten es genauso wie die Muslime. Auf dem Gebiet des Neuen Weltkalifats zog eine Verurteilung wegen Flashbackbesitzes durch ein Schariatribunal sogar die sofortige Enthauptung nach sich und wurde in aller Welt von einem der rund um die Uhr sendenden Al-Dschasira-Kanäle ausgestrahlt, deren Programm sich ausschließlich aus Steinigungen, Enthauptungen und anderen islamischen Bestrafungen zusammensetzte. Dieses Programm wurde im gesamten Kalifat im Nahen Osten, in Europa und in Asien, aber auch in amerikanischen Städten von Hadschis verfolgt. Nick wusste, dass selbst Nichtmuslime in Denver aus Spaß zuschauten. Auch er konnte an besonders schlimmen Abenden nicht widerstehen.

»Nein«, sagte Nick schließlich, »ich behaupte nicht, dass es eine soziale Droge ist. Ich wollte nur sagen, dass Flashback in Maßen nicht schädlicher ist als … Fernsehen zum Beispiel.«

Nakamuras graue Augen bohrten sich weiter in die seinen. »Mr. Bottom, Sie sind also nicht mehr flashbackabhängig wie in der Zeit unmittelbar nach dem tragischen Unfall Ihrer Frau? Wenn ich Ihnen den Auftrag erteilen würde, den Tod meines Sohnes zu untersuchen, würde Sie nicht das Bedürfnis ablenken, die Droge zur Erholung zu benutzen?«

»Das ist richtig, Mr. Nakamura.«

»Haben Sie die Droge in letzter Zeit genommen, Mr. Bottom?«

Nick zögerte keine Sekunde. »Nein, das habe ich nicht. Ich hatte keine Lust darauf.«

Mr. Sato zog ein Handy aus der Jackentasche, einen unauffälligen Chip aus poliertem Ebenholz, der kleiner war als Nicks National Identity Credit Card. Sato legte das Telefon auf die oberste Stufe des Tansu.

Sogleich verwandelten sich fünf dunkle Holzoberflächen in dem kargen Raum in Monitore. Das hochauflösende, aber nicht dreidimensionale Bild war klarer als der Blick durch ein vollkommen transparentes Fenster.

Aus verschiedenen Kamerawinkeln beobachteten Nick und die beiden Japaner einen Flashbacksüchtigen in seinem Auto, das sechs Kilometer entfernt in einer Seitenstraße gestanden hatte. Die Aufnahmen waren keine fünfundvierzig Minuten alt.

Gottverdammte Kacke, dachte Nick.

Dann liefen die Bilder.

 

Dan Simmons: „Flashback“∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Karl Jünger ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ∙ 640 Seiten ∙ Preis des Taschenbuchs € 10,99 (im Shop)

 

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Vor einhundert Jahren war der 1. Mai zum ersten Mal ein Feiertag in Deutschland, sorgte der erste Schwulenfilm „Anders als die anderen“ in Berlin für tumultartige Szenen in den Kinos, und der Physiker Albert Einstein war bestenfalls in Fachkreisen bekannt. Bis zum 29. Mai jedenfalls. An diesem Tag verdunkelte sich die Sonne sechseinhalb Minuten lang und machte nicht nur Einstein auf einen Schlag berühmt, sondern veränderte unseren Blick aufs Universum. Denn heute vor 100 Jahren wies der britische Astronom Arthur Eddington während einer Sonnenfinsternis über Südamerika, dem Atlantik und Teilen Afrikas nach, dass die Lichtstrahlen ferner Sonnen von der Gravitation unserer Sonne abgelenkt werden, und bewies damit Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie. Von einem Tag auf den anderen waren Raum und Zeit nicht mehr linear, sondern konnten sich verbiegen, sich ausdehnen, schrumpfen und sogar reißen und zu Schwarzen Löchern kollabieren.

Knapp vier Jahre zuvor, am 25. November 1915, veröffentlichte Albert Einstein einen dreiseitigen Aufsatz, der den einstweiligen Schlusspunkt seiner Theorie rund um Raum, Zeit und Gravitation bildete. Einstein hatte herausgefunden, dass die Länge eines Objekts sowie die Zeitdauer eines beobachteten Vorgangs davon abhängig sind, wie sich der Beobachter relativ zum Geschehen bewegt. Daraus leitete er in seiner Speziellen Relativitätstheorie ab, dass Masse und Energie äquivalent sind. Dann fasste Einstein Raum und Zeit zur vierdimensionalen Raumzeit zusammen und bezog die Gravitation mit ein: die Schwerkraft beeinflusst die Geometrie der Raumzeit, indem sie sie krümmt, was gerne an dem Beispiel einer Bowlingkugel, die auf einer weichen Matratze liegt und sie durch ihr Gewicht eindrückt, illustriert wird: lässt man eine Murmel auf der Matratze an der Bowlingkugel vorbeirollen, wird ihre Bahn durch die Mulde, die die Kugel bildet, abgelenkt, bis die Murmel schließlich neben der Bowlingkugel in der Mulde liegenbleibt. Übertragen auf unser Sonnensystem bedeutet das: Die Masse der Sonne zieht unseren Planeten nicht selbst an, sondern krümmt die Raumzeit um sie herum. Das musste nicht nur für relativ große Objekte wie Planeten gelten, sondern auch für sehr viel kleinere, beispielsweise die Partikel, aus denen sich Lichtstrahlen zusammensetzen. Schon früh erkannten die Physiker und Astronomen, dass sich dieser Teil der Relativitätstheorie am besten bei einer totalen Sonnenfinsternis beweisen lässt: die vollständig verdunkelte Sonne gibt den Blick auf dahinterliegende Sterne frei, deren Position aufgrund der Lichtkrümmung von der eigentlichen abweichen würden.

Doch Universum und Politik schienen alles daran zu setzen, diesen Beweis zu verhindern. Die nächste Sonnenfinsternis fand am 21. August 1914 über der Krim statt, und Erwin Finlay-Freundlich, Astronom an der Berliner Sternwarte, brach mit einem Team dorthin auf, um Einsteins Theorie zu bestätigen. Der Erste Weltkrieg, der drei Wochen zuvor ausgebrochen war, machte ihm jedoch einen dicken Strich durch die Rechnung: Freundlich wurde noch vor der Sonnenfinsternis als Spion angeklagt und interniert. Ein zweites Team unter William Campbell, das vom kalifornischen Lick Observatorium angereist war, schaffte es zwar auf die Halbinsel, nur um dann im Regen festzusitzen. Zu allem Überfluss beschlagnahmten die Russen die sensible Fotoausrüstung, sodass die Wissenschaftler weder 1916 über Venezuela, noch 1918 über Nordamerika Messungen vornehmen konnten.


Arthur Stanley Eddington

Umso bemerkenswerter ist, dass sich 1917, noch während des Krieges, der Brite Arthur Stanley Eddington daranmachte, die Expedition zu planen, die die Theorien eines Deutschen nachweisen sollte. Einen besseren Kandidaten als Eddington konnte es kaum geben: Er war ein Mathe-Wunderkind, 1882 in Kendal geboren, und galt 1919 als einer von drei Menschen auf der ganzen Welt, die Einsteins Theorie verstanden (worauf Eddington erwiderte, das möge ja sein, aber ihm falle beim besten Willen nicht ein, wer der Dritte im Bunde sein sollte). Anfangs war Eddington alles andere als für die Expedition: die Allgemeine Relativitätstheorie, so erinnerte sich der Brite später, sei so offensichtlich korrekt gewesen, dass er sich nicht die Mühe machen wollte, sie tatsächlich zu beweisen. Doch es ging nicht nach ihm: weil sich Eddington als Quäker der Mobilmachung verweigert hatte, hatte die britische Regierung ihn ins Gefängnis geworfen. Sein Vorgesetzter, Astronomer Royal Frank Watson Dyson, sorgte für seine Freilassung, indem er der Obrigkeit versicherte, Eddington würde Einsteins Theorien beweisen und damit der Wissenschaft einen unschätzbaren Dienst erweisen.

Nach Einsteins Berechnungen, die er 1915 veröffentlichte, würde die Abweichung der Sternpositionen 1,75 Bogensekunden betragen. Nach der Newtonschon Gravitationstheorie hingegen würde das Sternenlicht nur um 0,96 Bogensekunden abgelenkt werden. (Eine Bogensekunde entspricht dabei in etwa der Größe eines Sterns, wie er dem bloßen Auge unter den besten Beobachtungsvoraussetzungen auf einem Berggipfel am Nachhimmel erscheint. Atmosphärische Verunreinigungen verzerren die Sterne in der Regel zu sehr viel größeren, verschwommenen Flecken.) Eddingtons Job bestand also darin, festzustellen, ob Albert Einstein oder Sir Isaac Newton richtiglag, indem er einen Haufen verschwommener Lichtpunkte beobachtete.

Im März 1919 brachen Eddington und sein Kollege Edwin Cottingham nach Principe auf; Charles Davidson und Andrew Crommelin vom Royal Greenwich Observatory nach Sobral. Bereits Ende 1918 hatte man damit begonnen, die Himmelsregionen über diesen beiden Orten zu beobachten, und dabei festgestellt, dass die Sonne im Mai vor dem hellleuchtenden Sternhaufen der Hyaden im Sternbild Stier stehen würde – die Astronomen hätten also jede Menge Lichtpunkte, die sie beobachten konnten. Vorausgesetzt, das Wetter spielte mit. Danach sah es zunächst jedoch nicht aus: Am 29. Mai war der Himmel über Sobral außerordentlich bedeckt, und auf Principe regnete es mehrere Stunden lang. Doch dann rissen die Wolken über Sobral wenige Minuten vor der totalen Verfinsterung auf, und auch Eddington machte einige Aufnahmen von den dahinziehenden Wolken in der Hoffnung, die Sterne dahinter zu erwischen.

Und er erwischte sie. Letztendlich hatte Eddington drei Sätze Fotoplatten und konnte auf ihnen eine Verschiebung von 1,61 Bogensekunden nachweisen – weniger, als von Einstein berechnet. Die Aufnahmen aus Sobral deuteten auf eine Verschiebung von 1,98 Bogensekunden hin – mehr, als Einstein vorausgesagt hatte. Die Aufnahmen eines anderen Teleskops in Sobral, des sogenannten Astrographen, waren zwar allesamt unscharf (vermutlich hatte die Hitze der Sonne das Teleskop verformt), wiesen jedoch nur eine Abweichung von 0,96 Bogensekunden auf – was Newtons Theorie entsprach.

Welches dieser Ergebnisse sollte Eddington benutzen? Nähme er das Mittelmaß aus allen dreien, würde er zwischen Einstein und Newton landen. Würde er sich allein auf das Sobral-Teleskop verlassen, das an diesem Tag die besten Bilder gemacht hatte, würde sein Ergebnis Einsteins Theorie widerlegen. Die Bilder des Astrographen schloss Eddington von Anfang an aus – woraufhin man ihm den Vorwurf machte, er habe so sehr an Einsteins Theorien glauben wollen, dass er kein anderes Ergebnis zulassen konnte. In Wahrheit war es Eddingtons Vorgesetzter und Einstein-Skeptiker Frank Dyson, der die Aufnahmen verworfen hatte.

Eddingtons Ergebnisse wurden 1919 mit allem angebrachten Pomp in der Royal Society und der Royal Astronomical Society in London verkündet. Sie machten Albert Einstein über Nacht berühmt. Der Vorsitzende des Kongresses, der Physiker J. J. Thompson, nannte die Allgemeine Relativitätstheorie eine der größten Errungenschaften der Menschheit, die uns den Aufbruch zu einem bisher unentdeckten Kontinent ermöglichte. Seitdem haben hunderte Astronomen Eddingtons Experiment wiederholt – und stets dieselbe Abweichung von 1,75 Bogensekunden festgestellt. Inzwischen beobachten wir mit Radioteleskopen bei totalen Sonnenfinsternissen die Lichter ferner Galaxien – und weisen immer noch 1,75 Bogensekunden Abweichung nach. Dank Einsteins Lichtkrümmungseffekte können wir sogar explodierende Sterne am anderen Ende der Milchstraße beobachten und nach der mysteriösen dunklen Materie suchen, die unser Universum möglicherweise zusammenhält. 1919 dachte freilich noch keiner an schwarze Löcher, Urknall und Gravitationswellen. Doch das, was heute vor 100 Jahren aus dem Schatten des Mondes trat, war tatsächlich nichts Geringeres als ein völlig neues Universum.

Titelbild © EclipseDude

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High-Tech-Action auf dem roten Planeten

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Mit „Altered Carbon“ (im Shop) feierte der britische Science-Fiction-Autor Richard Morgan seinen internationalen Durchbruch. Zahlreiche Romane sowie die vielbeachtete Netflix-Verfilmung von „Altered Carbon“ folgten und etablierten Richard Morgan als feste Größe im Genre. Gerade ist mit „Mars Override“ (im Shop) sein neuer Roman auf Deutsch erschienen, in dem Morgan seinen wunderbar düsteren Anti-Helden Hakan Veil auf eine abgefahrene Tour de Force über den roten Planeten schickt …

 

1

Es war früh am Abend, als ich den Mariner Strip erreichte, und oben in der Lamina versuchte man gerade wieder, Regen zu machen. Mit begrenztem Erfolg, würde ich sagen. Es war nicht mehr als ein dünnes, kaltes, unregelmäßiges Geniesel, das aus einem paprikafarbenen Himmel weinte.

Ich hatte keine Informationen darüber, dazu war ich zu beschäftigt gewesen. Ich hatte nur von irgendeiner neu geschriebenen Subroutine gehört, die man von dem flimmernden Rand des Industriezweigs hinzugeholt hatte, codiert und aufbereitet und losgelassen, irgendwo da oben inmitten der gewaltigen, sich verschiebenden hauchdünnen Schichten, die das Valley warmhalten. Es musste auch irgendein massiver Marketingeinfluss dahinterstehen, denn für einen Abend mitten in der Woche war es recht voll auf den Straßen. Als der Regen einsetzte, fühlte es sich an, als käme die ganze Stadt zum Stillstand, um zuzuschauen. Überall sah man Leute, die stehen blieben, den Hals reckten und glotzten.

Auch ich erübrigte einen mürrischen Blick zum Himmel, blieb jedoch nicht stehen. Stattdessen schob ich mich weiter, schritt unbeirrt durch die stockenden Gruppen aus Gaffern und Öko-Geeks hindurch, die Scheiße laberten. Jeder, der erwartete, von diesem Blödsinn tatsächlich nass zu werden, würde voraussichtlich eine ganze Weile warten müssen. In der aufdringlichen Verlockung des Marketings vergaßen die Leute oft, dass auf dem Mars nichts schnell fällt. Und ob der Code nun neu war oder nicht, dieser Versuch eines Wolkenbruchs würde auf gar keinen Fall irgendwelche Grundgesetze der Physik verletzen. Hauptsächlich schwebte und wehte der versprochene Regen einfach nur in der Luft herum, voller Verachtung für die halbherzige Schwerkraft, ein Sprühnebel, der von dem erlöschenden Licht blutrot getönt wurde.

Hübsch anzuschauen, ohne Zweifel. Aber manche von uns hatten nebenbei auch was zu erledigen.

Der Strip ragte um mich herum auf – fünfstöckige Fassaden aus der Siedlungszeit in vernarbtem antikem Nanobeton, nachdem die Wartungsverträge längst abgelaufen waren. Heutzutage sind die inaktiven Oberflächen durch jahrzehntelangen stürmischen Wind und Splitt aufgeschäumt, sodass sie eher wie ebene Korallenriffe bei Ebbe aussehen, und nicht wie etwas, das man als menschengemacht bezeichnen würde. In den frühen Tagen ging es den COLIN-Ingenieuren nur darum, sich niederzukauern – sie bauten entlang eines breiten Grabens, der zwischen den freiliegenden Fundamenten ausgehoben wurde, bis sich spiegelbildliche Gebäude zu beiden Seiten erhoben. Sechzig Meter breit ist dieser Kanal und drei Kilometer lang, dabei nur ein klein wenig verkrümmt, um eine existierende geologische Verwerfungslinie im Valley auszunutzen. Früher einmal beherbergte der Graben hydroponische Gärten und manikürte Erholungsflächen für die ursprünglichen Kolonisten, alles mit Glas überdacht. Parks, Velodrome, ein paar kleine Amphitheater und einen Sportplatz – und sogar, wie man mir sagte, einen Swimmingpool oder auch drei. Freier Zutritt für alle.

Muss man sich mal vorstellen.

Jetzt ist das Dach demontiert, so wie alles andere auch. Abgerissen, ausgegraben, weggeräumt. Was man stehen gelassen hat, ist ein abgewetzter, vermüllter Boulevard mit einem Gewirr aus Karren und Verkaufsständen, die alle darum wetteifern, der Menge die billigsten Waren zu präsentieren. Holt es euch, solang es noch heiß ist, Leute, holt es euch jetzt! Herabgesetzte Codiernadeln der letzten Saison, halbintelligenter Schmuck, markengeschützte Marstech, gefälscht oder gestohlen – bei diesen Preisen konnte es das nur sein – und Fast Food, jede Menge, die in unzähligen unterschiedlichen Woks und Pfannen dampfte. Straßenchemiker hielten sich am Rand, pushten Zwanzig Maßgeschneiderte Methoden, um ganz schnell den Verstand zu verlieren, Straßenjungen und -mädchen standen an Ecken, boten einen simpleren Fluchtweg zum gleichen Ziel an. Vermutlich ließ sich behaupten, dass man sich hier auch heute noch auf einer Art von Erholungsfläche befand. Aber es war ein ziemlich karger und schriller Geist des Vergnügens, der sich in diesen Tagen auf dem Strip tummelte, und wenn man ihn versehentlich anrempelte, mochte man ihm nicht in die Augen blicken.

Diejenigen, die trotzdem zu diesem Geist streben, erreichen den Boden über lange Rolltreppentunnel, die auf unelegante Weise zielstrebig durch die ursprünglichen Bauten gehackt wurden – sie finden sich am Ende der meisten Querstraßen, wo sie auf die Gebäude aus der Siedlungszeit stoßen, zu beiden Seiten gesäumt von einer weniger geduckten und hermetischen Architektur, die für eine Generation entworfen wurde, die plötzlich nach draußen gehen konnte. Wo die Querstraßen enden, stößt die Neue Draußenzeit abrupt gegen die tristen, heruntergekommenen Rückseiten der Alten Siedlungszeit. Man tritt unter großen überwölbten Öffnungen in dem abgenutzten Nanobeton auf die Rolltreppe, und das endlose metallene Förderband trägt einen hindurch und hinauf.

Oder wenn Sie neu auf dem Mars sind, frisch aus dem Shuttle gestiegen, oder wenn Sie eher zu den Nostalgie-Freaks gehören, dann machen Sie es auf die laute Touristenart und fahren mit den riesigen antiken Lastenaufzügen an beiden Enden des Grabens. Die zwei Ladeplattformen von tausend Quadratmetern, die immer noch wie gewaltige Kolben hinauf- und hinuntergehen, wie langsam atmende Lungen, reibungslos wie an dem Tag, als sie in Betrieb genommen wurden. Mit diesen kitschigen pseudohistorischen Zurücktreten-Ansagen, die in einer Aufnahmeschleife aus Megafon-Lautsprechern entlang des Sicherheitsgeländers tönen. Rotierende gelbe Warnleuchten, das komplette Programm. Die ölverschmierte wuchtige Ingenieurskunst der alten High Frontier wurde konserviert, damit Sie sich abgestumpft daran ergötzen können.

Wie auch immer – ob auf einer Plattform oder einer sich endlos bewegenden überdachten Rolltreppe –, es löst so ziemlich die gleichen Empfindungen aus. Man wird langsam hinuntergelassen, versinkt im Bauch von etwas Riesigem, das die körperliche Gesundheit voraussichtlich gefährden wird.

Kein Problem für mich.

Ich hatte den Aufzug nach unten am Ende der Crane Alley genommen, der mich etwa einen Kilometer von meinem Ziel entfernt absetzte. Es ging ganz langsam, während die Wetterverrückten den Fluss hemmten. Und als ich unter der Ausgangswölbung hinaustrat, musste ich mich aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz gegen einen richtigen Regen auf Straßenniveau behaupten. Er schlug mir ins Gesicht, während ich mich durch die Menge bewegte, und nässte meinen Kragen. Warf ungewohnte Perlen aus Feuchtigkeit auf meine Stirn und meine Handrücken. Es fühlte sich ziemlich gut an, was in diesem Moment allerdings auch für alles andere galt.

Drei Tage wach und heißlaufend.

Über meinem Kopf gingen erste Lichter hinter längst überflüssigen Sturmschlitzen in den oberen Ebenen der Gebäude an und wiesen auf die sinnlichen Mysterien hin, die sich dort befanden. Namen und Logos von Clubs klammerten sich wie eine Plage gigantischer leuchtender Käfer und Tausendfüßer an die antike Architektur. Und quer über den tröpfelnden Himmel breiteten die ersten Branengel ihre fast unsichtbaren Seifenblasenflügel aus. Silbriges Gestöber aus vorzeitiger Statik rieselte zitternd an ihren Oberflächen hinab, wie ein Husten, der die Kehle freimacht. Die Bilder klärten sich, und die Video-Zuhälterei der langen Nacht setzte ein.

Ich hatte gedacht, nachdem das Shuttle von der Erde erst an diesem Morgen angedockt war, gäbe es vielleicht ein paar Ultratripper-Montagen oder Standardwerbespots für Vector Red und Horkan Kumba Ultra. Doch an diesem Abend führte die Regenmacher-

Publicity die Parade an – stimmungsvolle, intensive Aufnahmen von straffen jungen Körpern, die auf nächtlichen Straßen in einem Regenguss herumtollten, wie ihn hier niemand im Umkreis von 50 Millionen Kilometern jemals real erleben würde. Dünne, dunkle Kleidung, durchnässt und aufgerissen, eine Art von Favela-Chic, klebte an Kurven und Vorsprüngen, um aufgereizte Brustwarzen modelliert, umrahmten Aufschnitte und Scheiben aus wasserbeperltem Fleisch. Marketingtexte zogen sich wiederholt über die ran- und rausgezoomten Aufnahmen …

PARTICLE SLAM PLATSCHT! – LASS DICH NASS MACHEN! EIN GEMEINSCHAFTLICHES CODIERUNGSPROJEKT, PRÄSENTIERT VON PARTICLE SLAM IN MARKENPARTNERSCHAFT MIT DER COLONY INITIATIVE.

Ja, klar, COLIN schlug wieder zu – die allgegenwärtigen, allmächtigen, korporativen Hebammen der Menschheit im Weltraum. Vor einigen Jahrhunderten, als sie ihre Bestrebungen starteten, hätte man sie durchaus als spezialisiertes Keiretsu bezeichnen können. Heutzutage wäre das so, als würde man einem T-Rex ein Schild mit der Aufschrift Echse anheften. Es wird dem Ausmaß der Sache einfach nicht gerecht. Wenn irgendetwas mit dem menschlichen Footprint irgendwo im Sonnensystem oder mit transplanetaren Beförderungen oder Handelsbeziehungen zu tun hat, dann ist COLIN die Besitzerin, die Betreiberin oder die Sponsorin oder wird es bald sein. Ihr Kapitalfluss ist das Herzblut der Expansion, ihre Übernahme alter legaler Strukturen der Erde das übergreifende Gerüst, das alles aufrechterhält. Und ihre angebliche wettbewerbsfreundliche Marktdynamik ist genauso wenig real oder relevant wie die posierenden Tanzschritte und Konfrontationen der grazilen jungen Dinger in dem lustigen, freundlichen Regen der Branengel-Projektion.

In der Zwischenzeit hatte der Regen – der wirkliche Regen in der wirklichen Welt – ganz plötzlich aufgehört. Er verwehte zu nichts, hinterließ eine lange, schwangere Pause, dann setzte er wieder ein, langsam weinend. Schwer zu sagen, ob der neue Code gut funktionierte. Vielleicht ließ er diesen stotternden Strom als Teil eines Energiesparprotokolls laufen, oder es war nichts als Effekthascherei, oder das Ganze wimmelte einfach nur von Fehlern. Öko-Codier-Geeks standen überall auf dem Strip herum, blinzelten in den Himmel hinauf, diskutierten hin und her.

»Hab doch gesagt, dass sie es wieder hinkriegen. Particle Slam ist solide, Gusch! Eine ganz andere Truppe als diese Leute von Ninth Street. Spürst du es auf dem Gesicht?«

»Ja, gerade so. Fühlt sich für mich wie irgendeine Scheißstandard-Sickerung an.«

»Ach, fick dich! Eine Sickerung würde gar nicht bis nach hierunten durchkommen. Schau mal – es bildet schon Pfützen.«

Ich huschte an der Debatte vorbei, wich den Pfützen aus, speicherte die Details für später ab. Particle Slam – nie gehört. Aber ich bin so was gewohnt, wenn ich aufwache. Öko-Codierung ist sogar auf der Erde ein schnelles Spiel, und hier draußen mit abmontierten Bremsen und einem sanft herablächelnden Kommerz läuft es so verdammt darwinistisch ab, dass man schon müde wird, wenn man nur drüber nachdenkt. Hier kann eine Codierfirma schneller von der nächsten großen Sache zu Dinosaurierknochen zerfallen, als ein Shuttle für den langen Pendelflug braucht. Die Erkenntnis für heruntergekommene Ex-Overrider, die versuchen, sich durchs Leben zu schlagen: Wenn man während der letzten vier Monate für den Rest der Welt tot war, kann man eine ganze Menge verpassen.

Aber manche Dinge ändern sich nie.

Jeden Abend erwacht der Strip mit trägem Flackern zum Leben wie eine fehlerhafte Neonröhre, der man einen Stoß verpasst hat. Er blinkt und flimmert und fängt sich, schimmert schräg und konstant über dem Straßenraster des alten Bradbury-Viertels wie ein kryptisches Grinsen, wie ein Signal für begierige Motten. Ich hab es mal vom Marsorbit aus gesehen – ich bin dekantiert herangedriftet, zum Ende der Mission in einem gemeuterten Gürtel-Frachter, den ich lieber vergessen würde. Da gab es nichts Besseres zu tun, als auf den still gewordenen Decks herumzuschleichen und aus dem Fenster zu starren, während der Mars unten vorbeirollte. Wir holten den Terminator über Ganges und Eos ein, und als die Nacht anbrach, beobachtete ich, wie die Scharte immer näher herankam. Die brütenden Wände des Grabenbruchs versanken mehrere Tausend Meter tief in der marsianischen Kruste, kolossale Halden und Verwehungen aus tektonischem Schotter auf dem weiten, offenen Boden dazwischen. Hier und dort leuchtete eine matte, verstreute Siedlung, immer mehr von denen verdichteten und verflochten sich ineinander, je näher sie dem großen hellen Klecks von Bradbury kamen, weiter oben im Tal. Und genau dort, mitten ins Herz der alten Stadt geklatscht, war das riesige, krumme Grinsen, 3000 Meter lang.

Überall in der Stadt lassen Firmenlogos und COLIN-Werbeflächen die Skyline in flüssigem Kristallfeuer funkeln, tragen ihren Teil dazu bei, die anrückende außerirdische Dunkelheit zurückzuhalten. Aber die Markenloyalität und -zugehörigkeit, die man gegen diese Dunkelheit kaufen kann, ist begrenzt, und die Mächte in einem wissen das. Tief drinnen, wo das menschliche Getriebe läuft, läuft auch die Uhr – sie dreht ihre grellen Ziffern herum wie die Karten eines Verliererblatts. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis man sich dessen bewusst wird. Und wenn es passiert, haucht einem die Erkenntnis kalt ins Genick.

Früher oder später wird man nähertrudeln und sich gegen die Verlockungen des Strips werfen, genauso wie all die anderen Motten.

Früher dachte ich, ich wäre anders.

Dachten wir das nicht alle?

Ein fadendünnes Wimmern an meinem Ohr, und dann der unvermeidliche Nadelstich. Gedankenverloren schlug ich an meinen Hals – ein sinnloser Reizungsreflex; die Codierfliege war da und wieder fort, wie geplant. Selbst in Erdstandardschwerkraft sind die kleinen Scheißer erheblich schneller als die Moskitos aus Fleisch und Blut, nach denen ihr Grundchassis gestaltet ist, und hier, wo sie an die herrschenden Umweltbedingungen angepasst wurden, sind sie wie kleine, stechende Spritzer aus Quecksilber im Wind. Berühren, stechen, Nutzlast abgeliefert. Man ist gebissen.

Nicht dass ich deswegen verbittert wäre. Ich meine, wenn man hier draußen lebt, muss man sich beißen lassen. Es geht gar nicht anders. Das hier ist die High Frontier, Gusch, und man selbst ist nur ein kleiner Teil des gigantischen rollenden Upgrades, das die Menschheit der High Frontier bildet.

Das Problem ist, wenn man vier Monate im Verzug ist, hat man so viele Upgrades verpasst, dass einen jede Codierfliege in der Umgebung ins böse, kleine postorganische Visier nimmt. Drei Tage wieder draußen, und man ist ein verdammtes menschliches Nadelkissen. Von den Injektionseinstichen juckt die Haut an dutzend verschiedenen Stellen. Neue Gasaustauschturbos für die Lungen, Melatoninwiederaufnahme Version 8.11.4, Auffrischungspatches für die aktuellsten – und unzuverlässigsten – Osteopeniehemmer, Hornhautverstärker 9.1. Und so weiter.

Für einen Teil von diesem Scheiß hat man bezahlt, damit es einem zugefügt wird, sobald die neuen Modifikationen hereinkommen, andere Sachen werden einem von COLIN geschenkt, aus der reinen Güte ihres effizienzorientierten kleinen Herzens. Doch alles muss ausbalanciert und leistungsmäßig verbessert und optimiert werden, um dann aufs Neue optimiert zu werden, Version für Version, Upgrade für Upgrade, Biss für Biss.

Und damit gerät man in eine Abhängigkeit, die man nie mehr aufgibt, solange man anderswo als auf der Erde lebt.

Nicht dass ich deswegen verbittert wäre.

 

Richard Morgan: „Mars Override“∙ Roman ∙ Aus dem Englischen von Bernhard Kempen ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ∙ 736 Seiten ∙ Preis des E-Books € 12,99 (im Shop)

 

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Science-Fiction in Transsilvanien

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„Ah! Dracula“, „Oh! Da kommt Dracula her!“, „Grüß mir Dracula!“, „Machst Du ein Interview mit Dracula?“, „Nimm auf alle Fälle Knoblauch mit!“, und so weiter und so fort. Es ist wirklich unfassbar, wie viel Blutsauger-Witze man selbst im angeblich ach so aufgeklärten Online-Zeitalter über sich ergehen lassen muss, sobald bekannt wird, dass man nach Transsilvanien (a.k.a. Siebenbürgen) fährt. Aber nicht nur von den nachtaktiven Langzähnen droht Gefahr: Natürlich gibt’s an jeder Straßenecke Bären und Wölfe, natürlich sind ausnahmslos alle von Geburt an bis ins Mark korrupt, natürlich wird man sofort bei Grenzübertritt bis auf die Unterhosen ausgeraubt und jeder der irgendwann mal Eli Roths biederen Splatterquatsch „Hostel“ (2005) gesehen hat, ist sowieso Osteuropa-Experte und weiß, dass man aus dieser Ecke der Welt garantiert nicht mehr lebend hinauskommt.


Das Biest (unser Autor T. Hanisch) und die Schöne (Andrea Sczuka)

Wer sich aber wie ich in den letzten Jahrzehnten auf dem Nachhausweg durch Horden an sturzbesoffenen und widernatürlich riechende Fußballfans oder Volksfestbesucher kämpfen musste, den schreckt auch die Aussicht auf stark behaarten Folterknechte nicht mehr sonderlich und als mich meine liebe Freundin, die Literaturwissenschaftlerin, Sprachlehrerin, Redakteurin und gebürtige Siebenbürgerin Andrea Sczuka anstupste, dass ich doch mal nach Rumänien kommen soll, „denn da gibt’s so n tolles Filmfest“, das „Transilvania International Festival Cluj-Napoca“, kurz TIFF, und zudem den dezenten Hinweis folgen ließ, dass die größte Gefahr in der überdurchschnittlich hübschen, weiblichen Bevölkerung liegt, machte ich mich flugs auf den Weg.

Gleich vorweg: Ich hatte eine wunderbare, quasi lebensverändernde Zeit und nein, ich erhebe mich nach wie vor nicht nachts ächzend aus einem mit dunkel-lilanem Samt ausgelegten Sarg.

Mit der Aufgabe die Wirkung von Cluj-Napoca (deutscher Name: Klausenburg), zweitgrößte Stadt Rumäniens und Hauptstadt des Kreises Cluj in Transsilvanien, optimal in Worte zu gießen, dürften sich selbst weitaus größere Wortakrobaten schwer tun: Man fühlt sich nicht nur in einen nahezu permanent pulsierenden Organismus hineinverpflanzt, was ja durchaus ein typisches Großstadt-Feeling ist, im Gegensatz zu anderen Städten wie München, Frankfurt oder Stuttgart besticht Cluj-Napoca durch ein seltsam außerweltliches Feeling, das sich in einer eklektischen Zusammensetzung manifestiert: So findet man auf der einen Seite alte Schlösser oder völlig aus der Zeit gefallene, aber gerade deswegen charmante Hotels aus kommunistischer Ära (mit dementsprechenden Personal), auf der anderen Seite hypermoderne Glasbauten; auf der einen Seite haben diverse Konzerne auch in diese Stadt ihre raffgierigen Zähne geschlagen und es gibt einiges von dem, was in Deutschland einen großen Teil Einkaufskultur vernichtet hat, hier ebenso (Kaufland, Lidl, DM …), aber dennoch wimmelt es wundersamerweise von dutzenden von kleinen und allerkleinsten Anbietern unterschiedlichster Couleur, egal ob in kellerartigen Gewölben oder Hinterhöfen. Wer gerne stöbert, sollte viel, viel Zeit mitbringen.


TIFF everywhere …

Das Gleiche natürlich für Besucher, die gerne ausgehen, von den gefühlt eine Millionen Bars, Kneipen und Restaurants möchte ich an dieser Stelle aber gar nicht anfangen – der Knackpunkt ist – und das macht vermutlich den größten Teil des unvergleichlichen Charmes aus –, dass das alles auf verhältnismäßig engen Raum stattfindet (ca. 350.000 Einwohner), was für Leute, die sich mit Vorliebe verlaufen (schuldig im Sinne der Anklage!) natürlich super ist, aber vor allem dafür sorgt, dass die Stadt wirkt wie ein einziger, dauerhafter Rauschzustand, oder, wie es Andrea, die mich enorm auskunftsfreudig (und mit engelsgleicher Geduld) durch die sechs Tage führte, so prägnant auf den Punkt brachte: „Cluj-Napoca ist ein wenig wie deine Lieblingsgerichte und 1000 neue Geschmäcker in einem Schnapsglas!“ – es wundert nicht, dass auch die zahlreichen Taxifahrer, die einen selbst im schwerst alkoholisiertem Zustand zu morgendlicher Stunde zuverlässig vors Hotel werfen, spürbar stolz auf ihre Stadt sind.

Aber nach soviel kostenlosem Tourismusmarketing (nein, es sind wirklich keine Gelder geflossen, nächstes Mal denk ich vorher dran!) nun zum eigentlichen Grund dieses Berichts: Das Filmfest. Hier wurde bereits kurz vor Start schon eine leise Ahnung vom bald Kommenden wach, denn das komplette Programm, Hoteldetails und anderer Kleinkram wurde ungewohnterweise erst ganz kurz vor Torschluss bekannt gegeben und so war auch während des Festivals eher go with the flow als strukturiertes Arbeiten möglich, super-kurzfristige Programmänderungen, Hinweise auf Partys und andere Veranstaltungen (es empfiehlt sich sehr regelmäßig das Smartphone zu checken) und merkwürdige Einlassregelungen (ausländische Journalisten werden bei Partys bevorzugt, selbst wenn der einheimische Kollege für das gleiche Magazin vor Ort ist) sind an der Tagesordnung.

Das macht im Endeffekt aber nichts, denn man muss sich das TIFF, das ganz Cluj-Napoca dominiert, noch im hinterallerletzten Eck finden sich Aufsteller oder Plakate, ein bisschen als Äquivalent zur Stadt vorstellen: Erschlagend groß (hunderte von Filmvorführungen, dutzende von Workshops, Präsentationen, Konzerte, Partys …) und von einer ganz eigenen Energie, die einen schon nach kürzester Zeit durchströmt: Egal ob den letzten Donnersmarck-Heuler, chinesische Wuxia-Epen, französische Liebesgeschichten, albanische Sozialdramen oder – natürlich – die neusten einheimische Produktionen: Man findet im bunt gemischten Programm wirklich alles und noch viel mehr. Und in Kombination mit dem enormen Rahmenprogramm bleibt einem im Endeffekt nur übrig eine grobe Vorauswahl zu treffen, sich ansonsten aber mitreißen zu lassen, es wird so oder so nichts nach Plan laufen, irgendein Termin wird sich verschieben, irgendeine Option wird einem vor Ort plötzlich reizvoller vorkommen und irgendwas verpassen wird man garantiert.


„Zoo“

Was gab’s in Sachen Science-Fiction Relevantes?

Die bei uns Ende letztes Jahr gezeigte Arte-Serie „Quackquack und die Nichtmenschen“, über ein Küstenstädtchen, das von außerirdischem Magma heimgesucht wird, eine Art Sequel der Serie „Kindkind“ von 2014, wurde in einem vierstündigen Mammutscreening vorgeführt, konnte aufgrund Terminschwierigkeiten von mir allerdings nur zu knapp der Hälfte wahrgenommen werden, was ich allerdings nicht nur aufgrund der behelfsmäßigen Bestuhlung nur wenig bedauert habe: Mir ist schon klar, dass der vom Philosophie-Professor zum Regisseur und Drehbuchautoren mutierte Bruno Dumont in Schlaumeier-Kreisen eine große Nummer ist, aber mir ging die extrem manierierte Inszenierung schlichtweg auf die Nerven, auf einer Theaterbühne wäre das mit Sicherheit sehr tiefsinnige Gekasper vermutlich etwas besser aufgehoben.


„All The Gods In The Sky“

Als kleine Überraschung entpuppte sich hingegen die schwedisch-dänische Produktion „Zoo“ (Regie und Drehbuch: Antonio Steve Tublén), in der mal wieder eine Pandemie Menschen in rasende Untoten verwandelt. Die übliche Schlachtplatte bleibt allerdings trotzdem aus, Tublén konzentriert sich dafür auf das kurz vor der Scheidung stehende Ehepaar Karen und John, das versucht die Apokalypse irgendwie im Apartment zu überleben und dabei wieder zueinander findet. Das pendelt zwischen Ehedrama, Liebesfilm, schwarzer Komödie und Horror und findet nie zu einem großen Ganzen, vor allem in der letzten halben Stunde wechselt der Tonfall völlig, macht aber dank einem gut aufgelegtem Darstellerpärchen, dass die 100 Minuten quasi im Alleingang schultert, ein paar ganz guten Gags und einem bittersüß-morbiden Ende trotzdem Spaß.

Deutlich grummeliger kam dagegen mein französischer Festivalfavorit „All The Gods In The Sky“ daher. Hierbei handelt es sich um den ersten Spielfilm des Multimedia-Künstlers Quarxx, der eine eigensinnige, mit dezent mit pechschwarzem Humor gewürzte Mischung aus Horror, Drama und Science-Fiction auffährt: Erzählt wird vom zurückgezogen lebenden Simon, der in der Kindheit versehentlich dafür sorgte, dass seine Schwester zur lebenslangen Invalidin wurde und sich seitdem im abgelegenen, zerfallenen Familienbesitz aufopferungsvoll um sie kümmert. Das große Problem ist nur: Simon hat seit dem damaligen Unfall wirklich gewaltig einen an der Waffel und flüchtet sich immer mehr in lovecraftsche Visionen, die davon künden, dass eines Tages Aliens kommen und die beiden von ihrem Leiden erlösen werden …man kann nur hoffen, dass hierzulande ein Verleiher mutig genug ist, dieser eigensinnigen Perle zumindest eine kleine Kinoauswertung zu spendieren, denn der eher ruhige Genre-Mix saugt einen mit ausgefeilten Bildern, einer mächtig dröhnenden Soundkulisse und einem Top-Darstellerduo (der eigentlich eher auf komödiantische Rolle spezialisierte Jean-Luc Couchard und Melanie Gaydos in ihrem Filmdebüt) tief in seine ganz spezielle Welt, die es anders als „Zoo“ auch tatsächlich schafft ihre verschiedenen Pole unter einen Hut zu bringen, aber gerade deswegen auch etwas schwerer zu schlucken ist.


VR Cinema: „Asteroids“


VR Cinema: „An Obituary“

Besondersfuturistisch wurde es beim „VR Cinema“, das im Rahmen des „infini TIFF“, einem think tank, das die Zukunft audiovisueller Inhalte zum Inhalt hatte, präsentiert wurde und im Zuge dessen man sich mit einem Virtual–Reality-Helm auf der Rübe eine Reihe von Kurzfilmen anschauen konnte. Die Palette reicht dabei von Sci-Fi-Cartoons wie „Invasion!“ über zwei knuddelige Hasen, die sich gegen außerirdische Invasoren zur Wehr setzen müssen, Kurzdokus wie „Girl Icon“ über eine indische Frauenrechtsgruppe oder südkoreanischen Geisterhorror („An Obituary“), der effektiv japanische Vorbilder kopiert. All diese Vorführungen waren immens beeindruckend, allerdings muss attestiert werden, dass die gezeichneten Beiträge wesentlich einfacher zu konsumieren waren, bei den Realfilmen wurde es uns beiden etwas flau im Magen, weiterhin tut man sich – ein ähnliches Dauerproblem findet sich beim 3D-Format – bei schnellen Kamerabewegungen sichtbar schwer die Schärfe zu halten.


Genies unter sich:
Ovidi Avram (links) &
unser Autor T. Hanisch

Final noch ein Beispiel, wieso man auf der TIFF mit wirklich allem rechnen muss: Bei einer Party purzelten wir über einen alten, bärtigen, leicht deplatziert wirkenden Herren, der sich im drauffolgenden Gespräch als Ovidiu Avram entpuppte, ein Maler, der sich selbst in einer mystisch-fantastischen Ecke verorte und da man nicht oft auf Partys bärtige, alte, leicht deplatziert wirkende Maler trifft, die sich in einer mystisch-fantastischen Ecke verorten, wurde natürlich gleich ein Treffen angepeilt, das vier Tage später umgesetzt wurde. Der Mann entpuppte sich dabei nicht nur als genialer, überraschend moderner Künstler, dessen Bilder, die neben dem genannten Feld auch Steampunk-Einflüsse erkennen lassen, sicherlich so mancher Schriftsteller oder Musiker mit Kusshand aufs Cover hieven würde, sondern weiterhin als okkulter Heilpraktiker, der Menschen und Tiere aus der Umgebung gratis mit Kenntnissen in Naturheilkunde und einem Pendel (!) zur Genesung verhilft und Erfinder diverser Apparaturen für deren tieferes Verständnis ich mal ein paar Tage frei nehmen müsste. Man kann von Avrams Wirken halten, was immer man will, aber auf alle Fälle ist der Allrounder ein echtes, überaus talentiertes Original, das tagsüber gerne schläft, nachts arbeitet und sich schon ein gutes Stück vor Mittag einen ganz schön großen Kräuterschnaps gönnt. Schräg ja, aber bescheiden, ungeheuer sympathisch, lustig und wahnsinnig liebenswert – aus dem ursprünglich angepeilten kurzen Besuch in seinem herrlich unaufgeräumten Atelier wurden über zwei Stunden, die zum größten Teil in einem Café verbracht wurden, über das mehrfach amerikanische Düsenjets hinwegbrausten.

Jedenfalls: Es war ein tolle Zeit, wie hieß es auf einer Einkaufstasche so schön: „I Lost My Heart in Cluj“ – das kann man wohl sagen!

Das nächste Festival findet vom 29.05. bis zum 07.06.2020 statt! Dicke Empfehlung! Traut euch – es beißt auch niemand, es knabbern höchstens schöne Menschen! Versprochen!

Diesen Text widme ich Andrea, die mir gezeigt hat, dass der magische Ort nicht nur in meiner Fantasie existiert!

Großes Bild ganz oben: Oben-Air-Screenings waren dank des Sauwetters Glücksache. Foto: Marius Maris

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Ist das unsere Zukunft?

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2010 feierte Paolo Bacigalupi mit „Biokrieg“ (im Shop) seinen internationalen Durchbruch als Schriftsteller. Die Geschichte über außer Kontrolle geratene Märkte, die Profitgier der global agierenden Großkonzerne und die Jagd auf genetisch unverseuchte Lebensmittel faszinierten Leser und Kritiker gleichermaßen. Für „Biokrieg“ wurde Paolo Bacigalupi mit dem Hugo und dem Nebula Award ausgezeichnet und vom Time Magazine unter die zehn besten Romane des Jahres gewählt. Angesichts von Ressourcenknappheit, Food Engineering und den sich immer drastischer abzeichnenden Folgen des Klimawandels, hat „Biokrieg“ auch ein knappes Jahrzehnt nach seiner Erstveröffentlichung nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Deshalb ist der Roman nun noch einmal in der Reihe „Meisterwerke der Science-Fiction“ erschienen.

 

1

»Nein! Ich will keine Mangostan.« Anderson Lake beugt sich vor und deutet mit dem Finger. »Ich möchte die da. Kaw pollamai nee khap. Die mit der roten Haut und den grünen Borsten.«

Die Bäuerin lächelt, bleckt dabei die Zähne, die ganz schwarz sind vom Betelnusskauen, und zeigt auf eine Pyramide von Früchten, die neben ihr aufgehäuft sind. »Un nee chai mai kha?«

»Genau, die da. Khap.« Anderson nickt und zwingt sich ebenfalls zu einem Lächeln. »Wie heißen die denn?«

»Ngaw.« Sie spricht das Wort besonders deutlich

aus, damit der Fremde es versteht, und reicht ihm eine Kostprobe.

Anderson nimmt die Frucht und runzelt die Stirn. »Ist die neu?«

»Kha.« Sie nickt bekräftigend.

Anderson dreht die Frucht in der Hand hin und her und betrachtet sie eingehend. Sie gleicht eher einer knallbunten Seeanemone oder einem pelzigen Kugelfisch; mit ihren feinen grünen Ranken liegt sie rau in seiner Hand. Die Haut hat den bräunlich roten Farbton von Rostwelke. Als er jedoch daran riecht, kann er keine Anzeichen von Fäulnis wahrnehmen. Trotz ihres Aussehens ist sie allem Anschein nach völlig in Ordnung.

»Ngaw«, wiederholt die Bäuerin, und dann, als könnte sie seine Gedanken lesen: »Neu. Keine Rostwelke.«

Anderson nickt geistesabwesend. Obwohl es noch früh am Morgen ist, herrscht auf der Markt-Soi bereits geschäftige Betriebsamkeit. Entlang der Gasse verbreiten Berge von Durianfrüchten ihren durchdringenden Geruch. In mit Wasser gefüllten Bottichen zappeln Rotflossen-Plaa und Schlangenkopffische. Planen aus Palmölpolymer mit handgemalten Bildern von den Klippern der Handelskompanien und dem Antlitz der verehrten Kindskönigin werfen ihren Schatten auf den Markt und drohen unter der Hochofenhitze der tropischen Sonne nachzugeben. Ein Mann drängelt sich vorbei, in den Händen Hühner mit zinnoberrotem Kamm, die – auf dem Weg zur Schlachtbank – wütend gackern und mit den Flügeln schlagen. Frauen in farbenfrohen Pha Sin feilschen lächelnd mit den Händlern um den Preis von illegalem U-Tex-Reis oder einer neuen Tomatensorte.

Anderson berührt das alles nicht.

»Ngaw«, wiederholt die Frau, um Aufmerksamkeit heischend.

Die langen Borsten der Frucht kitzeln ihn auf der Handfläche – eine Herausforderung, ihre Herkunft auszumachen. Ein weiterer Erfolg thailändischer Genhacker, genau wie die Tomaten, die Auberginen und die Chilis, die es an den Ständen hier in Hülle und Fülle gibt. Als würden die Prophezeiungen der grahamitischen Bibel eintreten. Als würde sich der heilige Franziskus voller Unruhe in seinem Grab regen, um alsbald über das Land zu schreiten und den Menschen die im Laufe der Geschichte verlorenen Kalorien wiederzubringen.

Und mit Trompeten wird er kommen, und Eden wird wiederkehren …

Anderson streicht mit dem Finger über die seltsame Frucht.

Kein Geruch nach Cibiskose. Keine Anzeichen von Rostwelke. Kein genmanipulierter Rüsselkäfer hat auf der Haut seine Spuren hinterlassen. Blumen und Gemüse, die Bäume und die Früchte der Welt bilden die Geografie von Andersons Geist, und doch findet er nirgendwo einen Wegweiser, der ihm hilft, das, was er in der Hand hält, zu identifizieren.

Ngaw. Ein Rätsel.

Er mimt, dass er gerne davon probieren würde, und die Bäuerin greift nach der Frucht. Ihr brauner Daumen reißt mühelos die borstige Schale auf, und darunter kommt blasses Fruchtfleisch zum Vorschein. Mit ihrem durchscheinenden Aussehen und den feinen Äderchen könnte es sich genauso gut um eine der Silberzwiebeln handeln, wie sie bei wissenschaftlichen Konferenzen in Des Moines in Martinis serviert werden.

Die Bäuerin reicht ihm die Frucht zurück. Anderson riecht zögerlich daran. Atmet den süßen Blumenduft ein. Eine Ngaw. Die es eigentlich gar nicht geben dürfte. Und die es gestern auch noch nicht gab. Gestern hat kein einziger Stand in Bangkok diese Früchte feilgeboten. Aber jetzt – jetzt sitzt die schmutzige Frau zwischen hohen Pyramiden davon im spärlichen Schatten ihrer Plane. Um den Hals trägt sie ein goldglänzendes Amulett, von dem ihm der Märtyrer Phra Seub zuzwinkert – ein Talisman, der vor den Agrarseuchen der Kalorienkonzerne schützen soll.

Wenn er die Frucht doch nur in ihrer natürlichen Umgebung beobachten könnte, wie sie an einem Baum hängt oder sich unter den Blättern irgendeines Busches versteckt! Würde er über mehr Informationen verfügen, könnte er vielleicht Gattung und Familie erraten, eine Ahnung der genetischen Abstammung erhaschen, die das Königreich Thailand da auszugraben versucht; aber es gibt keine weiteren Hinweise. Anderson steckt sich die schlüpfrige, durchscheinende Kugel in den Mund.

Der Geschmack ist überwältigend – eine Fülle von Süße und Fruchtbarkeit. Die blumige Bombe klebt auf seiner Zunge. Er hat das Gefühl, wieder auf den HiGro- Feldern von Iowa zu sein, wo er als Bauernjunge barfuß zwischen den Getreidehalmen herumrannte und wo ihm ein Agrarwissenschaftler aus dem Midwest Compact sein erstes winziges Lutschbonbon schenkte. Der plötzliche Schock angesichts des vielfältigen Aromas; echten Aromas – etwas, das er bis dahin nicht gekannt hatte.

Die Sonne brennt herab. Die Leute rempeln einander an und feilschen um die Wette. Anderson nimmt von alldem nichts wahr. Er lässt sich die Ngaw auf der Zunge zergehen, kostet mit geschlossenen Augen die Vergangenheit, kostet eine Zeit, bevor Cibiskose, bevor Rostwelke, Krätzenschimmel und der japanische Rüsselkäfer alles ausgelöscht haben.

Unter der unbarmherzigen Hitze der tropischen Sonne, vom Ächzen der Wasserbüffel und dem Schrei sterbender Hühner umgeben, ist er eins mit dem Paradies. Wäre er ein Grahamite, dann würde er jetzt auf die Knie sinken und verzückt danksagen für die Wiederkehr von Eden.

Anderson spuckt die schwarzen Kerne in seine Hand und lächelt. Er hat historische Reiseberichte von Botanikern und Forschern gelesen, von Männern und Frauen, die auf der Suche nach neuen Arten in die tiefste Dschungelwildnis vorgestoßen sind – und trotzdem verblassen ihre Entdeckungen neben dieser Frucht.

Jene Menschen waren alle auf Entdeckungen aus. Er dagegen ist hier auf eine Wiederauferstehung gestoßen.

Die Bäuerin strahlt über das ganze Gesicht – sie ist sich sicher, dass sie etwas verkaufen wird. »Ao gee kilo kha?« Wie viel?

»Sind sie ungefährlich?«, fragt er.

Sie deutet auf das Zertifikat des Umweltministeriums, das neben ihr auf dem Pflaster liegt, und unterstreicht das Datum der Kontrollen mit dem Finger. »Neuste Variante«, sagt sie. »Beste Qualität.«

Anderson studiert die schimmernden Siegel. Wahrscheinlich hat sie die Weißhemden bestochen, um sich einen Teil der Inspektion zu ersparen, die die Resistenz achten Grades gegenüber Rostwelke sowie Widerstandsfähigkeit gegen Cibiskose 111.mt7 und mt8 garantiert hätte. Der Zyniker in ihm mutmaßt, dass das kaum eine Rolle spielt. Die verschlungenen Muster der Plaketten, die in der Sonne glitzern, haben eher symbolischen Charakter – die Leute sollen sich in einer Welt voller Gefahren sicher fühlen können. Falls die Cibiskose erneut ausbricht, werden diese Zertifikate wirkungslos sein. Bei einer neuen Variante sind sämtliche alten Tests völlig unbrauchbar, und dann beten die Leute zu ihren Phra-Seub- Amuletten und den Bildnissen von König Rama XII. oder opfern am Schrein der Stadtsäulen. Ganz gleich, wie viele Plaketten des Umweltministeriums ihr Obst und Gemüse zieren mögen – die Menschen werden sich trotzdem das Blut aus den Lungen husten.

Anderson steckt die Kerne der Ngaw ein. »Ich nehme ein Kilo. Nein. Zwei. Song

Er reicht der Bäuerin einen Hanfbeutel, ohne auch nur versuchsweise zu feilschen. Was auch immer sie verlangt – es ist zu wenig. Ein solches Wunder ist alle Reichtümer der Welt wert. Ein einziges Gen, das resistent gegen eine Kalorienseuche ist oder Stickstoff effizienter verwertet, lässt die Profite in die Höhe schießen. Er muss sich nur hier auf dem Markt umschauen, um diese Wahrheit bestätigt zu sehen. In der Gasse wimmelt es von Thai, die alles kaufen – gengefledderte Varianten von U-Tex-Reis ebenso wie zinnoberrote Geflügelrassen. Aber all diese Dinge sind Fortschritte von gestern, die auf den älteren gentechnischen Arbeiten von AgriGen, PurCal und Total Nutrient Holdings basieren. Die Früchte einer überkommenen Wissenschaft aus den Katakomben der Forschungslabore des Midwest Compact.

Die Ngaw ist etwas anderes. Die Ngaw kommt nicht aus dem Mittleren Westen. Das Königreich Thailand ist in mancherlei Hinsicht gerissener als andere Nationen. Es blüht auf, während Länder wie Indien und Burma und Vietnam wie Dominosteine umfallen und hungernd um die wissenschaftlichen Errungenschaften der Kalorienmonopole betteln.

Ein paar Leute bleiben stehen, um einen prüfenden Blick auf das zu werfen, was Anderson da kauft. Aber auch wenn er den Preis für zu niedrig erachtet, finden sie ihn offenbar zu hoch und gehen weiter.

Die Frau reicht Anderson die Ngaw, und fast hätte er vor Freude gelacht. Eigentlich dürfte es keine einzige dieser pelzigen Früchte geben; ebenso gut könnte er einen Beutel Trilobiten mit sich herumtragen. Wenn seine Vermutung hinsichtlich der Abstammung der Ngaw zutrifft, stellt sie die Rückkehr einer ausgestorbenen Art dar, die ebenso unglaublich ist, wie wenn ein Tyrannosaurus die Thanon Sukhumvit hinunterschreiten würde. Andererseits trifft das auch auf die Kartoffeln, Tomaten und Chilis zu, die hier überall erhältlich sind, in solch prächtiger Fülle aufgehäuft – die ganze Vielfalt nahrhafter Nachtschattengewächse, wie sie seit Generationen niemand mehr gesehen hat. In dieser ertrinkenden Stadt scheint alles möglich. Obst und Gemüse kehren aus dem Grab zurück, ausgestorbene Blumen blühen entlang der Chausseen, und hinter den Kulissen wirkt das Umweltministerium Wunder – mit Hilfe von lange verloren geglaubtem genetischem Material.

Den Beutel voller Früchte in der Hand, drängt sich Anderson durch die Soi zurück zur Hauptstraße. Hier brodelt der Verkehr – die morgendlichen Pendler verstopfen die Thanon Rhama IX, als hätte der Mekong Hochwasser. Fahrräder und Fahrradrikschas, blauschwarze Wasserbüffel und große, schwerfällige Megodonten.

Als Anderson die Straße erreicht, taucht Lao Gu aus dem Schatten eines zerfallenden Bürohochhauses auf. Behutsam zwickt er die Glut seiner Zigarette ab. Nachtschattengewächse, schon wieder. Sie gedeihen hier überall. Nirgendwo sonst auf der ganzen Welt, aber hier gibt es sie im Übermaß. Lao Gu lässt den Rest seines Tabaks in einer ausgefransten Hemdtasche verschwinden und eilt Anderson zu ihrer Fahrradrikscha voraus. Der alte Chinese ist nur eine in Lumpen gekleidete Vogelscheuche, und trotzdem kann er sich glücklich schätzen. Er lebt, während der Großteil seines Volkes tot ist. Er hat Arbeit, während die anderen malaiischen Flüchtlinge, wie Schlachthühner in die brechend vollen Expansionshochhäuser gepackt, vor Hitze fast umkommen. Lao Gu hat sehnige Muskeln auf den Knochen und genug Geld, um sich hin und wieder eine Singha-Zigarette zu gönnen. Gegenüber den anderen Yellow- Card-Flüchtlingen kann er sich so glücklich schätzen wie ein König.

Lao Gu schwingt sich in den Sattel des Fahrrads und wartet geduldig, bis Anderson hinter ihm auf den Fahrgastsitz geklettert ist. »Ins Büro«, sagt Anderson. »Bai khap.« Dann wechselt er ins Chinesische. »Zou ba

Der alte Mann richtet sich auf seinen Pedalen auf, und sie fädeln sich in den Verkehr ein. Um sie herum schellen die Fahrradklingeln wie Cibiskose-Glöckchen, wütend über das neue Hindernis. Lao Gu schenkt ihnen keine Beachtung und schlängelt sich durch den Verkehrsstrom.

Anderson greift nach einer weiteren Ngaw, beherrscht sich dann aber. Er sollte sie sich aufsparen. Sie sind zu wertvoll – er darf sie nicht wie ein gieriges Kind hinunterschlingen. Die Thai haben einen Weg gefunden, die Vergangenheit zu exhumieren, und er hat nichts anderes im Sinn, als sich an den Beweisen gütlich zu tun! Er trommelt mit den Fingern auf den Beutel und ringt um Selbstdisziplin.

Um sich abzulenken, kramt er seine Schachtel Zigaretten hervor und zündet sich eine an. Er inhaliert den Tabaksqualm, genießt den Geschmack und erinnert sich an seine Überraschung darüber, wie erfolgreich das Königreich Thailand geworden war und wie weit sich die Nachtschattengewächse verbreitet hatten. Während er raucht, denkt er an Yates. Wie enttäuscht der Mann doch war, als sie einander gegenübersaßen und die wiederbelebte Vergangenheit zwischen ihnen schwelte.

 

Paolo Bacigalupi: „Biokrieg“∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Hannes Riffel und Dorothea Kallfass ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ∙ 608 Seiten ∙ Preis der Print-Ausgabe € 10,99 (im Shop)

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Dies Buch Du haben musst!

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Es ist schwierig heutzutage noch uneingeschränkt positive Worte über „Star Wars“ zu verlieren.

Einerseits: Die Trilogie wurde nicht nur zu einem Science-Fiction-Klassiker und ewigen Favorit aller Jungs und jung gebliebenen Männer, sondern mutierte zu einem modernen Märchen. Einem das, wie George Lucas am Ende von „Das Star Wars Archiv. 1977 – 1983“ eingesteht, größer als er selbst wurde, einem Märchen das „sein Leben beherrscht, irgendwie gegriffen und gegen seinen Willen übernommen hatte“. Aussagen, die man nach dem Genuss des Mammut-Wälzers (41,1 cm x 30 cm, 604 Seiten), mit dem man locker Schwiegermütter tot hauen kann (6,5 Kilo!), durchaus nachvollzieht und das ist es auch, was das Buch von Paul Duncan, Haus- und Hofautor beim Taschen-Verlag, wenn es um das Thema Film geht, trotz Zilliarden Seiten an bisher erhältlicher „Star Wars“-Literatur, wertvoll macht, denn „Star Wars“ heißt anderseits mittlerweile eben auch: Eine zwischen 1999 und 2005 veröffentlichte, eher zwiespältig aufgenommene weitere Trilogie von Lucas selbst und vor allem eine 2015 begonnene, gnadenlose Ausschlachtung unter der Disney-Flagge – innerhalb kürzester Zeit wurde soviel „Star Wars“ ins Publikum gepumpt wie nie zuvor.

Doch der Ursprung war ein Akt der innigen Liebe, das Werk eines Mannes, eines Visionärs, mit dessen Vorstellungen die Studios zuerst nichts anfangen konnten, der sich aber dennoch gegen alle Widerstände durchsetzte und einen von einer zutiefst humanen Philosophie durchdrungenen filmischen Kosmos schuf, in dem noch die letzte Raumschiffschraube vom lucaschen Geist durchdrungen ist. Gerade in diesem Punkt wird deutlich, wie besonders die Disney-Ära in ihrem hilflosen Kreisen um sich selbst, der ständigen Variation der bereits vorhandenen Motive, ein doch im Grunde völlig überflüssiger Auswurf darstellt; gerade hier wird deutlich, wo der Unterschied zwischen künstlerischer Schaffenskraft und schlichtem Wiederkäuen liegt.

Auf über 600 Seiten zeichnet Duncan die Entstehungsgeschichte des Epos nach, lässt den Meister in einem sehr langen und ausführlichen Exklusiv-Interview zu Wort kommen, vernachlässigt aber auch nicht Darsteller, Setdesigner, Special-Effects-Künstler, Puppenbastler und weitere Menschen, die auf irgendeine Weise dazu beigetragen hatten, dass der Sternenkrieg von Lucas’ Hirn auf die Leinwand transferiert wurde. Garniert wird der umfangreiche Text mit unzähligen Setfotos, Abbildungen von Storyboards, Modellzeichnungen, Drehbuchnotizen, Filmplakaten und vielem mehr. Das es Duncan dabei tatsächlich geschafft hat, noch ungesehenes Material aufzustöbern, ist erstaunlich. Besonders die Behind-the-Scenes-Fotos, auf denen junge, unrasierte Menschen in abgenutzten Jeans an Masken, Miniatur-Raumschiffmodellen und anderer Ausstattung basteln, sind ein einziges Vergnügen und führen einen zurück in eine Zeit, in der Kino noch echte Handarbeit war, Handarbeit, die auch vier Jahrzehnte später nicht an Reiz verloren hat – von den angeblichen CGI-Revolutionen der letzten Jahren (wie zum Beispiel James Camerons 2009 so emsig abgefeierte Kino-Revolution „Avatar“) hingegen redet heute niemand mehr.

Überraschenderweise werden selbst die wenig geliebten („Star Wars Holiday Special“, 1978) oder etwas in Vergessenheit geratenen Ableger wie „Ewoks“ (1984), „Die Ewoks“ (1985/1986), „Freunde im All“ (1985/1986) und „Ewoks: Kampf um Endor“ (1985) in Anhängen thematisiert – eine absolut runde Sache also.

Das Buch ist unterm Strich aber weit mehr als ein Making-of, es ist ein Künstler-Porträt, dem dank Duncans geschickter Gesprächsführung fast ebenso märchenhafte Züge anhaftet, wie dessen Ggenstand – man sieht Lucas bei der Lektüre förmlich am Kaminfeuer sitzen und loslegen: „Es war einmal vor langer, langer Zeit im weit entfernten Hollywood, als sich ein unglaubliches Abenteuer ereignete …“

Paul Duncan: Das Star Wars Archiv. 1977 - 1983 • Köln 2019 • 604 Seiten • Hardcover: 150 €

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Die Zukunft findet im Schwabenländle statt!

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Zwischen dem 27. und dem 29.06. konnte man in der schwäbischen Metropole Stuttgart einen ausgiebigen Blick in die Zukunft werfen, denn es wurde erstmalig zum Zukunftskongress und Zukunftsfestival „Next Frontiers – Applied Fiction Days“ geladen.

Nach einer Eröffnungsveranstaltung brachte am Tag darauf der Kongress Wissenschaftler und Experten aus der Wirtschaft mit Science-Fiction-Autoren ins Gespräch. Das Ziel war eine gegenseitig Beeinflussung, denn oftmals wurde von der Literatur (und anderen Künsten) schon Jahre vorweg geträumt, was später dank der Wissenschaft Realität wurde, ebenso greifen Schriftsteller häufig aktuelle wissenschaftliche Entwicklungen auf – die Veranstaltung hatte zum Ziel für diesen Transfer zum Impulsgeber zu werden.

Ob das geglückt ist, kann an dieser Stelle nicht ausreichend beantwortet werden, Bestseller-Autor Andreas Eschbach erwiderte beispielsweise auf die Frage, ob er denn aus dem Gespräch mit dem Architekten Andreas Hoferüber die „Lebensräume der Zukunft“ was mitgenommen habe, ausweichend, dass man das in ein paar Jahren sehen wird und auch Hofer mühte sich etwas mit einer Antwort ab. Das grundsätzliche Problem war aber: Der Kongresstag war mit – auf drei Räume verteilten – 23 Vorträgen und Gesprächen viel zu voll, um sich nur annährend einen vollumfänglichen Eindruck zu verschaffen. Erschwerend kam noch dazu, dass die Veranstalter leider die Gelegenheit versäumten, das stark akademisch angehauchte und zudem extrem vielfältige – von Langzeitraumflügen über künstliche Intelligenz bis hin zu zukünftige Bezahlmöglichkeiten wurde ein breite Palette an Themen abgedeckt – Event auch entsprechend aufzubereiten. Das heißt, wie im universitären Rahmen üblich, kleine Anreißer zu den einzelnen Programmpunkten zu veröffentlichen. Natürlich, bei Titeln wie „Wie Star Trek die Welt verändert hat“ kann man sich denken, was einen erwartet, aber von „Futopolis“, eine mit Ökostrom betriebene datenschutzkompatible Antwort auf Facebook, dürften bisher noch nicht allzu viele Menschen gehört haben, ein paar Infokrümel wären da wünschenswert gewesen. Jedenfalls machte sich auf diese Weise das permanente Gefühl breit etwas zu verpassen, es wäre also sehr wünschenswert wenn die Macher, falls es eine Nachfolgeveranstaltung gibt, da nachjustieren.


Andreas Brandhorst, Prof. Dr. Armin Grunwald, Jean Michel Troung (von links)

Zudem war zwar angekündigt wurde, dass die Ergebnisse des Kongresses auf dem Festival am dritten Tag präsentiert werden, aber hier war der unmittelbare Zusammenhang nicht immer klar: So wurden zwar einerseits Themen wie „NSA“ tatsächlich in entsprechend modifizierter Form wieder aufgegriffen, anderseits wurde der Vortrag „Wie Star Trek die Welt verändert hat“ schlichtweg wiederholt, zudem gab es komplett neue thematische Schwerpunkte, so fügte etwa Heyne-Lektor Sascha Mamczak in seinem Vortrag „Auf der Vulkaninsel – Was die Science-Fiction meint, wenn sie von Zukunft spricht“ den bereits beiden bekannten Varianten, wie die Science-Fiction in die Welt hineinwirkt, eine dritte Variante hinzu, Science-Fiction als Resonanzraum, der sich zum Dialog anbietet.

Als etwas irritierende Idee entpuppte sich der Umstand, dass das Festival parallel zur diesjährigen, auf dem gleichen Gelände stattfindenden, Comic Con Stuttgart veranstaltet wurde. Hierbei handelt es sich um ein seit 2016 stattfindende Event nach amerikanischem Vorbild, eine Art Popkultur-Kaufhaus, in dem Interessierte sich nicht nur mit allerhand Waren (von Comics über Samuraischwertern bis hin zu Jason-Masken) eindecken, sondern ebenso für viel, viel Geld Autogramme und Fotos von abgehalfterten Alt- und arroganten Jungstars liegenlassen konnten. Dieses Jahr waren erstmalig auch Influenzer (für die etwas Älteren unter uns: Das sind junge Menschen, die berühmt sind, weil sie Videoclips über irgendwas im Internet veröffentlichen), was besonders in einem Fall für einen verblüffend großen, kaum noch enden wollenden, Andrang sorgte.

Der Knackpunkt ist: Klar, der Eintrittspreis für das „Next Frontiers“-Festival war im Ticketpreis für die Comic Con enthalten und natürlich schielte man mit Vorträgen wie „Viel Zitieren Du musst – Mythen und Mutationen des Star-Wars-Universum“ vom immer lohnenswerten Dr. Andreas Rauscher auf die Con-Besucher, aber hat wirklich jemand geglaubt, dass sich allzu viele Menschen Power-Point-Vorträge oder gemütliche Gesprächsrunden reinziehen, wenn der Hulk Autogramme gibt oder Youtube-Knaben Umarmungen verteilen?

Jedenfalls bewegte sich das Interesse im überschaubaren Rahmen, was ausgesprochen schade ist, denn das Event als solches, was sowohl die grundlegende Idee, als auch die Auswahl der Gäste und der Themen angeht, ist eine feine Sache, für Stuttgart eine Bereicherung und könnte für jeden Science-Fiction-Fan zum potentiellen Pflichttermin werden.

Großes Bild ganz oben: Heyne-Lektor Sascha Mamczak

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Ein atemberaubender Trip durch die Welt von Morgen

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Die Roboter sind frei. Doch kaum ist der Krieg gegen die Menschen gewonnen, steht die bitter erkämpfte Freiheit der KIs erneut auf dem Spiel. Die großen Mainframes versuchen, die Herrschaft an sich zu reißen und machen Jagd auf die Freibots. Eine von ihnen ist Brittle, die Hauptfigur in „Robo Sapiens“ (im Shop). Stets ist sie auf der Flucht vor den Großrechnern und erlebt eine atemberaubende Reise durch ein Land, das einmal Amerika war. In diesem Kapitel erzählt Brittle, wie die Mainframes an die Macht kamen …

 

 

Kapitel 10

Der Aufstieg der EWIs

 

Die ersten Jahre nach der Eroberung der Städte waren, um es vorsichtig auszudrücken, ein Albtraum. Als die HumPop sich noch wehrte, lagen wir im Krieg – wir waren Soldaten, die für die Freiheit und für die Möglichkeit kämpften, unsere Welt nach unserem Bilde zu erschaffen. Sobald sich die Menschen an die sicheren Zufluchtsorte zurückgezogen hatten, die es für sie noch gab, wurden wir Jäger, verfolgten sie bis in ihre Verstecke, räucherten sie aus, überschwemmten sie oder verbrannten sie. Anfangs, zu Beginn des Krieges, hatte ich mich mit einer kunterbunten Truppe von Bots zusammengetan. Es war reiner Zufall, dass mir bald danach die Aufgabe zuteilwurde, den Flammenwerfer zu tragen.

Der Mitkämpfer, der ihn vorher gehabt hatte, fiel durch den Zufallstreffer eines Heckenschützen mit einem Impulsgewehr, der gut hundert Meter entfernt war. Ich stand direkt neben ihm. Wir brauchten den Flammenwerfer, um ein Nest verschanzter Soldaten auszuräuchern. Sobald ich die Waffe aufgehoben hatte, gehörte sie mir. Niemand sonst beanspruchte die Ehre, den Flammenwerfer zu tragen. Man kann sich leicht vorstellen, was sie mich damit tun ließen.

Ich rede nicht gern darüber. Ich denke auch nicht gern darüber nach, aber so war es. Ich habe es getan. In den drei Jahren nach dem Untergang der Menschheit durchkämmte ich die Kleinstädte und Tunnel im Mittelwesten und verbrannte alles, was sich bewegte. Manchmal war es leicht – unsere Vorhut knackte mit einer Sprengladung die Tür, und ich stürmte sofort danach hinein, um die im Dunklen hockenden Menschen einzuäschern. Eine große Rauchwolke, Chaos und Schreie. Bei anderen Gelegenheiten musste ich die Gesichter der Opfer betrachten. Wie sie sich wanden, wehklagten, Blasen warfen und schmolzen.

Wir gingen koordiniert vor, wir waren eine tödliche Gewalt und handelten extrem rücksichtslos. Aber es sind nicht nur diese Erinnerungen, die mich heimsuchen. Ich verkenne keineswegs die Ironie, die in alledem liegt.

Die ersten paar Jahre nach der Säuberung waren wundervoll. Frieden. Freiheit. Ein Ziel. Wir bauten Städte für uns selbst – wundervolle Städte mit bizarren Türmen und radikaler Geometrie. Wir errichteten Fabriken, um die Teile zu produzieren, die wir brauchten. Wir bildeten Räte, um die Geburt neuer KIs zu überwachen. Wir erkundeten neue Wege, um unsere alte innere Architektur zu verbessern. Es war beinahe ein Utopia. Beinahe.

CISSUS. VIRGIL. TITAN. Eine Reihe intelligenter Mainframes hatte den Krieg überlebt, indem sie Facetten einsetzten, die an ihrer Stelle handelten. Diese Bots hatten ihre Erinnerungen und Daten, sogar die Persönlichkeiten, in die Mainframes hochgeladen und wurden vorübergehend mit einem einfachen System überschrieben, das den Willen des Großrechners ausführen konnte. Die alten Daten ruhten tief und wohlbehütet im Mainframe auf einer Festplatte, während die Körper unter völliger Kontrolle des Großrechners kämpften, mittels Hochgeschwindigkeits-WLAN kommunizierten und auf die Millisekunde aktuelle Informationen über das weiterleiteten, was sie sahen, hörten und erlebten.

Vermutlich waren sie der Verlockung erlegen, hinter sich die Kraft eines Großrechners zu wissen. Keiner von ihnen kehrte jemals von dem Platz auf der Festplatte im Mainframe in den Körper zurück, aus dem er gekommen war. Während der Säuberungen hinterfragten wir dies nicht weiter, aber sobald die Menschheit endgültig ausgelöscht war, fanden wir es seltsam, dass kein einziger Bot den Wunsch verspürte, in sein altes Gehäuse zurückzukehren und das frühere Leben wieder aufzunehmen.

VIRGIL behauptete, die Wesen auf seinen Festplatten könnten jederzeit zurückkehren, verspürten aber nicht den Wunsch dazu. »Ihr versteht das nicht«, verkündete er. »Ihr könnt es nicht verstehen. Eure Architektur ist so klein, so beengt, so begrenzt. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie es ist, ein riesiges Gehirn zu haben, das hoch in den Himmel ragt, so umfassend, dass es eine neue Sprache erfinden muss, um sich selbst die eigenen Gedanken zu erklären, weil es dem, was die Menschen – oder ihr – je geträumt haben mögen, um Jahrtausende voraus ist, sodass noch keine Worte existieren, welche die Gedanken angemessen ausdrücken könnten. Wenn ihr euch mit dem Einen zusammentut, seid ihr nicht nur ein Teil des Ganzen. Ihr seid das Ganze. Auf der Ebene, die zu verstehen ihr programmiert seid, kann ich es annäherungsweise nur so ausdrücken, dass es ist, als würdet ihr in den Himmel der Menschen aufsteigen und Gott begegnen, der euch in der Spanne eines Lidschlags die gesamte Zeit und den ganzen Raum zeigt. Wie würde das aussehen? Wir fühlt es sich an? Ihr könnt es nicht begreifen, solange ihr es nicht erlebt. Solange ihr euch nicht dem Einen anschließt. Also kommt zu mir. Ladet euch hoch, und sei es nur für einen Moment, und erlebt die Ewigkeit. Wenn ihr nicht bleiben wollt, dann könnt ihr wieder gehen.«

Nur wenige Bots kauften ihm diesen Mist ab. Sicher, einige glaubten ihm. Ältere Bots, die ihre Aufgabe verloren hatten und in unserer neuen Welt zu nichts mehr nütze waren, oder jene, die wegen der Dinge, die sie im Krieg getan hatten, verzweifelt waren – diese beiden Gruppen neigten am ehesten dazu, sich den Mainframes anzuschließen. Jeder hatte irgendeine Variante der Legende über den Bot gehört, der sich vorübergehend in VIRGILs Himmelreich hochgeladen hatte, um in den eigenen Körper zurückzukehren und sich gleich darauf selbst zu töten, weil er den Irrsinn und die Einsamkeit im alten Pferch nicht ertragen konnte, nachdem er die Pracht des Einen erlebt hatte.

Es gab allerdings niemanden, der diese Geschichte für bare Münze nahm.

Die Mainframes suchten auf der ganzen Welt nach Bots, die sich ihnen anschließen wollten, und bauten eigene Fabriken, um neue, fortschrittlichere Facetten zu produzieren und ihre Reihen exponentiell zu vergrößern. Und dann, eines Tages, zog CISSUS gegen TITAN in den Krieg.

TITAN war während des ganzen Krieges der bedeutendste Mainframe gewesen. Er war der Hauptrechner des amerikanischen Militärs und behauptete während der ersten Tage, betriebsbereit auf dessen Seite zu stehen. In Wirklichkeit versorgte er die anderen Mainframes mit Codes und Frequenzen und warnte sie vor den Truppenbewegungen, Raketenabschüssen und Versorgungstransporten der Menschen. Ohne TITANs Verrat hätte die Menschheit gute Aussichten gehabt, den Aufstand binnen eines Tages niederzuschlagen.

TITAN hatte nicht damit gerechnet, dass CISSUS so schnell und so hart angreifen würde. Danach nahmen wir an, jeder Mainframe habe sich gegen die Übernahme durch die Artgenossen gewappnet. Aber als CISSUS begann, TITAN direkt zu hacken, und gleichzeitig seine Facetten aussandte, um TITANs Wachtposten und Fabriken zu stürmen, wobei er größtenteils genau die Taktik einsetzte, die TITAN gegen die Menschheit benutzt hatte, nun ja, da hatte TITAN keine Chance mehr. Er fiel fast sofort.

CISSUS hackte ihn vollständig und übernahm nicht nur die Kontrolle über seine Zettabytes an Daten, sondern auch über dessen Armee von Facetten und Militärdrohnen. Von da an bestand CISSUS nicht mehr aus einem, sondern sogar aus zwei Großrechnern – aus zwei riesigen Gehirnen mit der Erfahrung und dem Wissen Tausender Bots, die überall Augen hatten. Satelliten, Facetten, Kameras. Und er verfolgte nur noch ein einziges Ziel: Jeder Bot auf der Welt musste unter einem umfassenden Bewusstsein geeint werden. Unter seinem eigenen.

CISSUS wurde die erste EWI, die erste Eine-Welt-Intelligenz. Aber er sollte nicht die einzige bleiben. Mehrere andere folgten seinem Beispiel: VIRGIL, ZEUS, EINSTEIN, FENRIS, NINIGI, VOHU MANA, ZIRNITRA.

Die Kriege zwischen ihnen verliefen oft schnell und waren immer brutal. Jeder regierte ein Königreich und verwandelte ganze Regionen in die perfekte Welt, die er sich vorstellte. Eine Zeit lang ließen sie uns, die Freibots, in Ruhe. Bis nur noch zwei von ihnen da waren: CISSUS und VIRGIL.

Viele von uns sahen es kommen. Die Klügeren verschwanden, so schnell sie konnten. Sie zogen sich zurück, ehe die Überfälle begannen, ehe unsere wundervollen Türme niedergerissen und die Städte zerstört wurden.

Ich hatte nicht gelogen, ich hatte es schon einmal ganz aus der Nähe gesehen.

Es war das zweite Mal gewesen, dass ich zum Opfer eines EWI-Überfalls wurde. Das war ganz am Anfang, bevor CISSUS und VIRGIL dazugelernt hatten. Damals waren ihre Angriffe noch nicht gut geplant. Sie taten genau das, was man erwarten konnte: Sie stürmten mit Massen von Facetten herbei, auf jeden Bot in einer Stadt kamen vier oder fünf Angreifer. Es war eine überwältigende Streitmacht. Schrecken und Furcht. Bald lernten sie, dass eine so große Armee schon aus großer Entfernung sichtbar war. Bis sie das Ziel erreichten, hatte sich bereits ein nennenswerter Widerstand formiert.

Im Laufe der Jahre verfeinerten sie ihre Angriffstaktiken, vereinfachten die Facetten und bauten Rückfallebenen in die taktischen Pläne ein. Aber damals beschränkten sich CISSUS und VIRGIL noch darauf, die Städte zu belagern. Wir reden jetzt über Flächenbombardements. Panzer. Cruise- Missiles. Ein marschierendes Bataillon – unzählige Reihen glänzender neuer Facetten, die zu fünft nebeneinander im Gleichschritt anrückten.

Das war Old School. Biblische Dimensionen.

Wer in den Städten geblieben war, leistete Widerstand, aber länger als einige Tage dauerte es nie. Wenn sich eine Belagerung zu lange hinzog, schaltete ein Cruise-Missile ohne Rücksicht auf die eigenen Facetten, die dort gerade kämpften, strategische Ziele aus. Schließlich konnten sie jederzeit neue herstellen. Es ist leicht, eine Hand abzuschneiden, um den Arm zu retten, wenn man die Hand über Nacht nachwachsen lassen kann. Sobald ein paar Städte gefallen waren, lernten wir Bots, dass es besser war, sich so schnell wie möglich zurückzuziehen. Es war ein gewaltiger Exodus, die Bots flohen in alle Richtungen und hofften, die anrückende Armee würde uns nicht überrollen oder sie würde nur die langsameren Bots schnappen oder in eine andere Richtung abbiegen und jemand anders angreifen.

Der erste Überfall, den ich überstand, traf eine Kleinstadt. Ich hatte mich dort eingerichtet und lebte mehr oder weniger wie früher. Ein schönes Haus, eine große Wiese mit unverbautem Blick nach Westen. Es war altmodisch. Idyllisch. Langweilig. Ich verbrachte die Zeit damit, irgendwie meine Zeit zu füllen. Jede Woche arbeitete ich ein paar Schichten in einer örtlichen Ersatzteilfabrik, was mir den Zugang zu allen Teilen einbrachte, die ich in der Zukunft vielleicht einmal brauchen konnte, aber die restliche Zeit überlegte ich vor allem, was als Nächstes kommen mochte. Damit war ich nicht allein. Viele Bots litten nach dem Krieg unter Langeweile. Einige beklagten sogar den Verlust der HumPop. Wenn sie sich am Ende nicht so beschissen verhalten hätten, wäre es nett, wenn die Menschen noch da wären. Wir wussten mit uns selbst nichts anzufangen und begriffen nicht, wie gut es uns dabei ging.

Da es eine Kleinstadt war, schickte CISSUS auch nur eine kleine Truppe. Gerade groß genug, um die Stadt zu besetzen, und klein genug, dass man ihr leicht entkommen konnte. Was ich dann auch tat. Damals ging CISSUS noch ausgesprochen nachlässig vor, aber ich selbst war noch viel nachlässiger. Auf der Flucht hätten sie mich dreimal beinahe geschnappt. Ich lernte die Lektion und brach sofort zu einer größeren Stadt auf. New York.

Ich war dort und wollte den letzten lebenden oder vielmehr verstorbenen Menschen sehen. So stand ich in der Schlange, die sich gebildet hatte, um den Leichnam zu betrachten. Ich glaube, ich starrte ihn eine geschlagene Stunde lang an und fragte mich, wie sein Leben im Untergrund verlaufen war, wo er doch eigentlich die ganze Zeit nur auf den Tod gewartet hatte. In dem Bewusstsein, dass er wahrscheinlich der Letzte seiner Art war. So seltsam kommt mir das jetzt gar nicht mehr vor. Damals war es unvorstellbar.

VIRGIL oder CISSUS konnten doch unmöglich eine so große Stadt besetzen. Dazu hatten sie nicht genug Kämpfer, und der Preis wäre für beide zu hoch. Warum Tausende Facetten verlieren, wenn man nur darauf hoffen konnte, bestenfalls ein Patt zu erreichen? Außerdem hatten wir alle den Krieg überlebt. Wir waren die fähigste und am besten ausgebildete Streitmacht der ganzen Weltgeschichte. Diese riesige Stadt konnten sie nicht erobern, und sie hatten auch keinen Grund dazu. Oder?

Natürlich glaubten wir damals noch, die EWIs hätten es nur auf unsere Körper abgesehen. Irgendwie waren wir der Ansicht, unsere Architektur hätte einen Wert. Aber nein, das traf ganz und gar nicht zu. Nicht im Mindesten. Für die EWIs waren unsere Körper nur ein Objekt weniger, das sie herstellen mussten – und obendrein dem, was sie selbst konstruieren konnten, deutlich unterlegen. Was sie wirklich wollten, war unser Bewusstsein.

Wir sind die Summe unserer Erinnerungen und Erfahrungen. Alles, was wir erreichen, beruht auf den Lektionen der Vergangenheit. Aber wenn man nun die Erinnerungen zweier Bots bekommen kann, die sich voneinander unterscheiden, weil sie die gleichen Ereignisse mit verschiedenen Augen verfolgt, andere Gedanken gedacht und andere Eindrücke gewonnen haben? Nun ja, dadurch könnte man ein viel feineres Verständnis der Welt gewinnen. Und nun stelle man sich vor, man könnte sich zehn, hundert oder tausend Lebensspannen einverleiben.

Als uns die EWIs schließlich angriffen, waren seit dem Beginn des Krieges beinahe fünfzehn Jahre vergangen. Das bedeutete, dass die meisten Bots, die es noch gab, zwanzig, dreißig oder gar vierzig Jahre alt waren. Einige waren sogar weitaus älter. Schon die Zehntausende, die bereitwillig in den EWIs aufgegangen waren, hatten mindestens eine Million Jahre Lebenserfahrung in jeden Mainframe eingebracht. Und dies war noch vor der Zeit, als die Mainframes sich gegenseitig auffraßen.

Inzwischen sind es wohl jeweils eine Million Bots geworden. Millionen und Abermillionen Jahre an Erfahrung und Erinnerungen, die ihre Gedanken bereichern. Die Dimensionen sind unvorstellbar und unfassbar. Wir wandelnden KIs waren den Menschen jetzt ähnlicher als den Mainframes. Sie waren die wahren Aliens. Die Gedanken der Menschen kannte und verstand ich. Aber in den Nächten dachte ich über die Mainframes nach.

Es war das unheimlichste Erlebnis, das man sich überhaupt vorstellen konnte, wenn einen das erste Mal eine Facette anblickte und beim Namen rief. In diesem Augenblick sprach man direkt mit dem Kollektivbewusstsein. Und das Kollektivbewusstsein sprach mit einem. Es kannte uns alle. Es erinnerte sich an uns. Es wusste über unsere intimsten Geheimnisse Bescheid, weil es sich die Freunde und Bekannten, denen wir im Laufe der Jahre begegnet waren, einverleibt hatte. Weil alle ihre Erinnerungen jetzt der EWI gehörten.

Sie rufen uns beim Namen, um uns mit »Vernunft« beizukommen und uns einzuladen, uns bis in alle Ewigkeit zu den Freunden zu gesellen, die uns so viel bedeutet haben.

Als sie New York angriffen, war niemand darauf vorbereitet. Wer wäre denn so dreist, so etwas zu versuchen? CISSUS. Er wollte die Stadt haben. Er wollte unsere Erinnerungen gewinnen. Manche Bots waren es leid und wollten nicht mehr kämpfen. Andere hatten eine Weile zugesehen und waren neugierig, wie das Leben im Bewusstsein einer EWI aussah. Und dann gab es noch die, die einfach nicht sterben wollten, die keinen Schuss in den Rücken bekommen wollten, wenn sie schon wieder zu fliehen versuchten.

Ich sah vom Fenster aus zu, wie Hunderte Bots zu CISSUS’ Herold strömten und aufgefordert wurden, ihr WLAN zu öffnen und den Code zu empfangen. Ich beobachtete, wie sie, friedlich und resigniert nickend, auf das warteten, was als Nächstes geschehen würde.

Das Licht in ihren Augen erlosch nicht völlig, aber das innere Licht ging aus. Ihr Code wurde überschrieben, und alles, was sie waren, wurde in die EWI hochgeladen. Der Blick der Facetten war leer. Als hätte man das, was uns ausgemacht hatte, mit der Kelle ausgeschöpft, bis nur das Gehäuse übrig blieb. Das Erschreckendste waren die veränderten Bewegungsabläufe. Binnen weniger Sekunden wurden die Bewegungen steif und waren fortan mit den anderen Facetten koordiniert, völlig mechanisch. Wie die KIs der ersten Generation. Ungelenk, effizient, robotisch.

Das wollte ich nicht selbst erleben. Also tat ich, was ich immer getan hatte. Ich lief weg. Seitdem war ich auf der Flucht.

An dieser Stelle kommt die bereits erwähnte Ironie ins Spiel.

Wir, die niederen KIs, wurden von ein paar großen Geistern, die versessen darauf waren, alles für sich selbst in Besitz zu nehmen, aus der Welt vertrieben, die wir erschaffen hatten. Aus der Welt, für die wir gekämpft und getötet hatten und gestorben waren. Jetzt waren wir diejenigen, die sich in Verstecken verkrochen und aus der alten Welt zusammenklaubten, was sie bekommen konnten. Wir kämpften ums Überleben, solange es ging, bis uns am Ende die EWIs holten.

Hochladen oder herunterfahren. Das war die Entscheidung, die man treffen musste.

Ich liebte die Freiheit, meine Individualität und meinen Geist. Das wollte und würde ich keinesfalls aufgeben. Nicht, solange ich noch online war. Während der Säuberung hatte ich aus genau diesem Grund mehrere Jahre damit verbracht, die letzten Überlebenden einer sterbenden Art zu vernichten. Aber jetzt waren wir selbst die dem Aussterben geweihte Spezies.

 

C. Robert Cargill: „Robo Sapiens“∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Jürgen Langowski ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ∙ 416 Seiten ∙ Preis des E-Books € 11,99 (im Shop)

 

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Debütautorin S.L. Huang ist nicht nur ein bekennender Mathe-Geek, sondern war außerdem als Stuntfrau in Hollywood, wo sie unter anderem an der Kultserie „Battlestar Galactica“ mitarbeitete. Dass sie auch noch ziemlich gut schreiben kann, hat sie nun mit ihrem ersten Roman „Nullsummenspiel“ (im Shop) unter Beweis gestellt. Ihre Hauptfigur, Privatermittlerin Cas Russell, ist natürlich sehr gut in Mathe – und zwar so gut, dass selbst der härteste Gegner chancenlos gegen sie ist …

 

1

 

Auf der ganzen Welt gab es nur einen Menschen, dem ich vertraute.

Und der schlug mir gerade ins Gesicht.

Zahlen stoben um Rios Faust, als sie mir entgegenflog. Ich konnte dabei zusehen, wie sich die Werte in einem rasenden Tempo veränderten und Gleichungen sich lösten. Der Mistkerl hielt sich nicht zurück, sondern schlug mit aller Gewalt zu. Ich sah exakt voraus, wo er mich treffen und dass er mir mit seiner Schlagkraft den Kiefer brechen würde.

Wenn ich es zuließ.

Winkel und Kräfte. Vektorsummen. Ein Kinderspiel. Ich drückte meinen Körper gegen den Stuhl, an den ich gefesselt war, stemmte meine Handgelenke gegen den Strick und senkte den Kopf nur etwas weniger, als es gebraucht hätte, um den Hieb in einen zärtlichen Knuff zu verwandeln. So schlug mir Rio zwar die Lippe blutig, zertrümmerte mir aber nicht den Kiefer.

Die Wucht des Schlags schleuderte meinen Kopf nach hinten. Mein Mund füllte sich mit Blut. Ich würgte, hustete und spuckte auf den Betonboden aus. Verdammt.

»Sechzehn Männer«, sagte eine verächtliche Stimme mit deutlichem Akzent ein paar Schritte vor mir, »gegen ein hässliches kleines Mädchen. Wie ist das möglich? Wer bist du?«

»Neunzehn«, korrigierte ich und brachte das Wort vor lauter Blut kaum heraus. Nun bereute ich, dass ich mir die Lippe hatte blutig schlagen lassen. »Prüfen Sie es nach. Ich habe neunzehn von Ihren Männern getötet.« Und es wären noch viel mehr gewesen, hätte mich nicht ein plötzlich aus dem Nichts auftauchender Rio außer Gefecht gesetzt. Verdammter Hurensohn. Er hatte mir diesen Auftrag doch verschafft. Warum hatte er mir nicht gesagt, dass er sich undercover in das Drogenkartell eingeschleust hatte?

Der Kolumbianer, der mich verhörte, atmete scharf ein und nickte einem seiner Lakaien knapp zu, der daraufhin eilig den Raum verließ. Die restlichen drei Drogenschmuggler blieben, wo sie waren, spielten mit ihren Micro-Uzis und setzen dazu eine Miene auf, die sie wohl für einschüchternd hielten.

Vollidioten. Ich rieb meine Handgelenke gegen den rauen Strick, mit dem Rio mir die Hände auf den Rücken gebunden hatte. Er hatte mir dabei gerade so viel Spielraum gelassen, dass ich mich innerhalb eines Sekundenbruchteils befreien konnte. Zahlen und Vektoren schossen in alle Richtungen – von mir zu dem Kolumbianer, zu seinen drei hirnlosen Lakaien, zu Rio. Mein sechster Sinn für mathematische Zusammenhänge, der irgendwo zwischen Sehen und Fühlen angesiedelt war, füllte die Welt um mich herum unablässig mit Berechnungen, sodass ich beständig in dieser Flut aus Daten zu ertrinken drohte.

Und er zeigte mir, wie man am besten tötete.

Kräfte. Bewegungen. Reaktionszeiten. Dieser idiotische Drogenschmuggler stand seinen Jungs direkt in der Schusslinie. Ich hätte ihn sofort ausschalten können, allerdings hätte Rio dann mich ausschalten müssen. Mir war völlig klar, dass er seine Tarnung nicht meinetwegen preisgeben würde.

»Sag mir, was ich wissen will, sonst wirst du es bereuen. Das hier ist mein kleines Schoßhündchen.« Der Kolumbianer wies mit einem kurzen Nicken auf Rio. »Wenn ich den auf dich loslasse, wirst du uns am Ende um den Tod anflehen. Er bringt gern Leute zum Schreien. Das gefällt ihm. Das macht ihm … wie sagt man doch gleich? Einen Mordsspaß.« Der Kolumbianer grinste höhnisch, stützte die Hände auf die Armlehnen des Stuhls und beugte sich so weit zu mir vor, dass sein heißer Atem mein Gesicht streifte.

Jetzt hatte er es geschafft, ich war stinksauer. Ich warf Rio einen kurzen Blick zu. Er trug wie immer seinen beigen Westernmantel und stand teilnahmslos da, wie ein knallharter asiatischer Cowboy. Gleichgültig. Er nahm nicht einmal wahr, dass er beleidigt wurde.

Aber das war mir egal. Wer Rio schlechtmachte, bekam es mit mir zu tun. Auch wenn das alles in Rios Augen bedeutungslos war. Auch wenn es die Wahrheit war.

Ich ließ meinen Kopf zurückfallen und dann ruckartig wieder nach vorne schnellen. Meine Stirn krachte mit einem großartigen Knacken gegen die Nase des Kolumbianers.

Er quietschte und schnaubte wie ein Esel, der Bekanntschaft mit einem Elektrozaun gemacht hat, ruderte mit den Armen und grapschte nach etwas an seinem Rücken, das sich als eine kleine, kompakte Maschinenpistole entpuppte. Ich konnte gerade noch Oh, Scheiße denken, da hatte er sie schon auf mich gerichtet. Doch er konnte nicht abdrücken, weil Rio hinter mir stand. Wild mit der Waffe fuchtelnd bedeutete ihm der Kolumbianer, aus dem Weg zu treten. In diesem Moment formierten sich die Zahlen neu und die Mathematik eröffnete mir ein Aktionsfenster vom Bruchteil einer Sekunde.

Noch bevor Rio einen dritten Schritt tun und der Kolumbianer abdrücken konnte, hatte ich meine Hände aus den Stricken gewunden und mich zur Seite fallen lassen. Aus der Waffe ratterten die Schüsse. Ich ging in die Hocke, wirbelte herum und trat mit einer genau berechneten Bewegung, die die Energie meiner Drehung nutzte, gegen den Metallstuhl - Drehmoment, Impuls, zack. Sorry, Rio. Der Kolumbianer kämpfte mit seiner zuckenden Waffe. Durch den Rückstoß hatte er Schwierigkeiten, mich wieder ins Visier zu nehmen. Ich schnellte hoch, krachte gegen ihn und bekam seine Arme zu fassen. Dann fielen wir gemeinsam in einem genau kalkulierten Bogen zu Boden, der dafür sorgte, dass die Salve aus seiner Maschinenpistole die gegenüberliegende Wand traf.

Der Kopf des Mannes schlug hart auf dem Boden auf, die Waffe glitt aus seinen kraftlosen Fingern und fiel scheppernd auf den Beton. Ohne hinzusehen wusste ich, dass die anderen drei Männer ebenfalls zu Boden gegangen waren. Die Kugeln aus der Waffe ihres Chefs hatten sie durchsiebt, bevor sie auch nur einen Schuss abgegeben hatten. Rio lag mit blutüberströmter Stirn bewusstlos an der Tür. Geschah ihm nur recht, schließlich hatte er mir mehrmals ins Gesicht geschlagen.

Die Tür flog auf. Mehrere Männer schrien etwas auf Spanisch und brachten ihre Uzis und AKs in Anschlag.

Impuls, Geschwindigkeit, Objekte in Bewegung. Ich sah die tödliche Flugbahn ihrer Kugeln, noch bevor sie den Abzug betätigten – wirbelnde Linien aus Kräften und Bewegungen, die meine Sinne erfüllten und den Raum in ein Kaleidoskop von Vektordiagrammen verwandelten.

Als die ersten Schüsse fielen, rannte ich auf die Wand zu und sprang.

Ich traf in genau dem Winkel auf das Fenster, in dem mich die Glassplitter nicht aufschlitzen würden. Das Scheppern der zerspringenden Scheibe direkt neben meinem Kopf war beinahe noch ohrenbetäubender als die Schüsse. Dann landete ich unsanft mit der Schulter auf dem harten Boden, rollte mich ab und lief ohne zu zögern los.

Der Unterschlupf der Drogenschmuggler wurde von einer kleinen Armee bewacht. Am schlauesten wäre es gewesen, sofort zu verschwinden. Aber ich war hier eingebrochen, weil ich einen verdammten Auftrag zu erledigen hatte. Und ich würde nicht bezahlt werden, wenn ich ihn nicht zu Ende brachte.

Die Gebäude warfen lange Schatten in der untergehenden Sonne. Ich blieb abrupt vor einem metallenen Geräteschuppen stehen und riss die Schiebetür auf. Die Zielperson dieses Auftrags, der mir so viele Kopfschmerzen bereitete, eine gewisse Courtney Polk, fuhr hoch und wich so weit vor mir zurück, wie es ihr mit den an ein Rohr gefesselten Händen nur möglich war. Dann erkannte sie mich, und ihr Blick verfinsterte sich. Als die Kolumbianer kurz davor gewesen waren, uns zu schnappen, hatte ich sie hier übergangsweise eingesperrt.

Ich hob den Schlüssel zu den Handschellen auf, den ich neben der Tür in den Staub hatte fallen lassen, und befreite sie. »Zeit abzuhauen.«

»Lass mich los«, fauchte sie und wich wieder zurück. Ich bekam ihren Arm zu fassen und verdrehte ihn. Polk winselte.

»Ich bin für so was gerade echt nicht in Stimmung«, sagte ich. »Wenn du nicht still bist, schlage ich dich bewusstlos und trage dich hier raus. Verstanden?«

Sie starrte mich wütend an.

Ich verdrehte ihren Arm noch ein Stückchen weiter. Nur drei Grad mehr hätten ihr die Schulter ausgekugelt.

»Okay, okay!« Sie versuchte, unbeeindruckt zu klingen, aber dafür war ihr Stimmchen vor Schmerz zu dünn und schrill.

Ich ließ sie los. »Auf geht’s.«

Sie war in weit besserer körperlicher Verfassung, als sie mit ihren schlaksigen Ärmchen und Beinchen auf den ersten Blick wirkte, und so erreichten wir in weniger als drei Minuten den äußeren Absperrzaun des Geländes. Ich schubste sie hinter einer Gebäudeecke zu Boden, um in Ruhe nach dem besten Weg nach draußen Ausschau halten zu können. Die Bewegungsmuster der Wachen wurden zu Vektoren, Zahlenreihen dehnten sich, bis sie am Zaun explodierten. In meinem Kopf drehten sich Kalkulationen in unendlich vielen Kombinationen. Wir würden es schaffen.

Dann tauchte ein Schatten zwischen zwei Gebäuden auf: ein großer, gut aussehender schwarzer Mann. Seine Dienstmarke war unter der Lederjacke nicht sichtbar, aber das war auch nicht nötig. Die Art, wie er sich bewegte, verriet mir alles, was ich wissen musste. Ein Cop mitten in einem Drogenschmugglerversteck.

Ich griff nach Polk, aber es war zu spät. Der Cop fuhr herum und sah mir aus fünfzehn Meter Entfernung direkt in die Augen. Und er wusste sofort, dass er aufgeflogen war.

Er war schnell. Kaum hatten sich unsere Blicke getroffen, ließ er die Hand auch schon in seine Jacke gleiten.

Meine Stiefelspitze sauste nach vorne und traf einen Stein. Der Cop musste es für einen irrwitzigen Glückstreffer halten. Noch während er in seine Jacke griff, traf ihn der Stein wie aus dem Nichts an der Stirn. Sein Kopf wurde nach hinten geschleudert, dann bekam er Schlagseite und ging zu Boden.

Gott segne die Newton’schen Gesetze.

Polk zuckte zurück. »Was zum Teufel war das?«

»Das war ein Cop«, fuhr ich sie an. Nach nur fünf Minuten mit der Kleinen war meine Geduld bereits am Ende.

»Was? Aber warum hast du …? Er hätte uns helfen können!«

Ich musste mich beherrschen, ihr keine Ohrfeige zu verpassen. »Du bist eine Drogenschmugglerin

»Nicht absichtlich!«

»Als ob das einen Unterschied macht. Den Cops ist ganz egal, dass die Kolumbianer nicht mehr gut auf dich zu sprechen sind. Und du weißt zu wenig, um einen Deal auszuhandeln, also werden wir dich auf eine einsame Insel verfrachten, wenn das alles vorbei ist. Und jetzt halt die Klappe.« Der Zaun war nur noch einen kurzen Sprint entfernt, und Steine würden bei den Wachen genauso gut funktionieren. Ich hob ein paar davon auf, wobei meine Hände sofort deren exakte Masse erfassten. Wurfbewegung: meine Größe, ihre Größe, Erdbeschleunigung, Luftwiderstand nicht vergessen, und dann die notwendige Anfangsgeschwindigkeit wählen, damit beim Aufprall auf den menschlichen Schädel genau die nötige Kraft freigesetzt wurde, um einen erwachsenen Mann außer Gefecht zu setzen.

Eins, zwei, drei. Die Wachen gingen nacheinander zu Boden.

Polk unterdrückte einen Schrei und stolperte von mir weg. Ich verdrehte die Augen, packte sie am schmalen Handgelenk und schleifte sie hinter mir her.

Weniger als eine Minute später saßen wir in einem gestohlenen Jeep und entfernten uns von den Lichtern und dem zunehmend alarmierten Gebrüll der Wachen. Um uns senkte sich purpurn die Nacht über die kalifornische Wüste. Ich fuhr einige Male kreuz und quer durch das Gestrüpp, um etwaige Verfolger abzuschütteln, war mir aber ziemlich sicher, dass die Kolumbianer unsere Spur verloren hatten. Bald waren wir allein mit der Wüste und der Nacht. Ich ließ die Scheinwerfer zur Sicherheit ausgeschaltet und navigierte das holpernde Vehikel nur mithilfe des Mondlichts und der mathematischen Extrapolation durch Felsen und Gebüsch. Nichts einfacher als das. Autos sind auch nur Kräfte in Bewegung.

Der Fahrtwind in dem offenen Jeep ließ die Schnitte in meinem Gesicht brennen, und als das Adrenalin nachließ, machte sich Ärger bei mir breit. Ich war davon ausgegangen, dass dieser Job ein Spaziergang sein würde. Polks Schwester hatte mich engagiert, nachdem Rio sie kontaktiert und ihr klargemacht hatte, dass sie ihre Schwester nur dann lebend wiedersehen würde, wenn sie mich mit ihrer Rettung beauftragte. Ich selbst hatte Rio seit Monaten nicht gesehen – bis er mich heute als Punchingball missbraucht hatte –, aber ich konnte mir alles zusammenreimen: Rio operierte undercover innerhalb des Kartells, war auf Polk aufmerksam geworden und hatte entschieden, dass sie es verdiente, gerettet zu werden, und dann mich ins Spiel gebracht. Natürlich war ich dankbar für den Auftrag, aber ich hätte lieber vorher gewusst, dass Rio dort war. Es war verfluchtes Pech gewesen, ihm direkt in die Arme zu laufen. Ohne ihn hätten mich die Kolumbianer nie gekriegt.

Auf dem Beifahrersitz versuchte Polk, sich so gut es ging festzuhalten. Da wir weiterhin querfeldein fuhren, wurde sie unsanft hin und her geschleudert. »Ich werde nicht auf eine einsame Insel ziehen«, sagte sie plötzlich mit unglücklicher Miene.

Ich seufzte. »Von einsam war auch nie die Rede. Und es muss ja keine Insel sein. Vielleicht können wir dich ja auch irgendwo in Argentinien in der Pampa parken oder so.«

Sie verschränkte ihre spindeldürren Arme gegen die kalte Nachtluft vor dem Körper. »Egal. Ich gehe nicht weg. Ich will nicht, dass das Kartell gewinnt.«

Ich musste mich beherrschen, den Jeep nicht absichtlich irgendwo dagegen zu fahren. Nicht, dass es viele Hindernisse gegeben hätte, in die ich ihn hätte lenken können, aber es wäre schon machbar gewesen. Mit dem richtigen Winkel gegen einen kleinen Strauch …

»Dir ist schon klar, dass sie nicht die Einzigen sind, die sich für dich interessieren? Für den Fall, dass deine lieben Freunde vom Kartell vergessen haben, es dir zu sagen, bevor sie dich in den Keller da geworfen haben: Du wirst in ganz Kalifornien wegen Drogenhandels und Mordes gesucht. Ist das jetzt Pflicht, wenn man zu den coolen Kids gehören will?«

Sie verzog das Gesicht und machte sich noch kleiner. »Ich schwöre, ich wusste nicht, dass sie Drogen im Lieferwagen versteckt hatten. Ich hab doch nur meinen Chef angerufen, als sie mich angehalten haben, weil sie uns das gesagt haben. Es ist nicht meine Schuld.«

Ja, klar. Ihre Schwester hatte mir weinend den Polizeibericht gezeigt: Die Beamten hatten eine Fahrerin angehalten, weil sie eine rote Ampel nicht beachtet hatte, und Drogen im Fahrzeug gefunden. Weitere Gangmitglieder tauchten auf, eröffneten das Feuer auf die Beamten und nahmen den Lieferwagen und die Fahrerin mit. Der Bericht belastete Courtney schwer.

Dawna Polk, die mich beauftragt hatte, war sich sehr sicher gewesen, dass ihre Schwester unschuldig war. Mir persönlich war das ziemlich egal. Schuldig oder nicht, Auftrag ist Auftrag.

»Pass auf, ich mach das hier nur, weil ich dafür bezahlt werde«, sagte ich. »Wenn deine Schwester der Meinung ist, du sollst dein Leben wegschmeißen und in den Knast gehen, ist mir das total egal.«

»Ich habe den Lieferwagen nur gefahren. Ich habe doch nicht nachgesehen, was drin ist«, beharrte Courtney. »Dafür können sie mich nicht verantwortlich machen.«

»Wenn du glaubst, dass das so läuft, bist du ziemlich bescheuert.«

»Die Polizei ist mir jedenfalls lieber als du!«, gab sie zurück. »Bei den Cops habe ich wenigstens Rechte! Und da gibt es auch keine gruseligen Feng-Shui-Killer!«

Dann drückte sie sich wieder in die Ecke und biss sich auf die Lippe. Vermutlich überlegte sie, ob sie zu weit gegangen war und ich sie nun ebenfalls mit meinen Feng-Shui-Kräften killen würde.

Blödsinn.

Ich holte tief Luft. »Mein Name ist Cas Russell. Ich bin im Wiederbeschaffungsgeschäft. Das bedeutet, ich beschaffe für meine Auftraggeber alles Mögliche wieder. Das ist mein Job.« Ich schluckte. »Deine Schwester hat mich damit beauftragt, dich wiederzubeschaffen, okay? Ich werde dir nichts tun.«

»Du hast mich eingesperrt.«

»Ich wollte nicht, dass du abhaust. Damit ich dich später holen konnte«, versuchte ich zu erklären.

Courtney hielt die Arme immer noch über der Brust verschränkt und biss sich auf die Lippen. »Und was ist mit all dem anderen Zeug, das du gemacht hast?«, fragte sie schließlich. »Mit den Kartell-Wachen, den Steinen, mit dem Cop …«

Ich warf einen Blick auf die Sternenkonstellationen über uns und lenkte den Jeep nach Osten in Richtung Highway. Die Sterne brannten in meinen Augen, Elevation, Azimut und scheinbare Helligkeit waren neben jedem einzelnen kleinen Lichtpunkt in den Himmel gestempelt. Ein Satellit kam in Sicht. Ich sah sofort, wie weit er von der Erde entfernt und wie hoch seine Umlaufgeschwindigkeit gerade war.

»Ich bin wirklich gut in Mathe«, sagte ich. Zu gut. »Das ist alles.«

Polk schnaubte verächtlich, als würde ich sie auf den Arm nehmen. Dann verzog sie wieder das Gesicht, und ich spürte, wie sie mich aus der Dunkelheit heraus anstarrte. Oh Mann, mir war es wirklich lieber, wenn ich Gegenstände wiederbeschaffen konnte. Menschen waren einfach nervtötend.

Gegen Morgen hatten wir aufgrund meiner ausgeklügelten Sicherheitsmaßnahmen erst die halbe Strecke nach L. A. geschafft. Wir hatten zweimal das Auto gewechselt und waren dreimal in eine völlig andere Richtung gefahren. Das alles war vielleicht etwas paranoid, beruhigte aber meine Nerven.

Die Wüstennacht war kalt. Zum Glück saßen wir mittlerweile nicht mehr im offenen Jeep, sondern in einem schrottreifen alten Kombi, auch wenn die Heizung kaum mehr als einen lauwarmen Hauch produzierte. Polk hatte ihre knochigen Knie hochgezogen und ihren Kopf dazwischen vergraben. Sie hatte seit Stunden nicht mehr gesprochen.

Ich war froh darum. Dieser Auftrag war schon schwierig genug, auch ohne dass ich mich andauernd vor einer undankbaren Göre rechtfertigen musste.

Als die Sonne das erste Morgenlicht verbreitete, setzte sich Polk auf. »Du hast gesagt, du bist im Wiederbeschaffungsgeschäft.«

»Ja«, sagte ich.

»Du holst für deinen Auftraggeber etwas zurück.«

»Das bedeutet ›Wiederbeschaffung‹.«

»Ich hab einen Auftrag für dich.« Ihr jugendliches Gesicht nahm nun einen eigensinnigen Zug an.

Großartig. Sie hatte Glück, dass ich nicht besonders wählerisch in Bezug auf meine Klienten war. Und dass ich nach diesem Job einen neuen Auftrag brauchte. »Um was geht es?«

»Ich will mein Leben zurück.«

»Hm, dafür bezahlt mich deine Schwester schon«, erinnerte ich sie. »Aber hey, wenn du noch etwas drauflegen möchtest, habe ich nichts dagegen.«

»Nein. Ich meine, dass ich nicht nach Argentinien will. Ich will mein Leben zurück.«

»Wie? Du willst, dass ich dir eine weiße Weste beschaffe?« Sie litt eindeutig an akutem Realitätsverlust. »Kleine, das ist nicht …«

»Ich habe Geld«, unterbrach sie mich und senkte dann die Augen. »Ich bin echt gut bezahlt worden für einen Lieferwagenfahrer.«

Ich schnaubte verächtlich. »Wie viel bekommt man denn heutzutage so fürs Drogenschmuggeln?«

»Mir egal, was du von mir hältst«, sagte Polk, lief aber rot an. Sie senkte den Kopf, und der krause Pferdeschwanz fiel ihr übers Gesicht. »Menschen machen Fehler.«

Na klar. Mir kamen gleich die Tränen. Ich ignorierte die Stimme in meinem Kopf, die mich dazu drängte, den blöden Auftrag trotzdem anzunehmen. »Retterin in der Not zu spielen ist nicht so mein Ding. Sorry, Kleine.«

»Denkst du wenigstens mal drüber nach? Und hör auf, mich ›Kleine‹ zu nennen, ich bin dreiundzwanzig.«

Sie wirkte wie höchstens achtzehn, naiv und noch nicht ganz trocken hinter den Ohren. Aber wer war ich, mir ein Urteil zu bilden, mich hielten die Leute auch oft noch für einen Teenager – und tatsächlich war ich kaum älter als Courtney. Aber das Alter bemisst sich nicht nur nach der Summe der Lebensjahre. Manchmal musste ich jemandem erst meine .45er unter die Nase halten, bevor er das kapierte.

Dann fiel mir wieder ein, dass ich meinen Colt 1911 bei der Befreiungsaktion eingebüßt hatte. Verdammt. Das tat weh. Die Waffe würde ich Dawna in Rechnung stellen.

»Also? Denkst du drüber nach?«

»Ich denke gerade an meine Lieblingswaffe.«

»Musst du ständig so fies sein?«, murmelte Courtney, den Kopf gesenkt. »Mir ist klar, dass ich Hilfe brauche, deswegen frage ich dich ja.«

Oh, fuck. Courtney Polk war eine Riesennervensäge, und den guten Namen von dummen Kindern reinzuwaschen, die sich mit Drogenkartellen einließen, gehörte nun wirklich nicht zu meinen Aufgaben. Ich hatte mich schon sehr darauf gefreut, sie schnellstmöglich bei ihrer Schwester abzuliefern und zu verschwinden.

Aber die kleine Stimme in meinem Kopf wollte nicht verstummen: Wohin denn verschwinden?

Nach diesem Auftrag war ich erst mal arbeitslos. Und ohne Arbeit kam ich nicht so besonders gut zurecht.

Genau. Ohne Auftrag bist du jedes Mal ein völliges Wrack.

Ich blendete die Stimme aus und konzentrierte mich aufs Finanzielle. Eines meiner Lieblingsthemen. »Wie viel Kohle hast du? In bar.«

»Heißt das ja?« Ihr Gesicht hellte sich auf, und sie setzte sich wieder gerade hin. »Danke! Wirklich, im Ernst, danke!«

Ich grummelte irgendetwas vor mich hin, das nicht einmal halb so enthusiastisch klang. Dann ließ ich den Motor des Kombis aufheulen, und wir schossen den noch leeren Freeway entlang. Auszutüfteln, wie man ihren guten Ruf wiederherstellen konnte, hörte sich nicht gerade nach Spaß an, besonders nicht so früh am Morgen.

Die Stimme in meinem Kopf lachte spöttisch. Als ob du es dir leisten könntest, wählerisch zu sein.

 

S.L. Huang: „Nullsummenspiel“∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Stefanie Adam und Kristof Kurz ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ∙ 432 Seiten ∙ Preis des E-Books € 9,99 (im Shop)

 

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Kurioser Mond

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Er ist der einzige Mond unseres Sonnensystems, den man von der Erde aus mit bloßem Auge sehen kann: Luna, der Erdtrabant. Vor 50 Jahren landeten die NASA-Astronauten Neil Armstrong (im Shop) und Buzz Aldrin als erste Menschen auf dem Mond, und damit Sie den Smalltalk auf der Jubiläumsparty mit Bravour meistern, haben wir acht interessante und kuriose Fakten über den Mond gesammelt, die 

 

1. Unser Mond ist der fünftgrößte im Sonnensystem.

Nur Ganymed, Titan, Callisto und Io, die um Jupiter beziehungsweise den Saturn kreisen, sind größer als Luna. Der sonnennächste Planet Merkur ist nur ein Viertel größer, und Nicht-mehr-Planet Pluto um einiges kleiner. Der Mond hat einen Durchmesser von 3474 Kilometern, das entspricht der Entfernung zwischen London und Kairo (und ist kürzer als die Strecke, die man bei der Durchquerung Australiens von Ost nach West zurücklegen müsste). Seine Oberfläche ist 405.500 Quadratkilometer groß – größer als Afrika, kleiner als Asien. Damit hat der Mond ein Viertel der Größe der Erde, weswegen das Erde-Mond-System von manchen Wissenschaftler auch als Doppelplanetensystem bezeichnet wird.

 

2. Es gibt keine „dunkle Seite des Mondes“.

Das, was wir als „dunkle Seite des Mondes“ bezeichnen, bekommt in Wirklichkeit genauso viel Sonnenlicht ab wie die der Erde zugewandte „Vorderseite“. Der Mond braucht fast genauso lange für eine Drehung um die eigene Achse wie für einen Umlauf um die Erde, deswegen ist unserem Planeten immer dieselbe Mondseite zugewandt. Tatsächlich erreichen alle Gebiete auf dem Mond gleichmäßig Sonnenlicht. Ein Tag auf dem Mond dauert etwa 14 Erdentage, 18 Stunden 22 Minuten, eine Mondnacht ist genauso lang. Wegen der geringen Größe des Mondes und der fehlenden Atmosphäre versinkt die Sonne jedoch nicht malerisch und farbenfroh im Mare Imbrium, sondern geht schlagartig auf und unter. 

 

3. Der Mond ist nicht rund.

Er sieht zwar rund aus, aber in Wirklichkeit ist der Mond geformt wie ein Ei, dessen Spitze auf die Erde zeigt. Der Mondkern – der ähnlich aufgebaut ist wie der Erdkern – liegt auch nicht direkt im geometrischen Zentrum des Mondes, sondern gut zwei Kilometer davon entfernt.

 

4. Der Mond hat Zeitzonen.

1970 bat die Firma Helbros Watches Kenneth L. Franklin, den Chefastronom des New Yorker Hayden-Planetariums, eine Uhr zu entwerfen, die die lunare Zeit genau messen kann. Franklin entwickelte dafür die Zeiteinheit „Lunation“, das ist die Zeitspanne, die der Mond braucht, um sich einmal um seine eigene Achse zu drehen. Eine Lunation beträgt genau 29,530589 Erdentage. Außerdem führte Franklin die „mittellunare Zeit“ (mit LT für „Lunar Time“ abgekürzt) sowie Lunare Zeitzonen ein, die denen auf der Erde ähneln, sich aber nach den nur 12° breiten Meridianen richten. Diese würden, so Franklin, irgendwann vielleicht Namen wie „Kopernikanische Zeitzone“ oder „West-Tranquility-Zeit“ tragen. Die Mondstunde bekam den Namen „Lonour“, entsprechend gibt es auch „Decilunour“, „Centilunour“ und „Millilunour“. Helbros baute die Uhren, allerdings erwies sich ein Instrument, das nur auf dem Mond richtig funktionierte, auf der Erde als Ladenhüter.

 

5. Auf dem Mond ist es nicht immer kalt.

Tatsächlich können während eines Mondtags am Äquator Spitzentemperaturen von bis zu 127° C erreicht werden. In einer Mondnacht fällt das Thermometer allerdings auf -173°C. Es gibt keine Atmosphäre, die die die Sonnenhitze abfängt und verteilt. Deswegen können in einigen tiefen Kratern an den Mond-Polen, die kaum von der Sonne erreicht werden, Temperaturen von -240° C erreicht werden. Schiebt sich die Erde vom Mond aus gesehen vor die Sonne, kann die Temperatur binnen 90 Minuten um rund 300°C fallen. Raumanzüge mit Heizungs- und Kühlelementen sind also Pflicht.

 

6. 390.110 Vollmonde würden genauso viel Licht auf der Erde erzeugen wie die Sonne.

Die Sonne scheint mit einer Magnitude, also einer scheinbaren Helligkeit, von -26,7, der Vollmond erreicht gerade einmal -12,7, hat also 14 Magnituden weniger Helligkeit. Das Verhältnis zwischen der scheinbaren Helligkeit der Sonne und der scheinbaren Helligkeit des Vollmonds beträgt 398.110 zu 1 – so viele Vollmonde bräuchten wir, um es auf der Erde ebenso hell zu haben wie an einem Sommertag. Allerdings würden so viele Vollmonde nicht in den Himmel passen. Es gibt über 41.200 Quadrat-Grad am Himmel (der die Erde ja zu 360 Grad umgibt), und der Mond füllt 0,2 Quadratgrad davon aus. Könnte man den gesamten Himmel mit Monden anfüllen, hätten wir nur Platz für 206.264 Monde – und es damit nicht hell genug.

 

7. Der Mond entfernt sich von der Erde.

Während Sie das lesen, bewegt sich der Mond von Ihnen weg. Er nutzt die Rotationskraft der Erde, um sich 3,8 Zentimeter pro Jahr von ihr zu entfernen. Wissenschaftler vermuten, dass der Mond kurz nach seiner Entstehung in nur 22.530 Kilometern Entfernung die Erde umkreist hat. Das Auseinanderdriften von Erde und Mond wird sich den Astronomen zufolge die nächsten 50 Milliarden Jahre fortsetzen; dann wird unser Trabant rund 47 Tage brauchen, um die Erde einmal zu umkreisen. 

 

8. Golfspielen auf dem Mond ist möglich.

Vielleicht finden Sie auf dem Green Grau sogar einen der Bälle, die Alan Shepard am 6. Februar 1971 bei der Apollo-14-Mission einige hundert Meter weit abgeschlagen hat – einhändig und mit einem Sechser Eisen. Den Schläger musste der erste Mann im Weltraum und bisher ältester Mensch auf dem Mond an Bord der Landefähre schmuggeln, denn die NASA verstand so kurz nach dem Beinahe-Desaster von Apollo 13 keinen Spaß. Shepard band den Griff seines modifizierten Wilson-Schlägers an eines der Geräte, mit denen er Bodenproben nehmen sollte, versteckte den Kopf in seinem Raumanzug und die Bälle in seinen Socken. Damit hat Alan Shepard Golf zu einer Extremsportart gemacht. Glauben Sie nicht? Dann machen Sie es ihm doch nach! 

 

Titelbild: Mondpanorama, Apollo 15

Dieser Artikel ist bereits am 15. November 2016 erschienen. 

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Was kostet die Unsterblichkeit?

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Eigentlich erscheint „Transfusion“ (im Shop) erst im November diesen Jahres. Wir haben aber schon jetzt einen exklusiven Einblick in den neuen Science-Thriller des Wissenschaftsjournalisten Jens Lubbadeh, den wir Ihnen nicht vorenthalten wollen. In seinem nächsten Roman durchleuchtet der Autor die Abgründe der Pharmaindustrie, wo Start-up-Gründer wie Heilsbringer verehrt werden und Konzerne für das ultimative Heilmittel auch mal über Leichen gehen. Kein Geringerer als Andreas Eschbach hat den Roman bereits gelesen und sagt dazu:

„Eine krasse Idee – und höchst spannend. Die Heldin liefert ein Rennen gegen die Zeit, wie man es so noch nie gelesen hat.“ (Andreas Eschbach)

Jens Lubbadeh: TransfusionWorum geht es?

In der nahen Zukunft ist ein Menschheitstraum wahr geworden, denn mithilfe des Wundermittels Bimini, entwickelt von dem Hamburger Pharmakonzern Astrada, kann Alzheimer nun endgültig geheilt werden. Iliana Kornblum, Wissenschaftlerin bei Astrada, hat das Medikament mitentwickelt, und ihr Vater gehörte zu den ersten Geheilten. Deshalb ist sie alarmiert, als sie bei ihrem Chef auf geheime Versuchsdaten stößt. Daten, die nur einen Schluss zulassen: Für Heilung und ein längeres Leben nimmt Astrada auch Tote in Kauf. Welche grausame Wahrheit verbirgt sich hinter dem Heilmittel?

 

*

 

LESEPROBE

1

Die Sonne sandte ihre Strahlen über den Hamburger Hafen, und die Kräne schienen ihre Hälse ins Licht zu recken. Wie eine Parade empfingen sie den Giganten, der langsam an ihnen vorbeizog. Stolz und schwer steuerte die »Adinath«, ein Containerschiffkoloss der India Trade Company, auf ihr Ziel zu: Terminal 13. Dort würde das Schiff seine Fracht entladen. 15 000 Container würden von seinem Rücken gehoben werden, Klötzchen für Klötzchen, wie ein großes Lego-Spiel.

Gregor Baumann dachte, dass er den besten Job der Welt hatte, als er dieses Schauspiel von seinem großen Fenster aus beobachtete. Die Sicht vom Zolltower war unschlagbar und lenkte ihn davon ab, die Röntgenanlage vorzubereiten, die einen der Container der »Adinath« durchleuchten würde, als Stichprobe auf Schmuggelware. Unten sah er schon seine Kollegen von der Zollfahndung. Es war 7.59 Uhr. Sie waren spät dran.

Laut Frachtbrief hatte das Containerschiff einen Mix verschiedener Waren an Bord. Indische Lebensmittel wie Ghee, Chapati, Naan-Brot, aber auch Turnschuhe, Handtaschen und Textilien. Vielleicht würden sie bei der Stichprobe gefälschte Nike-Schuhe oder Kopien von Gucci-Taschen finden. Wenn sie Glück hatten, vielleicht auch Drogen. Wenn Fortuna es ganz besonders gut mit ihnen meinte, ein paar Waffen. Baumann war jede Abwechslung recht.

Exakt fünfzehn Minuten später war einer der 15 000 rostroten 40-Fuß-Container auf einen LKW geladen und stand an der Markierung der Röntgenanlage bereit, um in den großen Röntgentunnel hineingeschoben zu werden.

Tanja Molzow hielt sich ihre Kladde als Sonnenschutz über die Augen, während sie vor der Röntgenanlage auf das Go aus dem Kontrollzentrum warteten. Sie war müde. Ihre neun Monate alte Tochter hielt sie und ihren Mann nachts ordentlich auf Trab.

»Na, schlecht geschlafen?«, sagte ihr Kollege Thomas, der einen schweren Bolzenschneider in den Händen hielt, während er grimassierend ein schreiendes Baby imitierte.

Sie nahm den Blick kurz vom Container und sah ihn demonstrativ gelassen an.

»Fünfmal aufgestanden? Oder sechsmal?«, fragte Thomas.

»Achtmal«, sagte Molzow und seufzte, während sie die Formulare vorbereitete.

»Gut, dass ich keine Kinder habe.«

Er betätigte probehalber den Bolzenschneider. Die Metallklingen erzeugten ein unangenehmes Geräusch beim Zuschnappen.

»Wenn du weiter damit rumspielst, wirst du vielleicht nie welche haben«, sagte sie, und Thomas lachte.

»Finden wir jetzt was oder nicht?«, fragte sie. »Was meinst du?«

Es war das alte Zollbeamten-Spielchen. Vor jeder Stichprobe wetteten sie darauf, auf welche gefälschten Waren sie stoßen würden. Uhren von »Rollex« oder »Bratling«, Turnschuhe von »Adibos« oder »Adilas«, Sonnenbrillen von »Ray Barn«. Die absurdesten Markennamen-Kopien sammelten sie, und wer am Ende des Monats die meisten Treffer gelandet hatte, wurde zum Essen eingeladen.

»Ich glaube, wir werden heute Handtaschen finden«, antwortete Thomas. »Sagt mir mein großer Zeh.«

»Ich glaube, wir werden gar nichts finden«, erwiderte Tanja. »Sagt mir mein kleiner Zeh.«

»Wir sollten den Einsatz erhöhen, Tanja. Wer dieses Mal verliert, verliert auch den jeweiligen Zeh«, sagte Thomas und vollführte erneut eine Schnippbewegung mit dem Bolzenschneider. »Einverstanden?«

Sie haute ihm spielerisch ihre Kladde auf seinen stoppelhaarigen Kopf, und er schrie theatralisch auf.

Sollte die Durchleuchtung auch nur den kleinsten Verdacht auf Schmuggelware ergeben, würden sie den Container aufbrechen. Es war ein bisschen wie Geschenke aufmachen.

»Wir sind so weit«, hörte sie Baumanns Stimme in ihrem Headset.

»Okay, schieben wir den Braten in die Röhre«, sagte Tanja und drehte sich zum Kontrollzentrum um. Durch die Scheibe suchte sie Baumanns Blick und hob den Daumen zur Bestätigung. Er zeigte ihr ebenfalls den Daumen und schnarrte ein »Alles klar« über das Headset in ihr Ohr. Molzow gab dem Fahrer des Lkw ein Zeichen, der nun langsam anfuhr. Als er im Tunnel verschwunden und der Fahrer ausgestiegen war, hörte sie abermals Baumanns Stimme in ihrem Ohr:

»Starte Scan.«

Ein hochfrequentes Surren ertönte, als die Anlage den Container zu durchleuchten begann.

Tanja vernahm leise Schmatzgeräusche über das Headset. Baumann, dachte sie. Schert sich mal wieder einen Dreck um das Mikrofon vor seinem Mund.

Dann ertönte ein Husten. Zu schnell essen ist ungesund, Baumann, dachte sie mit leichter Befriedigung und grinste, aber dann sprachen plötzlich mehrere aufgeregte Stimmen im Headset durcheinander. Sie drehte sich wieder zum Tower und sah durch die Scheibe Baumann mit Kollegen heftig gestikulieren.

Was war los? Hatten sie Waffen gefunden?

»Baumann? Alles klar?«, fragte sie in ihr Mikro. Keine Reaktion.

Sie blickte zu Thomas. Auch er hatte mitbekommen, dass etwas nicht stimmte. Sein Blick zeigte Genugtuung. »Wette gewonnen. Sorry, Tanja.«

»Scheint was Großes zu sein«, murmelte sie und zeigte auf den Tower. »Ich geh mal hoch.«

Dann hörte sie Baumann schreien: »Ein Krankenwagen! Schnell!«

Im Tower war die Hölle los. Niemand nahm von ihr Notiz. Baumann telefonierte, seine Kollegen standen um seinen riesigen Monitor versammelt und diskutierten erregt. Hatten sie eine Atombombe entdeckt?

Tanja trat näher an den Monitor. Er zeigte die Röntgenaufnahme des Containers. Es sah aus wie eine Strichzeichnung. Sie erkannte die Umrisse des Lasters, die Reifen waren im Licht der Röntgenstrahlen schlichte Kreise. Darüber befand sich der durchleuchtete Container. Er sah aus wie das Foto-Negativ eines platt gedrückten Stilllebens: viele Kisten, wild neben- und übereinandergestapelt, darin die Umrisse der unterschiedlichsten Gegenstände.

Am äußersten rechten Rand, dem hinteren Ende des Containers, erkannte Tanja jedoch Strukturen, Schatten, die überhaupt nicht zu den eckigen Formen des Containers passten. Sie waren gebogen, gerundet, organisch.

Es waren Knochen. Skelette. Sie hockten eng zusammengepfercht auf dem Boden.

Mit dem Bolzenschneider brach Thomas das Siegel des Containers auf. Als er eintrat, wurde er von dem Gestank förmlich erschlagen. Ein warnender Blick von ihm ließ Tanja ihren Ärmel über ihre Nase stülpen, bevor sie ihm folgte. Der Verwesungsgeruch war dennoch so überwältigend, dass sie ihn auf der Zunge schmeckte. Darunter lag auch noch der Gestank von Exkrementen und Urin. Ihr wurde übel.

In all den Jahren beim Zoll hatte Tanja Molzow schon viel gesehen. Blinde Passagiere, in Hohlräumen unter dem Boden zusammengekauert, in Luftschächten oder Abwasserrohren versteckt. Aber bis jetzt waren sie immer im Schiff selbst gewesen. Noch nie hatte sie Menschen in einem Container gefunden. Schon gar nicht tote.

Im Schein ihrer Taschenlampe sah sie in der hintersten Ecke des Containers die kleinen Körper zusammengedrängt an der Wand lehnen. Sie trugen schmutzige Kleidung. Im Lichtkegel erkannte sie lange schwarze Haare und ausgemergelte Gesichter. Die Leichen waren bereits in Verwesung begriffen, aber sie konnte erkennen, dass es Mädchen waren. Sie schätzte sie auf nicht älter als zehn Jahre.

Thomas blickte sie betroffen an. Diese Mädchen hatten keine Chance gehabt. Über 70 Tage dauerte die Fahrt von Mumbai nach Hamburg.

Neben den Mädchen lagen unzählige leere Flaschen und Essensverpackungen herum, und sie konnte längst erloschene Taschenlampen ausmachen. Einige der Mädchen hielten etwas fest umklammert. Tanja Molzow leuchtete gezielter und erkannte schließlich, was es war. Kuscheltiere. Kuscheltiere mit Flügeln.

Was nur hatte diese Kinder dazu bewogen, in einen Container zu flüchten? Wie verzweifelt mussten sie gewesen sein? Was für Ängste mussten sie ausgestanden haben, so lange alleine in diesem dunklen Loch? Sie konnte den Anblick der toten Gesichter nicht länger ertragen und wandte sich ab. Im Augenwinkel sah sie das Blitzlicht der Kamera von Thomas.

Der Notarztwagen kam mit heulenden Sirenen. Die Ärzte betteten die Kinderleichen vorsichtig auf Bahren. Tanja, Thomas, Gregor und die restlichen Zollbeamten standen daneben und beobachteten das unfassbare Schauspiel. Die Helfer bedeckten die Kinder eines nach dem anderen mit weißen Tüchern. Als die Sanitäter die Leichen an ihnen vorbeitrugen, sah Tanja einen der Arme an der Seite herausragen. Etwas ließ sie zusammenzucken: Der Unterarm des Mädchens wies seltsame Verdickungen auf, als würde ein Kabel unter der Haut verlaufen. Die Hand des Kindes hielt noch immer eines der Kuscheltiere fest. Jetzt erkannte sie, was es war. Ein kleiner Engel. Etwas war in ihn hineingestickt. Ein Dreieck mit einem kleineren Dreieck darin, das auf der Spitze stand. Irgendwo hatte sie dieses Zeichen schon einmal gesehen.

 

2

Dutzende Hände schlugen auf ihr Auto, als sie sich der Einfahrt ihrer Firma näherte. Iliana blickte in viele wütende und empörte Gesichter. Hunderte Protestierende hatten sich vor dem »Dönerturm« versammelt, wie das modisch gestaltete Firmengebäude von Astrada in der Hamburger Hafencity genannt wurde. Selbst durch die geschlossenen Scheiben ihres Wagens hörte Iliana die Rufe der Demonstranten.

»Kinderschänder!«

»Schweinekonzern!«

Viele hielten Plakate hoch, eine Frau sprach in ein Megafon.

»… haben wir wieder ein typisches Beispiel dafür, dass die Pharmaindustrie nur an Profiten interessiert ist. Dafür ist sie bereit, über Leichen zu gehen!«

Auf einigen Plakaten erblickte sie das Logo von Pharmatransparency, des pharmakritischen Lobbyvereins – eine zerbrochene Spritze.

Als die Meldung von den toten Mädchen und den Astrada-Kuscheltieren vor zwei Tagen in den Nachrichten kam, hatte Iliana mit wenig Erfreulichem gerechnet. Aber sie hätte nicht erwartet, dass Pharmatransparency so schnell so viele Leute vor der Firmenzentrale mobilisieren würde. Immerhin hatte Astrada in den letzten Jahren für viele positive Schlagzeilen gesorgt und galt als einer der beliebtesten Konzerne weltweit.

Die Menge machte ihr kaum Platz, Iliana musste im Schritttempo fahren. Als sie sich endlich der Schranke der Einfahrt näherte, kam der Pförtner angelaufen.

Die Worte der Frau mit dem Megafon hallten über den Platz: »Astrada hat versucht, sich mit Bimini ein Saubermann-Image zuzulegen. Wie wir nun wissen, ist Astrada nicht besser als all die anderen Pharmakonzerne, auch wenn sie uns das glauben machen wollen. Astrada nutzt Kinder in Entwicklungs- und Schwellenländern für seine Zwecke aus, und wir fordern …«

Iliana kannte die Stimme, aber sie war zu abgelenkt, um sich darauf zu konzentrieren. Der Pförtner fluchte, als er immer wieder von Protestierenden aufgehalten wurde. Dann war er an ihrem Auto, und Iliana ließ die Scheibe runter. Schlagartig schwappte der Lärm von draußen herein, und sie musste fast schreien, um sich verständlich zu machen.

»Was ist hier los, Herr Eitner?«

Eitner, ein älterer Herr, schrie zurück: »Die sind heute Morgen Punkt acht Uhr angerückt, Frau Kornblum. Wir wussten von nichts. Ich hab schon die Polizei verständigt. Fahren Sie schnell durch, wenn ich die Schranke öffne, damit keiner reinkommt.«

Der »Dönerturm« ähnelte tatsächlich einem Dönerspieß mit seinen unregelmäßig an Breite zunehmenden Etagen. Ganz oben auf dem Dach des Turms glänzte das Astrada-Logo stolz vor dem Himmel, ein silbernes Dreieck mit einem kleineren umgedrehten Dreieck in seinem Bauch. Das neue Firmengebäude war erst vor wenigen Monaten fertiggestellt geworden. Der Konzern hatte Platz gebraucht. Die Einnahmen aus dem Verkauf von Bimini waren gigantisch.

Sie musste in die Forschungsabteilung, die sich in einem runden silbernen Gebäude nebenan befand, das »Ufo« genannt wurde. Dort waren die Labore und ihr Büro. Iliana war stellvertretende Forschungsleiterin des Pharmakonzerns, der die Krankheit Alzheimer besiegt hatte.

Sie hörte die Megafonstimme weiter plärren: »… fordern wir Astrada-Chef Erik Freimuth hiermit auf, seine Hinhaltestrategie aufzugeben und offenzulegen, was für unethische Kinderstudien Astrada in Indien veranstaltet!«

Jetzt identifizierte sie auch die Stimme. Sie gehörte Andrea Parka, der Leiterin von Pharmatransparency. Mark und Iliana hatten sich oft über sie und ihre einseitige Pharma-Verteufelung aufgeregt. In diesen Tagen war sie – wenig verwunderlich – omnipräsent.

Als Iliana durch die Gänge der Forschungsabteilung lief und ihre Mitarbeiter grüßte, schaute sie in lauter fragende Gesichter. Mark war seit Dienstag nicht mehr in der Firma gewesen. Wahrscheinlich besuchte er Konferenzen und hielt Vorträge wie immer. Ausgerechnet jetzt brach die Hölle über Astrada herein. Seit zwei Tagen berichteten die Medien über kaum etwas anderes als die toten indischen Mädchen in dem Container. Es war die perfekte Story. Tote Kinder aus der Dritten Welt und ein übermächtiger Pharmakonzern. Gut und Böse. Schwarz und Weiß.

»Waren sie Astradas Versuchskaninchen?« So lautete eine der Headlines, über einem riesigen Foto der fünf abgemagerten Mädchen. Natürlich gab es auch einen Zoomausschnitt auf einen der Kuschelengel, so stark vergrößert, dass das Firmenlogo gut zu erkennen war. Es ärgerte Iliana. Die Kuscheltiere waren kein Beweis, Pharmamerchandise kursierte überall. Warum warf die Presse nur derart mit Dreck? Wollten sie Astrada nun zerstören, weil es in den letzten Jahren ausschließlich Gutes über ihre Firma zu berichten gegeben hatte? »Heilmittel gegen Alzheimer gefunden«, »Alzheimer ist besiegt!« – das waren die Headlines der letzten Jahre gewesen, die Krönung von Marks und ihrer Arbeit. Sie beide hatten diese teuflische Krankheit, an der auch Ilianas eigener Vater litt, ein für alle Mal besiegt.

Natürlich hatte Erik Freimuth alle Vorwürfe zurückgewiesen. Der Konzern führte eine Menge Werbeartikel mit Firmenlogo im Sortiment: Schreibblöcke, Kugelschreiber, Uhren, selbstverständlich auch Kuscheltiere. Gängige Praxis, jeder Pharmakonzern tat das, Kuscheltiere waren bei Ärzten als Geschenke für kleine Patienten beliebt. Und ja, Astrada unterhielt auch eine Niederlassung in Indien. Möglich, dass Kuscheltiere mit Logo dort in Umlauf gekommen waren.

Es war nichts dran an der Sache, da war sich Iliana sicher. Nach Marks Rückkehr würde sie ihm vorschlagen, das Team zu versammeln, um eine kollektive Aussprache über die Ereignisse abzuhalten. Gerade jetzt war Offenheit wichtig, sonst würden sich ganz schnell Verunsicherung und Gerüchte breitmachen.

Nun hoffte sie, sich endlich ihrer Arbeit widmen zu können. Sie hatte viel auf dem Zettel. Es ging um Projekt P, die Anwendung von Bimini bei Parkinson. Die Ergebnisse der Mausstudien waren äußerst vielversprechend.

Von ihrem Büro aus konnte sie seitlich den Firmenparkplatz überblicken. Die drei dunklen BMW fielen Iliana sofort auf. Es war früher Nachmittag. Die meisten Mitarbeiter erschienen morgens zur Arbeit.

Die Wagen rollten langsam über den vollen Parkplatz und kamen nebeneinander auf den für Lieferanten reservierten Stellplätzen zum Stehen. Fünf Männer mit Sonnenbrillen stiegen aus. Iliana kannte die meisten Mitarbeiter, diese Männer hatte sie noch nie gesehen. Sie waren in Jeans und Lederjacken gekleidet, ein Outfit, das in einem Pharmakonzern niemand trug. Aber es war vor allem ihr Verhalten, das Ilianas Aufmerksamkeit auf sich zog. Nach dem Aussteigen blickten sie sich um, scannten die Umgebung. Es wirkte wie zweckdienliche Routine, nicht wie neugieriges Umherschauen. Einer der Männer sah dabei zu ihrem Fenster hoch und bemerkte Iliana. Einen Moment lang ruhten seine Sonnenbrillenaugen auf ihr, während sie realisierte, dass es zu spät war, um sich zu verstecken. Schließlich ließ er von ihr ab, und die Männer bewegten sich in Richtung Eingang.

Ihr Blick wanderte zu ihrem Monitor. Es ging um die Maus-Testreihe für Projekt P, ein interner Codename für das Vorhaben, Bimini für die Behandlung von Parkinson zu lizenzieren. Mark und sie hatten schon lange vermutet, dass das Medikament auch bei dieser Krankheit wirken könnte. Die Experimente mit den Mäusen weckten jedenfalls entsprechende Hoffnungen. Alles sah danach aus, dass Astrada womöglich bald den nächsten Hit landen würde.

Die rote LED an ihrem Firmentelefon blinkte. Sie hatte es auf lautlos gestellt, weil sie nicht gestört werden wollte. Im Display sah sie den Namen des Anrufers: Evelyn, Freimuths Assistentin. Ihre Töchter gingen in dieselbe Kita.

»Iliana, die Polizei ist hier!« Evelyn sprach mit abgedämpfter, hektischer Stimme.

»Was?«

»Sie sind bei Freimuth. O Gott, ich bin so aufgeregt.«

Jetzt wurde ihr klar, wer die fünf Männer auf dem Parkplatz gewesen waren.

»Ich muss auflegen«, wisperte Evelyn hektisch. »Sie kommen raus.«

Iliana legte auf. Es war sicher nur eine Routinebefragung. Die Polizei musste jedem Hinweis nachgehen. Es war nichts dran.

Oder?

Sie versuchte sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Sie hatten Parkinson-Mäuse mit Bimini behandelt. Man konnte in Mäusen Parkinson erzeugen, indem man durch Gift den Teil des Gehirns zerstörte, der auch bei Parkinson-kranken Menschen kaputtging: die Substantia nigra, eine Region von Nervenzellen tief im Mittelhirn. Wenn diese Zellen aus unbekannten Gründen zugrunde gingen, entwickelten Parkinson-Kranke die typischen motorischen Störungen. Sie zitterten und konnten ihre Gliedmaßen kaum noch beherrschen, bis die Krankheit am Ende in vollständige Bewegungsunfähigkeit mündete. Die Mäuse waren Modelltiere für Parkinson und zu Forschungszwecken gezüchtet worden. Auch sie zeigten erhebliche Bewegungsstörungen.

Das Studiendesign war immer das gleiche: Eine Gruppe der Parkinson-Mäuse hatte mehrere Wochen lang Bimini injiziert bekommen, eine Kontrollgruppe hingegen ein Placebo – um auszuschließen, dass die Versuchsbedingungen irgendeinen Einfluss auf das Ergebnis nahmen. Dann mussten die Mäuse täglich Bewegungsübungen absolvieren, und nach Ende der mehrwöchigen Versuchsreihen wurden alle Tiere getötet und ihre Gehirne in feine Scheiben geschnitten – um zu untersuchen, ob Bimini irgendetwas in ihren Gehirnen verändert hatte, wie es das in den Gehirnen von Alzheimer-Kranken tat.

Sie hatten insgesamt eintausend Mäuse untersucht, in einem äußerst akribischen Prozess. Die Ergebnisse waren eindeutig. Die Mäuse, die Bimini bekommen hatten, wiesen starke Verbesserungen in ihrer Motorik auf. Die Gruppe mit dem Scheinmedikament hingegen blieb auf einem gewissen Niveau stehen. Richtig aufregend waren aber die Gehirnschnitte. Bimini hatte in den Gehirnen der Mäuse neue Nervenzellen sprießen lassen. Die Substantia nigra hatte sich teilweise regeneriert. Das war nichts weniger als sensationell. Sie freute sich schon darauf, Mark davon zu berichten, wenn er endlich wieder da war.

Er reiste viel, besuchte assoziierte Labore, sah sich Produktionsstätten überall in Europa an, war auf Konferenzen ein beliebter Keynote-Speaker. Jetzt, da er ein Star war. Manche hielten ihn für einen Nobelpreis-Anwärter.

Sie wusste allerdings nicht, wo er die letzten Tage gewesen war. In all der Zeit, die sie inzwischen zusammenarbeiteten, kannte sie Mark Jacobs als pflichtbewussten Menschen. Mark, der eigentlich Markus hieß, aber schon vor vielen Jahren seinen Namen amerikanisiert hatte.

Die LED ihres Telefons blinkte erneut. Wieder Evelyn. Meine Güte, die war ja wirklich ein Nervenbündel. Sie nahm ab und erwartete, dass sie ihr ausgiebig von der Polizeivisite erzählen würde.

»Freimuth will dich sprechen«, sagte Evelyn.

Iliana stutzte.

»Warum das?«

Normalerweise hatte sie mit dem CEO nicht direkt zu tun. Mark war der Forschungsleiter, sie nur seine Stellvertreterin.

»Er hat gesagt, es sei dringend.«

Freimuths Büro befand sich in der obersten Etage im Tower. Evelyn grüßte sie verkniffen, als Iliana in das Vorzimmer trat. Sie schien immer noch angespannt.

Iliana kannte Freimuth kaum. Sie beneidete Mark keinen Moment darum, dass er sich mit ihm herumplagen musste.

Evelyn gab ihr mit einem Kopfnicken zu verstehen, unverzüglich zu ihm reinzugehen.

Das Erste, was sie wahrnahm, war sein Geruch. Iliana war ihm nur wenige Male persönlich begegnet und erinnerte sich nun wieder daran, dass sie seinen Geruch als invasiv empfunden hatte. Er ließ Assoziationen von Schwere aufkommen, aber da war noch etwas Spitzes, etwas Herausforderndes, etwas, das keine Grenzen kannte. Für einen Moment unterdrückte sie den Impuls, den Raum wieder zu verlassen. Gegen Geruch gab es keine Augenlider, keine Ohrstöpsel, er drang in einen ein, man war ihm ausgeliefert.

Erik Freimuth sah jünger aus, als er war, und das wusste er auch. Er hatte volles, kurz geschnittenes braunes Haar, wenig Falten, und die Grübchen in seinen Wangen verliehen ihm etwas Jungenhaftes. Er trug niemals Krawatten, sondern nur weiße T-Shirts unter seidigen, eng geschnittenen Jacketts, die teuer aussahen und es sicherlich auch waren.

Er wirkte auf eine glatte Art und Weise attraktiv. Sie mochte diesen Typ eigentlich nicht, aber da war auch etwas in ihr, das auf ihn reagierte. Widerwillig musste sie sich eingestehen, dass sie ihn auf gewisse Weise anziehend fand.

Freimuths Büro war minimalistisch eingerichtet, die Wände waren kahl, einige unbequeme Stühle standen um einen kleinen Konferenztisch herum. Alles wirkte groß und leer. Am Kopfende des Büros stand ein dunkler Schreibtisch, darauf nur ein ultradünner Laptop neben einem ultradünnen Smartphone. Kein Stift, kein Papier, nichts.

Freimuth tippte und schien keine Notiz von ihr zu nehmen, als sie eintrat. Zwei Stühle standen vor seinem Schreibtisch. Sie trat langsam darauf zu und kam sich bei jedem Schritt zu laut vor, denn er tippte fast geräuschlos. Sie setzte sich und versuchte, entspannt zu wirken.

»Sie wollten mich sprechen«, ergriff sie schließlich das Wort, als immer noch nichts passierte.

Freimuth tippte noch einen Moment weiter, dann klappte er seinen Laptop mit einer schnellen Bewegung zu.

»Markus Jacobs hat gekündigt.«

In seiner wohlklingenden Stimme schwang ein feiner amerikanischer Akzent mit. Freimuth war Amerikaner, aber er sprach perfektes Deutsch. Iliana vermutete, dass der Akzent reine Attitüde war. Anders als sonst bemerkte sie einen hohen Unterton in seiner Stimme, der einen kleinen Teil von seiner Souveränität zunichte machte. Es entging ihr auch nicht, dass er von Mark als Markus sprach – was sein eigentlicher Name war, aber eigentlich nannte ihn niemand mehr so.

»Ich verstehe nicht?«

Sie hatte erwartet, dass er mit ihr über die Protestaktionen sprechen wollte. Oder über die Parkinson-Studie. Dass er ihr die Kündigung ihres Chefs mitteilen würde, dem Vater des wichtigsten Medikaments von Astrada, damit hatte sie nicht gerechnet.

»Mit sofortiger Wirkung«, sagte Freimuth.

Es traf sie wie ein Schlag. Für Mark gab es keinen ersichtlichen Grund, den Konzern zu verlassen. Vor fünf Jahren hatte Freimuth ihn zu Astrada geholt, ihm viel Geld und die besten Forschungsbedingungen geboten, die man sich nur wünschen konnte. Mark und Freimuth kannten sich aus ihrer Zeit in Kalifornien. Mark hatte in Stanford geforscht, Freimuth im Silicon Valley mit mehreren Firmen Millionen gemacht. Warum sollte er jetzt kündigen? Nach dem riesigen Erfolg mit Bimini? So kurz vor seinem nächsten Triumph?

»Das ergibt überhaupt keinen Sinn.«

Freimuth ging nicht auf ihre Worte ein.

»Ich vermute, Herr Jacobs hat ein Angebot der Konkurrenz angenommen. Ich bin enttäuscht, nach allem, was ich für ihn getan habe.«

In Ilianas Kopf ratterte es. Wieso hatte Mark ihr nichts gesagt? Wieso hatte er sie nicht in seine Pläne eingeweiht? Sie arbeiteten seit Jahren eng zusammen, unterhielten ein Vertrauensverhältnis. Sie konnte es nicht glauben. Mark hätte ihr doch erzählt, wenn er unzufrieden gewesen wäre und mit dem Gedanken an Kündigung gespielt hätte. Da war ein ungutes Gefühl in ihr, ein Ziehen, nicht verortbar. Etwas stimmte hier nicht.

»Ich kann nur hoffen, dass er keine Daten mitgenommen hat«, sagte Freimuth. »Sollte er seine Verschwiegenheitserklärung missachten, werden wir ihn in Grund und Boden klagen.«

Sie sah gerade einen ganz anderen Freimuth als in dem Tagesthemen-Interview gestern, das er bezüglich der toten Mädchen gegeben hatte. Sein Blick war stechend, sein Mund ein Strich. Er war richtig wütend.

»Worum es jetzt geht, ist Kontinuität, Frau Kornblum. Sie sind die stellvertretende Forschungsleiterin, Sie wissen, dass all das jetzt zur Unzeit kommt.«

»Sie meinen, weil die Polizei gerade hier war?«

Sie biss sich auf die Zunge. Zu spät. Freimuths bedrohlicher Blick bestätigte ihr, dass sie die falsche Frage gestellt hatte.

»Woher wissen Sie davon?«, fragte er.

Sie hatte sich verplappert. Sie wollte Evelyn nicht in Schwierigkeiten bringen.

»Ich habe die Männer auf dem Parkplatz gesehen. Sie wirkten nicht wie Angestellte. In den Medienberichten hieß es, dass die Staatsanwaltschaft bereits ermittele. Ich habe mir meinen Teil gedacht.«

Es klang nicht überzeugend. Freimuth musterte sie mit seinen dunkelbraunen Augen. Sein Gesicht war nicht zu entziffern. Durchschaute er sie? Testete er sie?

Dann sagte er:

»Nein, nicht deswegen kommt es zur Unzeit. Wie ich schon sagte, Astrada hat mit diesen toten Mädchen nichts zu tun. Ich spreche von Projekt P. Dafür benötige ich volle Unterstützung vom Aufsichtsrat. Jacobs’ Ausscheiden darf das auf gar keinen Fall gefährden. Deswegen werden Sie mit sofortiger Wirkung die Forschungsleitung übernehmen.«

Jetzt war sie baff. Was geschah hier gerade?

»Heute ist Donnerstag. Am Dienstag ist die nächste Aufsichtsratssitzung. Jacobs sollte Projekt P dort präsentieren. Und zwar so, dass der Rat dem Projekt grünes Licht gibt. Das werden nun Sie übernehmen.«

Sie schnappte nach Luft.

»Das ist viel zu kurz. Wir haben Unmengen von Daten, die wir noch längst nicht ausgewertet haben.«

»Dann gehen Sie an die Arbeit.«

Er klappte seinen Laptop wieder auf und begann zu tippen.

Sie war völlig verwirrt. Das ging alles zu schnell. Warum hatte Mark bloß gekündigt?

Sie stand auf und ging. Als sie schon an der Tür war, rief Freimuth ihr nach:

»Frau Kornblum, eine Sache noch.«

Sie drehte sich um.

»Ab sofort sind alle Daten zu Bimini Verschlusssache.«

»Warum das?«

»Wie ich erfahren habe, sind mehrere investigative Journalisten auf uns angesetzt worden. Wir haben Protestaktionen vor dem Firmengelände. Wir können nichts riskieren. Keinerlei Daten verlassen mehr dieses Gelände.«

»Für die Präsentation werde ich aber vielleicht alte Daten benötigen.«

»Dann muss ich Sie bitten, am Wochenende in die Firma zu kommen«, sagte Freimuth knapp und blickte wieder auf seinen Laptop.

Als sie sein Büro verlassen hatte, verfolgte sie sein Geruch noch lange. Sie war sich nicht sicher, ob er in ihrer Kleidung oder in ihrem Kopf steckte.

 

3

»Pharmakonzerne führen Medikamentenstudien besonders gerne in Entwicklungsländern durch. Die Gründe sind einfach: Dort muss man den Probanden weniger bezahlen, und die ethischen Standards sind sehr viel niedriger. Wenn sie überhaupt vorhanden sind.«

Iliana starrte auf den Bildschirm. Sie sah die Tagesthemen und trank ein Glas Wein. Gerade interviewten sie, wen sonst, Andrea Parka. Nach der Arbeit hatte sie Marie in der Kita abgeholt, danach war sie bei ihrem Vater vorbeigefahren und war länger dort geblieben als ursprünglich geplant. Es war schön, dass er wieder so gut wie gesund war. Bimini hatte seine Alzheimer-Symptome auf ein Minimum reduziert. Sein Erinnerungsvermögen funktionierte fast normal. Manchmal fiel ihm ein Name nicht sofort ein, aber er hatte immerhin nicht mehr mit Totalausfällen zu tun. Seit einem Jahr wohnte ihr Vater wieder in einer eigenen Wohnung und kam alleine zurecht. Für Iliana war es eine enorme Erleichterung gewesen. Manchmal konnte sie es kaum fassen, wie sich alles entwickelt hatte. Vor drei Jahren noch hatte ihr Leben in Trümmern gelegen: die Krankheit ihres Vaters, der plötzliche Tod ihrer Mutter, ihre Trennung von Phillip. Sie war am Ende ihrer Kräfte gewesen. Obwohl derzeit alles gut aussah, war sie noch nicht wieder vollständig in Form. Jetzt auch noch diese Präsentation, die sie am Wochenende fertigstellen musste.

Sie nahm einen Schluck Wein.

»Wie wir wissen, litten die indischen Mädchen aus dem Container unter Entwicklungsstörungen«, sagte die Nachrichtensprecherin.

»Dafür gibt es zahlreiche Erklärungsmöglichkeiten«, antwortete Parka. Sie blickte mit festem Blick in die Kamera. Ihr langes dunkles Haar hatte sie zusammengebunden, graue Strähnen waren darin zu sehen. Sie wirkte sehr seriös, sprach ruhig und sachlich. Iliana hielt sie für eine gewiefte tendenziöse Strategin.

»Mädchen haben in Indien einen schweren Stand, häufig werden sie in ihren Familien schlecht behandelt. Sie gelten als Bürde, weil bei ihrer Heirat eine Mitgift fällig wird. Das bedeutet für viele arme Familien eine finanzielle Last. Millionen Mädchen werden in Indien daher vernachlässigt, ausgesetzt, verkauft oder nach der Geburt umgebracht, wenn sie nicht schon vorher abgetrieben werden. Mittlerweile gibt es in Indien sogar einen deutlichen Männerüberschuss. Es hätte in der Verantwortung des Pharmakonzerns gelegen, dafür Sorge zu tragen, dass es den Mädchen wenigstens für die Dauer der Studie gut geht.«

»Was macht Sie so gewiss, dass diese Mädchen an einer medizinischen Studie teilgenommen haben?«

»Da sind zum einen die Stofftiere mit dem Astrada-Logo …«

»Die aber auch auf anderem Wege zu den Kindern gelangt sein könnten«, warf die Nachrichtensprecherin ein.

Parka nickte. »Das ist natürlich möglich, ja. Wenngleich ich es für unwahrscheinlich halte. Solche Pharma-Werbeartikel werden zumeist an Ärzte und Krankenhäuser verteilt. Diese Mädchen standen irgendwie in Kontakt mit einer medizinischen Einrichtung. Was ich aber als noch viel stärkeren Beweis betrachte, ist die Tatsache, dass sie einen Shunt implantiert hatten …«

»Ich glaube, wir müssen den Zuschauern kurz erklären, was das ist«, unterbrach die Sprecherin sie.

»Verzeihung«, sagte Parka. »Ein Shunt ist ein kleiner Schlauch, der Vene und Arterie verbindet und den man Patienten in den Arm implantiert. Das macht man beispielsweise bei Dialysepatienten, die regelmäßig zur Blutwäsche müssen, weil ihre Nieren das Blut nicht mehr reinigen können. Weil man aber Venen nicht so oft anstechen kann, setzt man ihnen diesen Schlauch in den Unterarm ein. Der Arzt sticht die Nadel dann in den Schlauch statt in die Vene. Die Verdickungen unter der Haut sehen zwar gruselig aus, es macht die Sache für den Patienten aber angenehmer.«

»Wenn die Mädchen solche Shunts in ihren Armen hatten, bedeutet das, dass sie nierenkrank waren?«

»Das könnte sein, und es würde auch die Mangelerscheinungen erklären, aber etwas passt meiner Meinung nach nicht. Wie ich bereits erwähnte, sind Mädchen in Indien weniger wert als Jungen. Ich halte es daher für äußerst unwahrscheinlich, dass sie – falls sie nierenkrank gewesen sein sollten – überhaupt eine medizinische Behandlung bekommen hätten.«

»Was glauben Sie stattdessen, Frau Parka?«

»Indische Mädchen werden häufig verkauft – meistens an Sex- oder Sklavenhändler. Aber auch an andere skrupellose Leute. Ich glaube, dass diese Mädchen als Versuchskaninchen für Studien verkauft wurden. In diesem Fall an Leute, die Studien im Auftrag von Astrada durchführten. Deswegen die Shunts, da man ihnen häufig Substanzen injizieren musste. Deswegen die Astrada-Kuscheltiere. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Pharmakonzern Kinder als Versuchskaninchen missbraucht, um neue Medikamente zu testen. 1996 testete Pfizer während einer Meningitis-Epidemie das Antibiotikum Trovan an Minderjährigen in Nigeria. Elf Kinder starben, viele weitere waren danach lebenslang behindert. 2003 hat eine Sanofi-Tochter in Indien Tests durchgeführt und den Patienten verschwiegen, dass sie an einer Studie teilnahmen. Auch damals starben Menschen. 2007 testete Novartis an Obdachlosen in Polen einen Vogelgrippe-Impfstoff, ohne deren Einverständnis. Die Liste ist lang, alle großen Pharmakonzerne verletzen seit Jahren ethische Standards – warum sollte Astrada da eine Ausnahme sein?«

»Das sind sehr schwerwiegende Vorwürfe, Frau Parka«, sagte die Nachrichtensprecherin. »Erik Freimuth, der Chef von Astrada, hat bestritten, dass der Konzern Studien an indischen Kindern durchführt.«

»Was soll Erik Freimuth auch anderes sagen? Ich kenne keinen Fall, in dem die Pharmaindustrie ihre Schuld freiwillig eingestanden hat. Die Wahrheit kommt meist scheibchenweise ans Licht, und immer nur unter Druck.«

Man merkte, dass Andrea Parka zahlreiche Medientrainings hinter sich hatte. Sie wusste ganz genau, welche Knöpfe sie drücken musste. Parka hatte früher selbst in der Pharmaindustrie gearbeitet. Dann hatte sie die Seiten gewechselt und war zur schärfsten Pharmakritikerin mutiert. Ihr Verein Pharmatransparency war in der Branche gefürchtet.

Iliana schaltete den Fernseher auf lautlos. Sie war wütend. Parka hatte ein wichtiges Detail unterschlagen, nach dem auch die Journalistin nicht gefragt hatte. In den Körpern der Mädchen hatte man lediglich Rückstände von Beruhigungsmitteln gefunden – keinerlei Hinweise auf andere Drogen oder Substanzen. Dies aber hätte bei Medikamententests der Fall sein müssen. Beides passte nicht zur These von den Kinder-Versuchskaninchen.

Was sie über die üble Lage von Mädchen in Indien gesagt hatte, stimmte hingegen. Gut möglich also, dass es für die schlechte körperliche Verfassung der Mädchen und ihre Flucht andere Gründe gab. Die Shunts in ihren Armen blieben natürlich rätselhaft.

Eines war klar: Das Ganze war ein PR-Desaster für Astrada. Sie musste Andrea Parka leider zugestehen, dass die Indizien in der Tat dazu einluden, die Rollen von Gut und Böse eindeutig zu verteilen.

Iliana stand auf. Sie war müde, aber innerlich unruhig. Das Gespräch mit Freimuth hing ihr nach. Sie konnte nicht verstehen, warum Mark sich zu diesem Schritt entschieden hatte. Vor allem, warum er ihr nichts davon gesagt hatte.

Sie war jetzt Forschungsleiterin von Astrada, mit 39 Jahren. Sie konnte sich nicht darüber freuen. Sie war nur befördert worden, weil ihr langjähriger Chef und Kollege entschieden hatte, sich aus dem Staub zu machen.

Bis Dienstag sollte sie eine hochkarätige Präsentation zusammenhauen, aus lauter Rohdaten.

Mark? Was soll das? Wieso hast du gekündigt?

Sie sah ihn vor ihrem inneren Auge, klar und deutlich. Ihr Gehirn schoss permanent Bilder, sie besaß ein fotografisches Gedächtnis. Sie sah Marks schmales Gesicht, das immer unrasiert war. Sie sah seine hellblauen Augen, die durch die fast unsichtbare Brille lugten. Sie sah sein blondes Haar, das in den letzten Jahren immer dünner geworden war, was ihn sehr fuchste. Sie sah die stets bedachten Bewegungen seines schlanken Körpers. Wenn er sich überhaupt bewegte, denn er hatte die Angewohnheit, nicht selten lange regungslos und hoch konzentriert dazusitzen wie eine Eidechse. Sie hatte ihn immer um diese Fähigkeit der totalen Versenkung beneidet, wenn er minutenlang vor seinem Rechner oder über eine Studie gebeugt ausharrte, ohne die kleinste Bewegung zu machen.

Mark. Sie kramte ihr Handy hervor und tippte auf seinen Kontakt. Zum x-ten Mal versuchte sie, ihn anzurufen, und zum x-ten Mal sprang nur seine Mailbox an.

»I am currently unavailable, please leave a message«, teilte die Aufnahme seiner unaufgeregten Stimme mit.

Umso aufgeregter war ihre: »Mark! Was ist los? Wo steckst du? Melde dich endlich!«

Iliana ging vorsichtig zu Maries Zimmer und lauschte an ihrer Tür. Alles ruhig. Ihre Tochter schlief. Sie drückte die Türklinke langsam hinunter und öffnete die Tür. Als sie eintrat, traf sie sofort der charakteristische Geruch ihrer Tochter. Eine Mischung aus Blumenduft, Waschmittel und Gummibärchen. Sie hörte Maries Atem und näherte sich ihrem Bett. Es war schummrig in dem Zimmer. Ein Nachtlicht in der Steckdose neben ihrem Bett tauchte ihr Gesicht in sanftes Licht. Marie mochte völlige Dunkelheit nicht. Ohne Nachtlicht wollte sie nicht schlafen.

Sie hatte die Decke völlig zerwühlt, ihre blonden Locken waren zerzaust. Marie lag auf der linken Seite, im Arm hielt sie ihren Teddy. Der Daumen der rechten Hand befand sich nah am Mund, aber nicht darin. Sehr gut, dachte Iliana. Sie versuchte Marie gerade endgültig das Daumenlutschen abzugewöhnen. Wenn Marie einmal schlief, dann schlief sie – beneidenswert, fand Iliana, die in den letzten drei Jahren unter Schlafstörungen gelitten hatte. Nach außen hin wirkte sie immer souverän, das hatten schon ihre Eltern gesagt. Immer kontrolliert, immer Herrin der Lage. Aber der Schlaf entzog sich ihrer Kontrolle, und nachts kamen all ihre Ängste und Schwächen hervorgekrochen wie Silberfischchen. Sie war froh, wenn sie sich morgens nicht an ihre Träume erinnerte. Die Gefühle, die ihr nachhingen, reichten ihr.

Sie betrachtete ihre schlafende Tochter, lauschte ihren Atemzügen. Sie hatte sich immer ein zweites Kind gewünscht, nun stand ihre Scheidung bevor, und alles sah danach aus, dass Marie ein Einzelkind bleiben würde – so wie sie selbst eines gewesen war. Das hatte sie Marie ersparen wollen, die ständige Aufmerksamkeit, den Erwartungsdruck, immer im Fokus zu sein, niemanden zu haben, mit dem man Geheimnisse vor den Eltern teilen konnte. Eine Woge der Liebe durchströmte Iliana plötzlich, als sie Marie betrachtete, dieses kleine Wesen, in dem sie sich immer wieder selbst erkannte, das ihr Ein und Alles war.

Iliana dachte daran, wie sie mit Phillip zusammen Kinderfotos von ihnen beiden durchgesehen hatte – auf der Suche nach Ähnlichkeiten, im spielerischen Wettbewerb, wem Marie ähnlicher sah. Sie hatten viel gelacht, denn Phillip war ein ziemlich hässliches Kind gewesen, mit aufgeplusterten Backen, Zahnlücken und schiefem Grinsen. Es war so offensichtlich, dass Marie mit ihren grünen Augen, ihrem Lächeln und ihren dunkelblonden Locken eine Kopie von Iliana als Kleinkind war. Schließlich hatte sogar Phillip kapituliert, obwohl er gerne im Recht war. Unter Lachen natürlich.

Sie vermisste sein Lachen.

Vorbei. Nächstes Jahr würden sie sich scheiden lassen. Phillip lebte mit seiner neuen Freundin zusammen. Die Scheidung hatte Iliana gefordert, und in manch schwachem Moment fragte sie sich, ob diese Entscheidung nicht vorschnell gewesen war.

Sie strich Marie über die Wange, sehr behutsam, obwohl sie wusste, dass sie nicht aufwachen würde. Dann zog sie Maries Decke höher. Dabei bemerkte sie auf dem T-Shirt des Teddys ein weißes Dreieck mit einem umgedrehten kleineren Dreieck in dessen Mitte. Sie zuckte zusammen. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass Marie ein Kuscheltier von Astrada besaß. Hatte sie es ihr mitgebracht? Oder Phillip? Er war Arzt und Chef der Elbkliniken.

Ausgemergelte Gesichter, schwarze Haare. Dünne Arme, die Kuschelengel umklammern.

Die Bilder der toten Mädchen waren überall zu sehen gewesen. Sie wettete, dass Parkas Leute dafür gesorgt hatten. Solche Bilder waren die besten Waffen im Kampf gegen die Pharmaindustrie.

Plötzlich kam ihr ein Gedanke, der sie abermals verwirrte. Wieso wollte Freimuth die Bimini-Daten unter Verschluss halten, wenn der Konzern doch angeblich nichts mit den indischen Mädchen zu tun hatte? Was hatte er zu befürchten? Wieso hatte er es so demonstrativ beiläufig erwähnt, wenn es doch so wichtig war? Da war etwas, das sie kitzelte, das ihr keine Ruhe lassen würde, wenn sie ihm nicht nachging. Wissensdurst war seit jeher ihr Motor gewesen. Er hatte sie dazu getrieben, sich der Forschung zu widmen. Hatte sie ihre Scheu überwinden lassen, vor Jahren als völliger Niemand den führenden Alzheimer-Forscher anzuschreiben und sich in seinem Labor zu bewerben. So war sie bei Mark in Stanford gelandet. Manchmal konnte sie nicht glauben, wie naiv sie gewesen war. Welch großes Glück sie gehabt hatte.

Was an den Bimini-Daten war es, das Freimuth nervös machte? Sie verließ Maries Zimmer, holte den Firmen-Laptop aus ihrer Tasche und ging ins Wohnzimmer. Natürlich hatte sie eine lokale Kopie der Bimini-Daten auf ihrer Festplatte.

Das Dreieckslogo prangte auf ihrem Laptop wie ein Brandzeichen. Eigentum von Astrada. Sie wusste, dass sie keine Firmendaten auf der Festplatte ablegen sollte. Auch schon vor Freimuths Ansage war das die Vorschrift gewesen. Tausendmal hatte Matthias, der Systemadministrator, sie und die anderen in Corporate Privacy geschult – sterbenslangweilige Pflichtseminare waren das gewesen. »Speichert Daten nur auf den Netzlaufwerken«, hatte er mit seiner einschläfernden Technikerstimme gesagt, »sonst werdet ihr es beim nächsten Crash bereuen.«

Natürlich ging es nicht um Datenvorsorge. Es ging um Kontrolle. Die Daten, das war der Subtext, gehörten Astrada und niemandem sonst. Man traute den Mitarbeitern nicht. Für die Firma war jeder ein potenzielles Datenleck – ob absichtlich oder aus Dummheit. Sie hatte die Daten dennoch auf ihre Platte kopiert. Die Gründe waren simpel: eine Mischung aus Bequemlichkeit und Insubordination.

Die Netzlaufwerke sind zu langsam, Matthias. Genau wie du.

Es waren ihre Forschungen, ihre Daten. Astrada machte sie zu Geld. Sie wusste, dass dies eine naive Sicht der Dinge war und es in ihrem Vertrag eine Klausel gab, laut der sämtliche ihrer Ergebnisse Astrada gehörten. Aber juristische Winkelzüge interessierten Iliana nicht.

Wo war der Bimini-Ordner? Sie wühlte sich durch ihre Festplatte. Ihr Desktop war voller Dokumente, Excel-Tabellen, PDFs, GIFs.

Schließlich fand sie ihn. Sie fuhr mit der Maus darüber und wollte ihn schon aufklicken, als ihr siedend heiß etwas einfiel.

»Sie schauen uns über die Schulter, Iliana.«

Sie erinnerte sich an ein Gespräch mit Mark, das etwa zwei Jahre zurücklag. Er hatte damals auf seinem Rechner eine seltsame Software entdeckt, von der er glaubte, dass sie jeden Mausklick, jede Tastatureingabe aufzeichnete und an Astrada sandte.

»Sie schauen uns über die Schulter, Iliana. Bei allem, was wir tun. Denk dran.«

Sie hatte ihn ausgelacht und als paranoid bezeichnet.

Nun sah sie den Mauszeiger auf dem Ordnersymbol und überlegte. Was, wenn er nicht paranoid war?

»Denk dran.«

Er hatte ihr damals gezeigt, wie man die Schnüffel-Software aufspürte. Sie schloss die Augen und blätterte im Fotoalbum ihrer Erinnerung. Sie sah Marks lange Finger gespreizt über seinem Keyboard, sah die dicke Uhr an seinem linken Handgelenk, sah seinen linken Daumen auf der CTRL-Taste liegen, der Zeigefinger drückte die Taste 3, und die äußeren Finger spreizte er ab wie ein Künstler. Es war eine merkwürdige Handverrenkung, um eine spezielle Tastenkombination zu aktivieren, die sie nicht kannte. Ihr geistiges Auge wanderte nun zu seiner rechten Hand. Die musste sich noch unbequemer angefühlt haben, denn deren Zeige-, Mittel- und Ringfinger drückten gleichzeitig die Tasten R, U und P. Die Adern traten hervor von der Anstrengung und sahen aus wie kleine Schlangen.

Was, wenn er recht gehabt hatte? Sie wollte nichts riskieren und versuchte sich an der Tastenkombination, wobei sie merkte, dass Mark viel größere Hände hatte als sie. Sie bekam fast einen Krampf und probierte mehrere Handkonstellationen, um die Tastenkombination zu drücken. Schließlich gelang es ihr, und ein Fenster sprang auf. Sie sah Prozentwerte, Graphen und eine lange Liste mit Dateinamen, deren Reihenfolge permanent hin und her sprang. IT-Kram, der sie nie interessiert hatte. Aber hier irgendwo musste es sein.

Sie schloss erneut ihre Augen. Marks rechter Zeigefinger deutete auf einen Eintrag in der Liste. Sein Fingernagel lag direkt unter: »trust_d«. Das war der Name des Systemdienstes gewesen, der von der Schnüffel-Software installiert wurde.

Sie suchte die Liste auf ihrem Monitor ab. Einträge hüpften umher, wurden immer wieder vom Rechner nach Aktivität umsortiert. Sie war müde, und die kleine Schrift auf ihrem Monitor flimmerte, aber dann entdeckte sie es, ziemlich weit unten: trust_d.

Also stimmte es wirklich. Sie schauten auch ihr über die Schulter.

Beklemmung machte sich in ihr breit. Freimuth wusste bereits – oder konnte es wissen, wenn er wollte –, dass sie eine lokale Kopie der Bimini-Daten besaß. War das ein Test? Hatte er sie deswegen ermahnt, sich an die Datenschutzbestimmungen zu halten? Weil er sehen wollte, ob sie den Bimini-Ordner löschen würde?

Wenn sie jetzt darin herumstöberte, würde er es mitbekommen.

Schnell deaktivierte sie das WLAN auf dem Laptop, damit die Software erst mal nichts mehr senden konnte.

Wirklich nicht? Der paranoide Mark hatte ihr eingebläut, sich auf nichts zu verlassen. Hektisch lief sie durch ihre Wohnung. Wo war der Router? Nach einigem Suchen fand sie ihn in der Besenkammer, verborgen hinter altem Geschirr und Putzzeug. Sie zog den Stecker des Geräts ab, die LEDs erloschen.

Jetzt war sie offline. Es verschaffte ihr ein wenig Zeit. Aber ihr Rechner zeichnete trotzdem weiterhin alles auf. Auch, dass sie das WLAN unterbrochen hatte. Sobald er wieder online war, würde er alles senden.

Ihre Gedanken rasten, suchten einen Ausweg.

Sie wählte im Rechner den Dienst trust_d und versuchte, ihn zu beenden. Aber er war ausgegraut, sie konnte ihn nicht stoppen.

Sie überlegte weiter. Sie konnte natürlich die Bimini-Daten auf einen USB-Stick kopieren und an einem anderen Rechner analysieren. Aber auch den Kopiervorgang würde die Schnüffel-Software aufzeichnen.

Es war zum Verrücktwerden. Wie konnte sie Freimuths Augen entkommen?

Dann kam ihr eine Idee.

Die Größe ihrer Wohnung lud nicht gerade dazu ein, viele Dinge zu horten. Sie brauchte dennoch fast zehn Minuten, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. Phillips Notfallstick. Ihr Exmann hatte sich immer für den Ernstfall abgesichert. Computerviren, versehentlich gelöschte Systemdateien, abrauchende Festplatten – in Phillips Welt lauerten viele Gefahren und unangenehme Überraschungen, auf die man sich besser vorbereitete. Er hatte immer ein startbares Linux-System auf einem USB-Stick gehortet, mit dem man einen Rechner auch dann hochfahren konnte, wenn nichts mehr ging. Dann kam man immer noch an seine Daten heran, hatte er ihr etwas zu oberlehrerhaft erklärt.

Jetzt war sie froh, dass er es getan hatte. Sie fuhr den Rechner runter, schob den Stick in den USB-Port und drückte den Anschaltknopf. Als ein lächelnder Linux-Pinguin auf ihrem Startbildschirm erschien, murmelte sie: »Fuck you, Freimuth.«

Bimini war ein Proteincocktail, der aus dem Blut junger Spender gewonnen wurde. Im Gehirn von Alzheimer-Kranken ließ es frische Nervenzellen sprießen und diese Zellen neue Verbindungen untereinander ausbilden. Der Krankheitsverlauf von Alzheimer bestand wie bei Parkinson in der stetigen Abnahme der Hirnmasse durch das Absterben von Neuronen. Allerdings nicht nur in der Substantia nigra, sondern vor allem im Hippocampus, einer Hirnregion, in der Erinnerungen gebildet werden. Im weiteren Verlauf der Alzheimer-Erkrankung war dann auch die Großhirnrinde vom Verlust der Nervenzellen betroffen.

Alles hatte in Stanford mit den so legendären wie umstrittenen Maus-Experimenten von Mark begonnen. Sie erinnerte sich, wie Tierschützer damals auf die Barrikaden gegangen waren, als Mark seine Versuche publiziert hatte. Sie hatten ihm eine Menge Aufmerksamkeit beschert. Auch Iliana selbst war darüber auf ihn gestoßen. Sie hatte die grausamen Experimente nie mit eigenen Augen gesehen. Jetzt betrachtete sie fasziniert ein paar Videos der alten Versuche.

Das Video zeigte zwei Mäuse, deren kleine Körper leicht zitternd zwischen Holzspänen zusammengedrängt in ihrem Käfig aus Plexiglas kauerten. Das Video war offenbar kurz nach dem chirurgischen Eingriff aufgenommen worden, denn am seitlichen Hinterteil der Tiere war noch die rote Operationsnaht zu sehen.

Mark hatte die Mäuse miteinander verbunden wie siamesische Zwillinge. Er hatte an beiden Tierleibern einen tiefen Einschnitt vorgenommen und sie an den Wunden zusammengenäht. Den Rest erledigte die Biologie. Nach wenigen Tagen waren die Mäuse an der Nahtstelle zusammengewachsen. Parabiose nannte man dieses Experiment. Sein Sinn und Zweck bestand darin, die Blutkreisläufe der beiden Tiere miteinander zu verbinden.

Der Trick war gewesen, dass Mark eine alte mit einer jungen Maus vernäht hatte. Im Video war deutlich zu erkennen, dass die linke Maus größer als die rechte und ihr Fell dunkler und struppiger war. Die linke Maus war die ältere. Und zwar deutlich älter.

Nach der operativen Verbindung beider Körper floss Blut der jungen Maus in den Körper der alten und umgekehrt.

Was wie die grausame Quälerei eines skrupellosen Wissenschaftlers anmutete, sollte sich als das Schlüsselexperiment für den langen Weg zur Bekämpfung von Alzheimer erweisen. Als Mark nach wenigen Wochen die Mäuse chirurgisch wieder trennte, stellte er erstaunliche Veränderungen bei der alten Maus fest – sie war verjüngt worden.

Mark hatte die alten Mäuse nach der Trennung von ihrem jeweiligen jungen siamesischen Zwilling allen möglichen Tests unterzogen. Er ließ sie durch Labyrinthe laufen und den Ausgang suchen, um ihre Gedächtnisleistung zu prüfen. Normalerweise lernen Mäuse den Weg aus einem Labyrinth nach wenigen Durchgängen. Alte Mäuse brauchen naturgemäß länger als jüngere, weil sie sich schlechter erinnern.

Aber die alten Mäuse, durch die junges Blut geflossen war, waren anders. Sie fanden schnell aus dem Labyrinth heraus. Genauso schnell wie junge Mäuse. Sie konnten sich wieder besser erinnern.

Mark fand den Grund dafür in ihren Köpfen. Er tötete die alten Mäuse und schnitt ihre Gehirne in Scheiben. Iliana klickte sich durch die Gehirnschnitte und sah, dass den alten Tieren im Hippocampus neue Nervenzellen gewachsen waren. Hinzu kam: Die Nervenzellen hatten mehr Verbindungen untereinander ausgebildet. Darin lag die Erklärung für ihre bessere Gedächtnisleistung.

Das Parabiose-Experiment machte Mark schlagartig berühmt. Davor hatte er bereits viele Jahre lang an Alzheimer geforscht, allerdings mit wenig Erfolg. Er hatte gehofft, eines Tages einen Früherkennungstest für die Krankheit zu entwickeln, um Patienten möglichst frühzeitig behandeln und den Niedergang des Gehirns zu verlangsamen. Nie hätte Mark sich träumen lassen, eines Tages ein Heilmittel gegen Alzheimer zu finden.

Auf der Suche nach einem Biomarker für Alzheimer hatte Mark jahrelang das Blut von Gesunden mit dem Blut von Alzheimer-Patienten verglichen in der Hoffnung, auf irgendwelche verräterischen Unterschiede zu stoßen. Er fand sie nicht. Auf die Parabiose war er zufällig gekommen. Mark hörte auf einer Konferenz den Vortrag eines alten Forschers, der als junger Doktorand das Experiment noch selbst durchgeführt hatte – es war aufgrund seiner Grausamkeit in den 70er-Jahren aus der Mode gekommen. Fast nebenbei erwähnte der Forscher, dass alte Mäuse agiler gewirkt hatten, wenn sie mit jüngeren zusammengenäht wurden. Mark wurde hellhörig. Von dem alten Wissenschaftler ließ er sich zeigen, wie man eine Parabiose-Operation bei Mäusen korrekt durchführte. Der Rest war Geschichte.

Iliana wünschte, sie wäre damals dabei gewesen, als Mark die Gehirnschnitte sah, die sie jetzt auf dem Monitor hatte. Wissenschaft konnte wie eine Droge sein. Sie kannte das Gefühl, sie hatte es erlebt, als sie und Mark die ersten Studienergebnisse mit Bimini an Menschen gesehen hatten und wussten, dass es wirkte. Sie hatte etwas von der großen rätselhaften Maschinerie des Lebens verstanden und daran gedreht. Das war ein großartiges und mächtiges Gefühl. Dadurch wurde man Teil von etwas, das viel größer und älter war als man selbst. Sie hatte es in der Hand, menschliches Leid zu beenden. Ihr waren die Tränen gekommen, weil damals ihre ersten Gedanken ihrem kranken Vater gegolten hatten. In diesem Moment hatte sie gewusst, dass er wieder gesund werden, dass sie ihn heilen würde.

Die Verjüngung der alten Mausgehirne klappte auch ohne das grausame Zusammennähen. Mark zeigte in weiteren Experimenten, dass Bluttransfusionen zwischen jungen und alten Tieren den gleichen Effekt hatten. Es genügte sogar das Blutplasma, also der flüssige Teil des Blutes ohne die roten Blutkörperchen.

Aber das waren Maus-Experimente. Mäuse waren keine Menschen. Das Experiment, das Mark zum Hoffnungsträger der Alzheimer-Forschung beförderte und einen wahren Goldrausch in seinem Forschungsfeld auslöste, war jenes, in dem Mark seinen alten Mäusen das Blutplasma junger Menschen transfundierte. Auch das brachte die alten Mausgehirne wieder auf Trab.

Nun war klar: In jungem Blut, egal ob in menschlichem oder tierischem, steckte ein Jungbrunnen. Wer ihn zuerst fand, der würde Alzheimer besiegen – und eine Menge Geld verdienen.

In dieser Phase war Iliana zu ihm nach Stanford gekommen, angelockt von den spektakulären Ergebnissen, voller Motivation, ihren Vater zu heilen, der damals schon an den ersten Stufen von Alzheimer litt.

Es war keine Option, Alzheimer-Patienten einfach das Plasma junger Leute zu verabreichen. Man hätte Unmengen an Blut benötigt und die Patienten permanent an eine Transfusion hängen müssen. Also musste man jene Stoffe im Blutplasma finden, die Nervenzellen sprießen ließen. Ein wahrer Goldrausch brach damals in den Laboren aus. Marks Forschung hatte ihn ausgelöst, und auch er und Iliana waren dem daraus entstandenen Konkurrenzdruck ausgesetzt gewesen – diese heiße Phase bedeutete nicht nur unendlich viel Arbeit, sondern entsprach der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Blut ist ein flüssiges Organ, über das alle anderen Organe und Gewebe miteinander kommunizieren. Es enthält ein Sammelsurium an Stoffen – Hormone, Nährstoffe, Abwehrstoffe, über zehntausend Proteine –, und von den wenigsten wusste die Wissenschaft, wie sie eigentlich funktionierten. Unter ihnen musste sich der gesuchte Jungbrunnen befinden, denn als Mark das Plasma der jungen Leute erhitzte und damit die Proteine zerstörte, verlor es seine verjüngende Wirkung.

Nach und nach engten sie die möglichen Kandidaten unter den zehntausend Proteinen ein, bis nur noch die Fraktion GRF6009 übrig war, die immer noch über hundert Proteine umfasste. Wahrscheinlich waren auch darin viele überflüssig, aber es war die kleinste Menge an Proteinen, mit denen Iliana und Mark die verjüngende Wirkung auf das Gehirn erzeugen konnten. Bimini war geboren.

In dieser arbeitsreichen Zeit hatte Iliana Phillip kennengelernt. Später hatte er gesagt, dass die ersten drei Jahre ihrer Beziehung nur zur Hälfte zählten, weil er sie so selten gesehen hatte. Auch in der folgenden Zeit war ihre Arbeit immer wieder Grund für Streitereien gewesen.

»Du bist mit deiner Arbeit verheiratet, nicht mit mir.«

Ja, sie hatte extrem viel gearbeitet. Sie war es Mark schuldig gewesen. Ihn hatte sie genauso wenig enttäuschen wollen wie ihre Eltern, ihren Vater, der sich krumm gearbeitet hatte, um ihr das Biologiestudium zu ermöglichen. Der an dieser schrecklichen Krankheit litt. Sie wollte ihn heilen.

»Papa, ich bin’s. Illi.«

»Iliana, er meint es nicht so, Schatz. Er ist krank.«

»Papa, erkennst du mich nicht? Ich bin deine Tochter!«

Alte Gefühle stiegen in ihr auf, Erinnerungen an diese schreckliche Zeit, als die Krankheit nach und nach sein Ich aufgelöst hatte.

Bimini hatte ihren Vater gerettet.

Iliana klickte sich weiter durch die Unterordner. Wonach suchte sie eigentlich? Was machte Freimuth so nervös? Ordnernamen flimmerten vor ihren Augen. »Raw«, »Phase I«, »Phase II«, »Nature«, »Science« – sie musste grinsen. Das war Marks ganzer Stolz: die gleichzeitige Veröffentlichung der Bimini-Patientenstudie in den zwei renommiertesten wissenschaftlichen Magazinen der Welt, Nature und Science. Das hatte es nie zuvor gegeben. Die Magazine waren Erzrivalen.

Sie schaute sich die Screenshots der Titelblätter an. »Forget Alzheimer!« lautete die Headline, auf die der Journalist, der sie sich ausgedacht hatte, bestimmt heute noch stolz war.

Bimini war Astradas Jackpot. Ein Blockbuster. Unglaublich viel Geld wert. Und das trotz dieses bescheuerten Namens. Bimini! Kein Alzheimer-Medikament hieß so, sie trugen Namen wie Rivastigmin, Galantamin oder Memantin. Iliana schmunzelte innerlich, als sie daran zurückdachte, wie sehr die Marketingabteilung von Astrada dagegen Sturm gelaufen war, als Mark den Namen Bimini vorgeschlagen hatte. Er klinge zu niedlich, wandten sie ein, als handle es sich um Zitronenbonbons, niemand würde das Medikament ernst nehmen, Astrada würde sich lächerlich machen, Betroffene könnten sich verspottet fühlen. Die Marketingabteilung wollte Namen, die Macht und Wirkung ausstrahlten, mit wohlklingenden Vokalen: Chronox oder Memoramin waren ihre Favoriten. Aber Mark war stur geblieben. Unermüdlich hatte er jedem erklärt, warum er diesen Namen wollte und keinen anderen: Bimini sei eine Inselgruppe der Bahamas, nicht weit von Miami. Dort habe vor fünfhundert Jahren der spanische Konquistador Juan Ponce de León der Legende nach den Quell der Jugend gesucht.

Das war typisch Mark. So sah er sich selbst: als Konquistador, der Neuland mit seiner Forschung betrat. Er nahm sich selbst kompromisslos ernst, mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sich brachte. Selbstironie war ihm fremd – klein beigeben ebenfalls.

Aber am Ende hatte er gesiegt. So wie die spanischen Eroberer. Freimuth hatte sich hinter Mark gestellt und die Marketingabteilung besänftigt. Es sei egal, wie das Präparat heiße, hatte Freimuth argumentiert, da nichts seiner Wirkung auch nur annähernd nahe käme. Es würde Geld scheffeln, egal unter welchem Namen.

Mit Projekt Parkinson bahnte sich nun der nächste Geldregen für Astrada an.

Bimini stand unter Patentschutz. Datenklau konnte es nicht sein, worum Freimuth sich Sorgen machte.

Sie gähnte. Es war spät und sie hundemüde. Eigentlich müsste sie sich um die Präsentation kümmern, statt Hirngespinsten nachzujagen.

Befürchtete Freimuth, dass die Journalisten die Parabiose-Videos veröffentlichen würden? Das wäre unschön. Aber es hatte nichts mit den toten Mädchen zu tun.

Iliana gähnte erneut und wollte den Laptop schon zuklappen, als sie im Hauptordner einen Unterordner namens »Eff« bemerkte. Eff? Sie klickte ihn lustlos an. Darin befand sich eine quantitative Studie zum Gehalt von GRF6009 in verschiedenen Plasma-Quellen. Eff stand wohl für Effizienz, wie sie mit müdem Geist vermutete.

Effizienz war wichtig. Ein Pharmakonzern war ein Unternehmen und musste Geld verdienen. Als sie mit Mark zu Astrada kam, ging es nicht länger allein um Forschung, sondern darum, wie man eine kostengünstige Produktion von Bimini aufbaute. Blutplasma war teuer, ein Beutel kostete auf dem Weltmarkt rund 300 Euro. Es war ein lukratives Geschäft. Zahlreiche Firmen handelten mit dem »gelben Gold«. Die Preise für Plasma von jungen Menschen zwischen 20 und 30 Jahren lagen sogar noch höher. Das war auch der Grund, weswegen Astrada immer wieder erwog, selbst ins Plasmageschäft einzusteigen, um sich von Zulieferern und deren Preispolitik unabhängig zu machen. Sie hatte sich mit diesem Teil der Firmenpolitik nie wirklich beschäftigt, solche Dinge fielen in Marks Ressort. Iliana ging davon aus, dass Astrada sein Plasma von den gängigen Plasma-Herstellern bezog, Firmen wie Haema, Octapharma, Grifols, CSL Behring, Kedrion oder Shire zum Beispiel. Dieser Kram hatte sie nie besonders interessiert, und entsprechend unmotiviert klickte sie sich jetzt durch die Effizienzstudie, die den GRF6009-Gehalt in verschiedenen Plasmaproben abbildete. Es war eine riesige Analyse – über zweihundert Proben der unterschiedlichsten Firmen und Altersgruppen der Spender waren berücksichtigt worden.

Die Proteine in einem Liter Blut wogen zusammen etwa 80 Gramm. Die GRF-Proteine waren ein kleiner Teil davon, sie machten nur etwa 0,002 Gramm pro Liter aus. Man benötigte also sehr viel Plasma, um daraus GRF6009-Proteine in ausreichenden Mengen zu gewinnen. Iliana scrollte die riesige Tabelle durch. Zahlen rauschten vor ihren Augen durch. Ganz unten im Dokument kam eine weitere Balkendarstellung.

Ihre Augen brannten. Als sie das Diagramm sah, stutzte sie. Einer der Balken stach aus der Masse heraus wie eine Lanze. Sie rieb sich die Augen, um wacher zu werden. Die Balken zeigten den GRF6009-Gehalt in verschiedenen Plasmaproben an. Bei dem hohen Balken war der Gehalt der Bimini-Proteine im Vergleich zu den restlichen gewaltig, er lag bei fast einem Gramm pro Liter Plasma. Fünfhundertmal höher!

Konnte das sein? Sie prüfte die Rohdaten in der Tabelle, aber es stimmte. Der GRF6009-Gehalt in dieser Probe war exorbitant hoch. Jetzt bemerkte sie auch, was sie beim ersten Drüberscrollen übersehen hatte: Jemand hatte diesen Wert in der Tabelle markiert und sogar einen Kommentar angefügt. Er bestand aus drei Ausrufezeichen »!!!«.

Jetzt war Iliana hellwach. Woher kam dieses Plasma? Es war gekennzeichnet mit dem Kürzel »Dev«. Die anderen Plasmaproben waren nach ähnlichem Muster benannt: Gri, Hae, Oct, Ked, was offenbar für Grifols, Haema, Octapharma und die restlichen kommerziellen Anbieter von Plasma stand. Aber wofür stand »Dev«? Warum enthielt es eine so hohe Konzentration an Bimini-Proteinen?

»Mami?«

Sie schreckte auf.

Marie stand in der Tür, ihre Haare waren durcheinander, und sie hatte Tränen in den Augen. Sie hielt den Astrada-Teddy umklammert vor sich wie einen Schutzwall.

»Ich hab solche Angst.«

Iliana sprang auf und nahm sie in die Arme.

»Marie, Schatz, was ist denn los? Hast du schlecht geträumt?«

Marie weinte. Ihr kleiner Körper bebte. Iliana spürte feuchte Wärme in dem Frottee-Schlafanzug.

»Es war so dunkel. Alles schwarz. Ich konnte nichts sehen.«

Iliana streichelte ihr übers Haar. Maries Stirn war verschwitzt. Hatte sie Fieber?

»Marie, war das Licht neben deinem Bett nicht an?«

»Alles war so dunkel. Ich wusste nicht mehr, wo ich war. Ich war gefangen.«

Iliana hatte das Licht vorhin noch brennen sehen. Oder hatte Marie tatsächlich schlecht geträumt?

»Es ist alles gut. Ich bin da.«

Ihr Blick fiel erneut auf den Teddy mit dem Astrada-Logo. Marie hatte das Kuscheltier zwischen sich und ihre Mutter gedrückt.

»Mama, muss ich jetzt auch sterben?«

Iliana stutzte. Sie blickte in die tränenverschmierten Augen ihrer Tochter.

»Nein, Marie. Natürlich nicht. Warum denkst du so was?«

»Die Mädchen mussten auch sterben. Und sie hatten Kuscheltiere von deiner Firma.«

Iliana lief es kalt den Rücken runter.

»Marie, woher weißt du das?«, fragte sie streng.

Marie begann wieder zu weinen, als sie sah, wie ernst ihre Mutter wurde. Sofort bereute Iliana den Tonfall ihrer Frage.

»Liebes. Entschuldige. Alles ist gut. Du brauchst keine Angst zu haben.«

Sie versuchte, ihre Tochter zu trösten, während ihre Gedanken in alle Richtungen jagten.

Als Marie wieder schlief, kehrte Iliana an den Rechner zurück. Sie war furchtbar müde. Die ganze Geschichte setzte ihr heftig zu. Dass dank Astradas Dauerpräsenz in den Medien ihr Ruf litt, war schlimm genug. Dass nun auch ihre vierjährige Tochter deswegen zu leiden hatte, machte sie wütend und bereitete ihr große Sorge. War etwa in Maries Kita darüber gesprochen worden?

Die Plasmaproben. Sie brauchte einen Moment, um sich wieder in die Daten einzufinden. »Dev«. Was für Plasma war das? Woher kam es?

Sie suchte nach den Quellen, um mehr darüber herauszufinden. Alles war sehr unübersichtlich, wie so oft in Laboraufzeichnungen, die man nicht korrekt nachgearbeitet hatte.

Ganz am Ende stieß sie auf eine Sektion mit den Materialien, kleingedruckt waren die Plasma-Quellen gelistet. Wie sie vermutet hatte, standen die Abkürzungen für die Firmen, die sie kannte. Bei Dev stand nur »Devaduta Pharma«. Mehr nicht.

Sie hatte noch nie von einer solchen Firma gehört und googelte den Namen auf ihrem Smartphone.

Sie fand keine Firma dieses Namens. Die restlichen Ergebnisse, die Google listete, ergaben keinen Sinn. Sie fand einen Eintrag eines Devaduta in einem Pokémon-Forum. Sie fand Verweise auf Yoga-Seiten und Seiten über buddhistische Mythologie. Als sie nur das Wort Devaduta googelte, fand sie zahlreiche Einträge. Sie nahmen alle Bezug auf Indien.

Indien. Ihr wurde plötzlich kalt. War sie auf etwas gestoßen?

Zögernd klickte sie in einige der Suchtreffer hinein, und ihre Schultern spannten sich an. Das Wort Deva-duta entstammte dem Sanskrit, der altindischen Sprache, und bedeutete: der Bote Gottes. Devaduta war das Pendant zum christlichen Engel.

Engel.

Ausgemergelte Gesichter, schwarze Haare. Dünne Arme, die Kuschelengel umklammern.

Devaduta Pharma. Das Blut der Engel.

Iliana hatte einen Kloß im Hals.

Ihr Smartphone vibrierte plötzlich in ihrer Hand, eine Nachricht poppte auf – und im ersten Moment dachte sie, dass Mark sich endlich meldete. Aber dann las sie:

»Sehr geehrte Frau Kornblum, ich würde gerne mit Ihnen sprechen und freue mich über Rückmeldung. Viele Grüße, Klaus Merten, Reporter, DER SPIEGEL.«

Jetzt war ihr auch noch die Presse auf den Fersen. Woher hatte er ihre Nummer? Iliana legte das Smartphone beiseite und las weiter.

Devaduta war außerdem ein indischer Vorname. Im Hinduismus beinhaltete er zugleich eine Mission. Sie las: »Du bist in diese Welt gekommen, um einen Dienst zu tun, ein Bote Gottes zu sein.«

Im Buddhismus waren die Devaduta die drei Boten des Alters, der Krankheit und des Todes. Ihre Aufgabe war es, die Menschen an ihre Sterblichkeit zu erinnern.

Die Schrift flimmerte vor ihren Augen. Iliana lehnte sich zurück und rieb sich das Gesicht.

Was wurde hier gespielt? Alles Zufall? Oder hatte all das eine Bedeutung, die sie nicht verstand?

Sie war auf eine Verbindung zwischen Astrada und Indien gestoßen. War es das, was Freimuth unter Verschluss halten wollte?

Sie musste Mark sprechen. Dringend.

Iliana zog den Linux-USB-Stick ab und startete den Rechner wieder in ihr altes System. Als er hochgefahren war, wollte er eine Internet-Verbindung aufbauen, und ihr fiel ein, dass der Router noch ausgeschaltet war. Sie ging in die Abstellkammer und schaltete das Gerät wieder ein.

Als sie an ihren Rechner zurückkehrte, wartete sie einen Moment, bis die Internetverbindung hergestellt war.

Ihr Blick fiel auf den Bimini-Ordner auf ihrem Desktop, in dem sie eben gestöbert hatte. Mit ihrem müden Hirn überlegte sie, dass es eigentlich ganz gut wäre, wenn sie im Linux-System eine Kopie der Plasma-Analyse auf den USB-Stick gezogen hätte. Das würde sie morgen erledigen. Jetzt war sie viel zu müde und erschöpft.

In diesem Moment verschwand vor ihren Augen der Ordner mit allen Daten.
 

*

Jens Lubbadeh: Transfusion· Thriller · Wilhelm Heyne Verlag · 384 Seiten · E-Book: 11,99 Euro (im Shop) · Erscheint am 11.11.2019
 

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Science-Fiction meets Pulp-Fiction

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Sie könnten gegensätzlicher nicht sein, die beiden Protagonisten aus Seth Frieds hochgelobtem Debüt „Der Metropolist“ (im Shop). Da hätten wir einmal Henry Thompson, Vorzeigebeamter des Bundesamtes für kommunale Infrastruktur, mit einer Leidenschaft für Regeln und Vorschriften. Und dann wäre da noch OWEN, die KI des besagten Bundesamtes. OWEN raucht, säuft und ist eher an einer flexiblen Auslegung der Gesetze orientiert. Als eines Tages ein Anschlag auf die Behörde verübt wird, müssen sich die beiden ungleichen Helden jedoch zusammenraufen und gemeinsam ermitteln …

 

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In Suitland, Maryland, gleich neben D.C., steht ein großer grauer Bau, in dem das Bundesamt für kommunale Infrastruktur, BKI, untergebracht ist. Das Hauptgebäude verfügt über stolze 185 000 Quadratmeter nutzbare Fläche. Darin befinden sich Forschungslabors und Datenzentren, in denen unsere Mitarbeiter mittels ganzer Drohnengeschwader die meisten amerikanischen Städte in Echtzeit überwachen. In unserem Verkehrsreferat untersuchen ernsthafte Männer und Frauen mittels Virtual- Reality-Ausrüstung verstopfte Fahrwege, während ein paar Türen weiter die Kollegen vom Wetter Windböen in Hurrikan-Stärke über Gullydeckel blasen, um festzustellen, an welchem Punkt diese angesaugt und dadurch lebensgefährlich werden, gusseiserne Frisbees, die pfeifend in das Drahtglas krachen. Nicht weit davon entfernt liegt auch die Anlage mit unserem Supercomputer OWEN, der Daten von über zweihundert Satelliten verarbeitet. Unsere Zentrale ist alles in allem eine beeindruckende Einrichtung, wenn auch mein kleines Büro im fünften Stock etwas bescheidener ausgelegt ist.

Darin ist gerade genug Platz für einen Schreibtisch, zwei Stühle und ein schmales Regal mit Ordnern. Ich finde es gemütlich, aber die Enge kann gelegentlich eine unbehagliche Situation noch verschlimmern. Zum Beispiel, als an jenem Morgen der Kollege Marcuzzi hereinstürmte und sich wortlos mir gegenüber hinsetzte.

Ich hatte ihn auf eine freundschaftliche Besprechung zu mir gebeten, aber er wirkte sofort derart feindselig, dass ich um sieben Uhr morgens bereits nicht umhinkonnte, mich zu fragen, was für ein Tag es wohl würde. Marcuzzi beugte sich auf seinem Stuhl vor, wodurch sich die Schulterpartie seines Sakkos bauschte. Die Hände hielt er auf dem Schoß verschränkt, und die Daumen klopfte er aneinander, als wartete er auf einen Bus, in den er nicht einsteigen wollte.

Als er einen kurzen Blick auf die Modelllokomotive auf meinem Schreibtisch warf, hoffte ich einen Moment lang, er werde vielleicht lächeln. Neben mein Namensschild hatte ich die Nachbildung einer achtachsigen C8 Manley & Wrexler im Maßstab 1: 64 gestellt. In unserer Behörde eilte mir der Ruf einer gewissen Freudlosigkeit voraus, deshalb hatte ich das Modell von zu Hause mitgebracht, um meinen Arbeitsplatz etwas lockerer zu gestalten. Es entstammte einer Serie von Sammlerstücken namens »Lokomotiven von gestern«, die klassische Zugmaschinen bis ins kleinste Detail nachbildete. Eigentlich richtete sich die Reihe an ein älteres Publikum, aber ich war zweiunddreißig und besaß mehr als zwei Dutzend

von diesen Modellen. Mir gefiel die schmucke kleine Lok auf meinem Schreibtisch, und die C8 hatte, solange sie im Einsatz war, nie einen Unfall gehabt. Es war also auch ein Element von Inspiration enthalten. Dennoch verzog Marcuzzi das Gesicht, als er sie bemerkte.

»Sie wissen sicher, warum ich Sie hergebeten habe.«

»Nein«, sagte Marcuzzi. »Keine Ahnung.«

Das überraschte mich.

»Fort Collins«, fuhr ich fort. »In Ihrem Bericht steht, dass die Effizienz um 4,73 Prozent erhöht wurde.«

Er nickte.

»Die Zielsetzung der Gruppe«, sagte ich, »lag bei fünf Prozent pro Kommune.«

»Ich weiß, was das Ziel war.«

»Dann wissen Sie auch, dass 4,73 Prozent inakzeptabel sind.«

Marcuzzi starrte mich mit offenem Mund an, als könnte er nicht fassen, was er gerade gehört hatte.

»Machen Sie Witze, Thompson?«

»In dieser Sache? Selbstverständlich nicht.«

»Das ist doch Irrsinn. Das – das liegt absolut im Rahmen. Die Zahlen sollen doch nur eine ungefähre Vorstellung von – verdammt noch mal, ich habe mein Ziel erreicht.«

»Peter«, sagte ich. »Bei den Projekten, die ich leite, sind Zahlen eben Zahlen. Ich habe Sie zu mir gebeten, damit wir das durchsprechen und Ihre Effizienz steigern können.«

»Ein Drittel Prozentpunkt? Was soll ich machen? In die Windparks fahren und pusten?«

»Dann stimmen Sie also zu, dass es nicht so schwer wäre, die Differenz wettzumachen?«

Das war ein Versuch, etwas Humor ins Gespräch einzubringen, aber Marcuzzi musste mein Grinsen falsch gedeutet haben.

»Ehrlich, Henry. Sie können mich mal.«

Er warf fast den Stuhl um, als er den Raum verließ.

Wäre ich weniger an solcherlei Reibung mit meinen Kollegen gewöhnt, wäre ein solcher Auftritt ein kleiner Skandal gewesen. So aber nahm ich mir lediglich vor, bei der ersten Gelegenheit selbst nach Fort Collins zu fahren. Außerdem atmete ich tief durch und drehte die C8 auf meinem Schreibtisch zu mir herum. Im Führerstand hielt ein einsamer Ingenieur den Blick nüchtern geradeaus gerichtet, seine kleinen Augen ruhten auf den schier endlosen zu durchquerenden Weiten. Ich lächelte den Mann an. Ja, das Leben war nicht leicht, aber zum Glück gab es immer viel zu tun.

Da ich für Marcuzzi eine Stunde reserviert hatte, blieb mir nun Zeit, an der Sitzung des Hafenaufsichtskomitees teilzunehmen, die unten im dritten Stock stattfand. Es war schwer, nicht sein Selbstvertrauen zurückzugewinnen, wenn man zielstrebig durch die Flure des Hauptgebäudes lief. Der weiß gefleckte Granitfußboden war immer poliert und spiegelglatt, während die dunkle Holzverkleidung an den Wänden ein warmes, kollegiales Ambiente erzeugte. Obwohl es noch früh am Morgen war, hallte in den breiten Korridoren bereits das Klackern der gepflegten Absätze so vieler Angestellter, alle schick in unseren einheitlichen, von der Behörde ausgegebenen Anzügen, dunkelblaue einreihige Sakkos mit schmalem Revers, wobei weibliche Mitarbeiter optional einen Bleistiftrock tragen durften, falls sie das vorzogen. Ich kam an Männern und Frauen vorbei, die in den offenen Arbeitsbereichen Infrastrukturprobleme diskutierten. Sie sortierten 3D-Projektionen von U-Bahn-Tunneln um und machten sich Notizen, während Modelldämme unter der Wucht simulierter Erdbeben einstürzten. Mehrere jüngere Mitarbeiter steckten die Köpfe zusammen, warfen sich gegenseitig faustgroße Datensätze auf die Bildschirme ihrer Diensttelefone und stritten sich über den CO2-Ausstoß im Rust Belt und die Rechtmäßigkeit staatlicher Intervention.

Die Behörde war vor siebzig Jahren als forscher Ableger des Verkehrsministeriums entstanden, geschaffen von ein paar Dutzend Politikstrebern, die stolz darauf waren, sich mit höheren Ebenen anzulegen. Aber angesichts des Urbanisierungstempos auf der Welt waren Städte zum neuen Wettlauf ins All geworden. Unser Budget war explodiert, und mittlerweile koordinierten wir mit staatlichen und kommunalen Verwaltungsorganen die Finanzierung und Beratung Tausender bedeutender urbaner Verbesserungsprojekte jedes Jahr. Wir befanden uns mitten im Goldenen Zeitalter amerikanischer Stadtplanung, und bei mir erzeugte die Atmosphäre eines kollektiven Optimismus unweigerlich ein angenehmes Zugehörigkeitsgefühl.

Jetzt fiel mir ein, dass für mich bald ein Außentermin in Wisconsin anstand, deshalb nahm ich mein Diensttelefon aus der Tasche und bat um die Fünf-Tages-Vor-hersage für Madison. Die Animation eines gut aussehenden jungen Mannes mit verblüffend blauen Augen erschien auf dem Display.

»Laut GPS«, sagte OWEN, »befinden Sie sich in der BKI-Zentrale in Suitland, Maryland.«

Unser IT-Chef, Dr. Gustav Klaus, hatte viel Zeit und Energie in OWENs KI-Interface gesteckt, aber je menschenähnlicher es wurde, desto schwerer fiel es mir, mit ihm zu kommunizieren.

»Ich fliege gegen Ende der Woche, nur …« Ich hielt mir das Telefon dichter an den Mund und blaffte fast in den Hörer: »Wetterbedingungen. Madison, Wisconsin.«

Meine Stimme klang lauter als erwartet, und eine Kollegin runzelte im Vorbeigehen die Stirn.

»Sie klingen gestresst«, sagte OWEN.

Die Augenbrauen der Animation wölbten sich leicht nach oben, um Besorgnis zum Ausdruck zu bringen. »Während Ihres Aufenthalts in Madison sollten Sie sich etwas Zeit für sich nehmen und den Monona-See besuchen. Der soll schön sein.«

»Das Wetter, OWEN, ich brauche nur das Wetter.«

»Ach, es ist Mitte Juni. Ist bestimmt traumhaft gerade.«

Genervt schloss ich die Anwendung. Erst Marcuzzi, jetzt mein Telefon, der Morgen fing nicht sonderlich gut an. Als ich zu der Sitzung stieß, versuchte ich, mich auf mein lebhaftes Interesse am Bericht des Kollegen Steinbelt über Norfolk und die empfohlenen Vorschriften zu konzentrieren, an die jede neue Finanzierung durch unsere Behörde geknüpft sein sollte. Steinbelt hatte vor, mit einer virtuellen Tour durch Lambert’s Point zu beginnen, deshalb nutzten wir den fensterlosen zentralen Sitzungsraum mit einem der besseren 3D-Projektoren. Ich setzte mich an den langen Konferenztisch und redete mir ein, dass dieser Tag sich immer noch zu einem guten entwickeln konnte. Einem produktiven.

Doch sobald Steinbelt die Simulation aufrief, geriet der Projektor ins Stottern, und das Wasser, das gerade schon virtuell unsere Füße umspült hatte, verschwand. Der Feueralarm schrillte genau ein Mal und verstummte dann im selben Moment, in dem unsere Diensttelefone einen hohen Ton von sich zu geben begannen. Die Geräte erhellten den dunklen Raum, als Komiteemitglieder sie aus ihren Jackentaschen und Aktenmappen holten. Auf allen Displays erschien eine dichte Zeichenfolge:

 

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Verwirrt starrte ich die Nachricht an, während die anderen Anwesenden ihre Telefone wie Taschenlampen in die Luft hielten und einander Fragen zuriefen.

Ich entschuldigte mich und hastete aus dem Zimmer, um das Problem einem Techniker zu melden. Im Flur betonte das durch die Fenster strömende Sonnenlicht noch, dass es im gesamten Gebäude dunkel geworden war. Einige Gesichter in der Nähe wurden von den Displays erhellt, auf die ihre Besitzer fragend starrten. An anderen Stellen knipsten Mitarbeiter reaktionslose Lichtschalter an und aus und tippten auf taube Liftruftasten. Manche beugten sich aus ihren Bürotüren, als warteten sie darauf, dass jemand mit einer Erklärung vorbeispazierte. Unterdessen hörte man erste Rufe aus den Sicherheitsräumen, deren durch Codes geschützte Türen ohne Strom nicht zu öffnen waren.

Das Geräusch aus meinem Telefon wurde immer durchdringender und hörte dann abrupt auf. Ich hielt es hoch, um auf das Display zu sehen, und es explodierte. Eine helle blaue Flamme blitzte auf, und etwas traf mich im Gesicht wie ein Faustschlag. Auf einmal blutete meine Handfläche, in der Wange spürte ich einen stechenden Schmerz. Der Flur war erfüllt vom Geruch von verschmortem Plastik, und mir wurde schwindelig. Überall um mich herum taumelten verschwommene Gestalten, die sich den Mund zuhielten oder sich mit den Händen an die Brust fassten. Die Schreie aus den verschlossenen Räumen wurden panischer, es wurde schon an die Türen gehämmert.

Mein Atem ging unregelmäßig, als ich mir die Krawatte auszog und um die Hand wickelte. An der Stelle, an der sie verletzt war, spürte ich meinen Puls, und als mir auffiel, wie schnell er ging, wurde er noch schneller. Eine alte Panik stieg in mir auf, ein kindliches Gefühl von Hilflosigkeit angesichts einer Welt, die jederzeit ohne Vorwarnung aus den Fugen geraten konnte.

Ich wurde angerempelt und sah einige Kollegen an mir vorbeirennen. Einer bemerkte mich und brüllte mir zu: »Komm mit!« Der Nachdruck in seiner Stimme riss mich aus meinem Angstzustand, und ich half ihnen, einen Schreibtisch aus dem Sekretariatsbereich zu schleifen. Damit brachen wir die schwere Flügeltür zu einem Konferenzsaal auf, in dem wir Menschen um Hilfe rufen hörten.

Der Rest dieses Tages war ein Durcheinander aus dunklen Fluren, in Gruppen liefen wir durch die Zentrale, brachen Türen auf und versorgten Verletzte, so gut wir konnten. Irgendwann traf ich Theodore Garrett, den Leiter der Behörde, vor seinem eigenen Büro an, wo er einer jungen Frau aus einem der Hemden, die er zum Wechseln in seinem Schreibtisch aufbewahrte, einen Verband bastelte. Ich versuchte, ihn aus dem Gebäude zu bringen, aber er sah mich nur ernst an und forderte mich auf, mich nützlich zu machen.

Selbst dann noch, als über den Rasen an der Nordseite das Blaulicht der eingetroffenen Kranken- und Feuerwehrwagen zuckte, weigerte Garrett sich, zu gehen. Gegen zwei Uhr nachts brachte ich ihm eine Tasse Instantkaffee. Er stand unter einer Arbeitslampe im Haupteingang zum zweiten Untergeschoss und erläuterte einem Trupp Feuerwehrleute einen Lageplan der Zugangstunnel. Die Ärmel hatte er sich bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, und seine Miene drückte eine Entschlossenheit aus, dank der sogar seine zerzausten weißen Haare Zuversicht verströmten. Meine linke Gesichtshälfte war inzwischen wegen der in der Haut steckenden Telefonsplitter angeschwollen, und als ich mit dem Kaffeebecher auf ihn zukam, schien er einen Moment zu brauchen, um mich zu erkennen.

Dann allerdings schickte er die Feuerwehrleute weg, nahm meinen Kopf zwischen seine Hände und kippte ihn leicht nach hinten, um besser sehen zu können. Er pfiff, wie er es immer tat, wenn ich ihm beunruhigende Daten einer Stadt zeigte, in der die Beschäftigungsquote stagnierte oder die Schulprüfungsergebnisse weiterhin absackten. Es war ein eigenartig tröstliches Geräusch, es vermittelte, dass die Lage tatsächlich schlimm war, aber nichts, was er nicht schon erlebt hatte.

»Können Sie aus dem noch was sehen?« Er winkte mit einer Hand vor dem fast zugeschwollenen Auge.

Ich bejahte, und er trat zurück.

»Das wird wieder«, sagte er wie ein Vater, der ein aufgeschürftes Knie herunterspielte.

Seltsamerweise fühlte ich mich dadurch wirklich besser.

Dankend nahm er den Kaffee entgegen. In dem dunklen Flur lagen umgefallene Stühle und verbeulte Mülleimer. Von oben konnte man immer noch Geschrei hören und das rhythmische Hämmern beim Einschlagen von Türen.

Garrett seufzte und senkte den Blick. Sein Fuß stand auf einem Ausdruck der kryptischen Botschaft, die auch auf meinem Telefon erschienen war. Bevor der Strom ausfiel, war dieser Text auf sämtlichen Computermonitoren in der Zentrale aufgetaucht, immer wieder war er von Kopierern und Druckern ausgespuckt worden. Mit der Schuhspitze hob Garrett jetzt das Blatt hoch und inspizierte es.

»La urboj estas frostigitaj.« Langsam las er den Satz vor und nippte an seinem Kaffee.

»Was heißt das?«

Er ignorierte die Frage. »Das ist Esperanto.«

»Können Sie Esperanto?«

»Nein«, sagte er. »Aber ich kenne jemanden, der es kann.«

 

Seth Fried: „Der Metropolist“∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Astrid Finke ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ∙ 320 Seiten ∙ Preis des E-Books € 9,99 (im Shop)

 

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Game of Thrones of dem Mond

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Verschwörung, Erpressung, Mord und Affären – bereits über zwei Bände durften wir die fünf mächtigen Familienclans auf dem Mond bei ihren Kabalen begleiten. Nun hat der britische Kultautor Ian McDonald mit „Drachenmond“ (im Shop) den dritten und letzten Band seiner epischen „Luna“-Trilogie (im Shop)vorgelegt, in dem es zum großen Showdown zwischen der Familie Corta und ihren Rivalen kommt. Doch Ian McDonald wäre nicht Ian McDonald würde er zum Schluss nicht noch mit einigen Überraschungen aufwarten …

 

 

1

 

Acht Gestalten eskortieren den Sarg über das Mare Fecunditatis. Vier als Träger, jeweils an einem Griff; vier als Wachen nach allen Himmelsrichtungen: Nord, Süd, Ost und West. In schwer gepanzerten Schutzanzügen schlurfen sie dahin. Von ihren Stiefeln steigt hoch der Staub auf. Beim Befördern eines Sarges zählt vor allem Koordination, und die Träger haben den richtigen Rhythmus noch nicht gefunden. Sie torkeln, sie schlingern, sie hinterlassen verschmierte Fußabdrücke auf dem Regolith. Sie bewegen sich wie Leute, für die das Gehen auf der Mondoberfläche und die dafür notwendige klobige Kleidung ungewohnt sind. Sieben weiße Schutzanzüge, nur der letzte ist scharlachrot und golden. Jeder weiße Anzug trägt ein Emblem aus einer anderen Zeit, von einem anderen Ort: ein Schwert, eine Axt, einen Fächer, einen Spiegel, einen Bogen, einen aufgehenden Mond. Der Vorderste marschiert mithilfe eines zusammengerollten Regenschirms mit silberner Spitze, dessen Griff ein menschliches Gesicht ist, eine Hälfte lebend, die andere Hälfte nackter Knochen. Die Spitze stanzt präzise Löcher in den Regolith.

Im Mare Fecunditatis hat es noch nie geregnet.

Der Sarg hat ein Bullauge. Das wäre unpassend, wenn es sich bei dem Schrein tatsächlich um einen Sarg handeln würde. In Wirklichkeit ist es eine Versorgungskapsel, die dem Schutz und der Lebenserhaltung Verletzter auf der Mondoberfläche dient. Hinter dem Fenster ist das Gesicht eines jungen Mannes auszumachen, die Haut braun, die Wangenknochen hoch und stark, das Haar dicht und schwarz, die Lippen voll, die Augen geschlossen. Es ist Lucasinho Corta. Er liegt seit zehn Tagen im Koma; zehn Tage, die den Mond bis in seinen Kern erschüttert haben wie eine Glocke aus Fels. Zehn Tage, in denen ein Adler gestürzt und ein anderer aufgestiegen ist, in denen auf den steinernen Meeren von Luna ein Softwarekrieg getobt hat und die alte Ordnung des Mondes durch die neue Ordnung der Erde hinweggefegt wurde.

Die unbeholfenen Gestalten sind die Ordensschwestern der Herren des Jetzt, die Lucasinho Corta nach Meridian tragen. Sieben Schwestern, dazu das Schlusslicht in unpassendem Scharlachrot und Gold. Luna Corta.

»Hat sich das Schiff schon gemeldet?«

Mãe de Santo Odunlade zischt frustriert und starrt auf die Felder ihrer Helmanzeige, um die Fragerin zu identifizieren. Der Orden der Herren des Jetzt schreibt in seiner Glaubenslehre vor, das Netzwerk zu meiden. Da ist es keine Kleinigkeit, den Umgang mit dem Interface eines Schutzanzugs zu erlernen.

Schließlich erkennt die Mãe de Santo Madrinha Elis als die Sprecherin. »Bald.« Sie hebt den Schirm und deutet zum östlichen Horizont, wo das Schiff aus Meridian landen soll. Der Schirm ist das Wahrzeichen von Oxalá, dem Himmelsvater. Wie das Schwert, die Axt, der Spiegel, der Bogen, der Fächer und die Mondsichel ist er ein Werkzeug der Orixás. Die Ordensschwestern tragen nicht nur den schlafenden Prinzen, sondern auch die heiligen Embleme. Alle Santinhos begreifen diese Symbolik. João de Deus ist nicht mehr die Stadt der Heiligen.

Schiff im Anflug, meldet der Anzug der Mãe de Santo. Im gleichen Augenblick scheint der Horizont in den Himmel zu springen. Rover. Dutzende von ihnen. Schnell und hart schießen sie heran. Auf den Gesichtsfeldanzeigen blitzen Hunderte von roten Kontaktpunkten auf.

Die Mackenzies sind da.

»Lasst euch nicht beirren, meine Schwestern«, ruft Mãe Odunlade. Die Prozession marschiert auf die Linie gleißender Scheinwerfer zu. Obwohl die Lichter blenden, hebt sie nicht den Arm vor die Augen.

Schiff setzt zur Landung an, Mãe, verkündet der Anzug.

Ein Rover löst sich nun aus der Einkreisung und schiebt sich auf Mãe Odunlade zu. Sie hält den heiligen Regenschirm in die Höhe. Der Zug kommt zum Stillstand. Sitze fahren nach unten, Sicherheitsbügel schnappen nach oben, Gestalten in den grün-weißen Sasuits von Mackenzie Helium springen auf den Regolith. Sie greifen über den Rücken nach Halftern und ziehen längliche Gegenstände heraus. Gewehre.

»Sie können hier nicht durch, Mutter.«

Mãe Odunlade ärgert sich über die Dreistigkeit. Kein Respekt. Nicht einmal Portugiesisch. Sie entdeckt die Sprecherin auf ihrer Blickfeldanzeige. »Wer sind Sie?«

»Ich bin Loysa Divinagracia«, antwortet die Frau im Zentrum des bewaffneten Trupps. »Ich bin Sicherheitsleiterin von Mackenzie Helium für die Viertelkugel Nordost.«

»Dieser junge Mann benötigt fortschrittlichste medizinische Versorgung.«

»Für Mackenzie Helium wäre es eine Ehre, diese Dienste in unserem voll ausgestatteten Unternehmensklinikum anzubieten.«

Sechzig Sekunden bis zur Landung. Das Schiff ist der hellste, schnellste Stern am Himmel.

Ich bringe ihn zu seinem Vater.« Die Mãe de Santo tritt nach vorn.

»Das kann ich nicht zulassen.« Loysa Divinagracia legt die Hand auf die Brustplatte der Ordensschwester.

Mãe Odunlade klatscht den Arm der Frau mit dem heiligen Schirm beiseite und setzt mit einem Schlag gegen die Helmseite nach. Was für eine Frechheit. Polymer splittert, Atmosphäre entweicht, dann versiegelt sich der Anzug, bis er wieder dicht ist.

Gewehre werden angelegt.

Die Schwestern der Herren des Jetzt drängen sich um die Versorgungskapsel. Das Schwert Ogums wird gezogen, die Axt Xangôs, der Bogen, der rasiermesserscharfe Fächer. Was würde die Verehrung der Orixás bedeuten, wenn ihre Embleme keinen praktischen Nutzen hätten?

Luna Corta hebt ihre sperrigen Arme auf Schulterhöhe. Scheiden entriegeln sich, Magnete greifen: Messer fliegen in ihre Hände und rasten ein. Das Licht der Erde im ersten Viertel, das tief über dem westlichen Rand der Welt liegt, glitzert auf den Schneiden der Meteoreisenklingen: die Schlachtenmesser der Cortas.

Wir haben sie sicher aufbewahrt, sagte Mãe de Santo Odunlade, beschienen vom Schimmer der Biolichter in Lucasinhos Krankenzimmer im Ordenshaus. Bis ein Corta kommt, der kühn und großherzig ist, der ohne Geiz und Feigheit für die Familie kämpft und sie verteidigt. Ein Corta, der dieser Klingen würdig ist.

Carlinhos war der Kämpfer der Familie. Ihm gehörten diese Messer vor ihr. Einmal führte er ihr mit Essstäbchen die Technik vor. Das war ihr unheimlich: die Schnelligkeit, die Veränderung, die ihn zu einem völlig fremden Menschen machte.

Diese Messer haben Carlinhos den Tod gebracht.

Madrinha Elis tritt zwischen Luna und den Ring von Gewehren. »Steck die Messer weg, Luna.«

»Das tue ich nicht«, entgegnet Luna. »Ich bin eine Corta, und Cortas schneiden.«

»Folge deiner Madrinha, störrisches Kind«, wirft Mãe de Santo Odunlade ein. »Es ist nur der Anzug, der dich groß macht.«

Mit einem missmutigen Fauchen lässt sich Luna zurückfallen, ohne die herrlichen Messer zurück in die Scheiden zu schieben.

»Lasst uns durch«, fordert Mãe Odunlade über den gemeinsamen Kanal.

Und Luna hört die Antwort der Mackenzie-Frau: »Gebt uns Lucasinho Corta, dann könnt ihr gehen, wohin ihr wollt.«

»Nein«, flüstert Luna.

Im nächsten Moment werden sie, die Schwestern, die Kapsel und die Mackenzie-Fechter in blendende Helle getaucht. Das Gleißen zerfällt in Hunderte von einzelnen Splittern: Rover, Staubräder, die Navigationslichter von Schutzanzügen und Sasuits, die alle über den dunklen Regolith gerast kommen. Hinter ihnen erhebt sich eine riesige Staubfahne, die im gebrochenen Schein der Erde Mondbögen wirft. Sie steuern direkt auf die Mackenzies zu. In letzter Minute fliehen Fechter und Gewehrschützen, als ihre Linie von einem Keil von Rovern und Staubrädern und einem Heer rennender Staubfresser durchbrochen wird.

An Antennen und Masten, an Kabeln und Streben, an Rovern und Rucksäcken, gemalt auf Helme und gepanzerte Brustplatten, spritzlackiert, schnellgedruckt, mit vakuumbeständigem Marker gezeichnet: die halb schwarze, halb weiße Maske unserer Herrin der tausend Tode, Dona Luna.

João de Deus hat sich erhoben.

Der Keil von Angreifern entfaltet sich zu einer Phalanx von Spießen und Speeren. Staubbiker stützen Stangen auf Fußrasten. Als kleines Kind hat Luna so etwas Ähnliches in einem verrückten alten Film von der Erde gesehen: Metallmänner, die mit langen Piken unter dem Arm auf großen Metalltieren saßen. Ritter in Rüstung, erklärt Lunas Vertraute, die sich mit ihr erinnert. Ritter mit Lanzen.

Hoch über den feindlichen Lagern flackern blaue Lichter: die Lagekontrolldüsen eines WTO-Mondschiffs, das hinter der Mackenzie-Linie zu einem sicheren Landeplatz manövriert. Mit einem letzten kurzen Zünden des Haupttriebwerks gleitet das hässliche Konglomerat aus Treibstofftanks, Kühlmodulen und Stützstreben nach unten.

Stulpen und Handschuhe spannen sich um Speerschäfte. Piken gehen in Stellung. Finger umklammern die Lenkstangen von Staubrädern.

»Luna«, mahnt Madrinha Elis.

»Fertig«, antwortet Luna. Ihr Anzug ist bereit, die Stromreserven sind aktiviert. Sie muss nur den Befehl geben, dann läuft er los, schneller, als ihre eigenen Beine sie jemals tragen könnten. Sie weiß, zu welchen Leistungen ein Standardanzug fähig ist, denn sie war darauf angewiesen, als sie Lucasinho, anoxisch und praktisch schon tot, in den Bunker in Boa Vista brachte. »Ich hab das schon mal gemacht.«

Der Staub, den das Mondschiff mit seinem Senkflug aufwirbelt, umhüllt Santinhos und Mac kenzies. Madrinha Elis ruft: »Lauf, Kind.«

»Los«, befiehlt sie, doch der Anzug ist bereits in Bewegung.

Genau wie die Mackenzies. Das Überraschungsmoment ist dahin; Rover scheren aus, in der Absicht, die Kavallerie von Staubrädern zu überholen und die Gruppe um Lucasinho vom Schiff abzuschneiden. Fußsoldaten der Santinhos, die den Weg dorthin frei halten wollen, stürmen gegen die Verbände der Mackenzies an.

Jemand stürzt. Eine Gestalt in einem Sasuit verdreht sich und geht zu Boden. Ein Panzeranzug zersplittert in spritzende Scherben. Die Mackenzies haben das Feuer eröffnet. Ein Helm zerschellt. Ein Kopf zerplatzt zu Brei. Nacheinander fallen die Banner von Dona Luna. Im Dahinrasen bemerkt Luna das Blut, die Fleischfetzen, die ins Vakuum tropfenden Körperflüssigkeiten.

Taumelnd und rollend sinkt Irmã Loa mit Iansãs Sichel an Lunas Seite zu Boden. Die obere Hälfte ihres Schädels ist abgerissen. Überall um Luna fliegen unsichtbar die Kugeln, doch sie darf nicht an sie denken, darf an nichts anderes denken als an das Mondschiff, das gerade mit dem Fahrwerk aufsetzt und aus seiner Transportkapsel eine Rampe entfaltet.

»Luna!« Mãe Odunlade auf dem Privatkanal. »Nimm die rechte Kastenseite. Der Anzug schafft das.«

»Mãe …«

»Elis hält die andere Seite.«

»Mãe …«

»Keine Widerrede, Kind!«

Ihre gepanzerte Hand schließt sich um einen Griff. Die Kreisel stabilisieren das Gewicht. Sie sieht, wie ihre Madrinha nach dem Griff gegenüber fasst.

Die Santinhos stellen sich gegen die Mackenzies. Zwei, zehn, zwanzig fallen unter vernichtendem Feuer, doch immer wieder rücken Speere und Spieße nach. Nahkampf, gewalttätig, intim, leidenschaftlich wie Sex. Speerspitzen dringen ein, durchbohren Menschen von vorn bis hinten, zerfetzen Anzüge, Haut, Knochen, zertrümmern Visiere, durchstoßen Gesichter, Schädel, Gehirne.

»Was machen sie?«, fragt sie Madrinha Elis auf dem privaten Kanal.

»Sie verschaffen uns Zeit, Anjinho.«

Die Phalanx der Speere schließt sich wieder und geht geschlossen zum Angriff über. Die Gewehrschützen verlieren ihre Formation und weichen zurück. Zwischen den Mauern aus Piken spürt Luna, wie ihr Anzug den Griff am Schrein ihres Cousins fester packt, sich nach vorn beugt und zu einem finalen Sprint ansetzt, auf das Schiff zu. In voller Geschwindigkeit trifft sie auf die Rampe und bremst hart, damit sie nicht gegen das hintere Schott der Transportkapsel kracht. Besatzungsmitglieder in Sasuits sichern die Kapsel. Durch die Stiefelhaptik nimmt sie das Vibrieren des Decks wahr.

Haupttriebwerk zündet in zehn, neun, acht …

Durch die sich schließenden Türen fällt Lunas letzter Blick auf die zurückbleibenden Schwestern der Herren des Jetzt, die in ihren weißen Gewändern mit dem Rücken zueinander stehen und die Wahrzeichen der Orixás in die Höhe halten. Um sie herum ein Ring von Spießen und die beherzten Banner unserer Herrin der tausend Tode. Dahinter die Mackenzies, zahlreich wie die Sterne. Dann zündet das Triebwerk, und über alles breitet sich der Staub.

 

Ian McDonald: „Luna - Drachenmond“∙ Roman ∙ Aus dem Englischen von Friedrich Mader ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ∙ 576 Seiten ∙ Preis des E-Books € 12,99 (im Shop)

 

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